Vor acht Jahren verübte ein Selbstmordattentäter einen Anschlag an der türkisch-syrischen Grenze, mit dem er 33 junge Sozialist:innen und fortschrittliche Aktivist:innen in den Tod riss. Offiziell handelte er im Namen des Islamischen Staats, doch die Verstrickungen zum türkischen Staat sind zahlreich und Forderungen nach Aufklärung wurden und werden ignoriert. – Ein Kommentar von Esther Zaim
Es ist der Mittag des 20.07.2015, als an einem Sommertag in der türkisch/kurdischen Provinz Şanlıurfa (kurdisch Riha) im nördlichen Teil der Stadt Suruҫ (kurdisch Pirsûs) ein Selbstmordattentäter des Islamischen Staats (IS) 33 Menschen auf grausamste Weise in den Tod reißt und über hundert weitere Menschen schwer verletzt. An diesem Tag versammelten sich im Kulturzentrum Amara ca. 300 junge Sozialist:innen, vorwiegend von der “Föderation der sozialistischen Jugendverbände der Türkei” (tr. Sosyalist Gençlik Dernekleri Federasyonu, kurz: SGDF) um eine Solidaritätskampagne für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt Kobanê zu koordinieren und zu planen, sowie eine Pressekonferenz abzuhalten.
Auch viele gewerkschaftlich organisierte Personen und Gruppierungen, sowie lokale linke Politiker:innen waren an diesem Tag im großen Hinterhof des Kulturzentrums versammelt.
Um jedoch die Hintergründe dieses Anschlags einzuordnen, muss der Blick vorerst auf die Ereignisse ins etwa 12 Kilometer entfernt liegende Kobanê und den blutigen Konflikt der kurdischen Verteidigungseinheiten gegen den IS gelenkt werden.
Die Vorgeschichte des Massakers von Suruҫ
Spätestens seit die fundamentalistisch-islamistische Miliz des Islamischen Staats im Juni 2014 ihr Kalifat ausgerufen hatte, begann für breite Bevölkerungsteile des Iraks und Syriens ein bestialischer Terror durch die IS-Kämpfer. Der IS hatte dabei seine wichtigsten Stützpunkte und Kommandozentralen im syrischen Ar-Raqqa, sowie im nordirakischen Mossul. Von dort ausgehend schwärmten die Kampf- und Eroberungseinheiten des IS in etliche kurdische und ezidische Dörfer und in von anderen ethnischen Minderheiten bewohnte Regionen aus und überzogen die Gebiete mit Ermordungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Versklavungen, Entführungen und ethnischen Säuberungen, während die internationale Gemeinschaft Zeugin dieser Gewaltherrschaft wurde. Der im September 2014 begonnene Kampf der revolutionären Kampfeinheiten unter dem Kommando der Frauenverteidigungseinheiten (YPJ) und der Volksverteidigungseinheiten (YPG) um Kobanê in der Region Rojava führte nach erbitterten und verlustreichen Gefechten gegen den IS zum Jahresbeginn 2015 zu einem Sieg und der nachhaltigen Zurückdrängung der IS-Offensive in diesem Gebiet. Besonders die entschlossene und ideologisch starke Kampfmoral der YPJ verhinderte die Einnahme der Stadt durch den IS, welche ein entsetzliches Massaker für die kurdische Bevölkerung, besonders für die Frauen und Kinder, der Stadt bedeutet hätte. Die Schaffung von Fluchtkorridoren für die Bevölkerung durch kurdische und internationale Kämpfer:innen rettete tausende Menschen vor den Überfällen der IS-Soldaten.
Die breite Solidaritätsbewegung vieler sozialistischer Gruppierungen und Bewegungen aus dem türkischen Staatsgebiet hatte sich den Wiederaufbau der Infrastruktur des stark zerstörten Kobanês zum Ziel gesetzt und formierte sich dafür im nahegelegenen Suruç. Es wurden humanitäre Hilfsgüter und personelle Unterstützungen organisiert, wie auch internationale Aufrufe und Kommuniqués formuliert, um auf die desaströse Situation nach den militärischen Kampfhandlungen in Rojava aufmerksam zu machen.
Der Einfluss und die Verstrickungen der türkischen Regierung und ihres Geheimdienstes (tr. Millî İstihbarat Teşkilâtı, kurz: MİT) zum IS sind dabei von besonders großer Bedeutung, da hier eine intensive politisch motivierte Komplizenschaft besteht, die sich auf Jahrzehnte andauernde menschenrechtswidrigen Angriffe und den staatlich geschürten Hass der türkischen Regierung auf die kurdische Bevölkerung stützt. So konnten sich offenkundige Angehörige des IS in der Türkei auf juristische Straflosigkeit und komplette Freizügigkeit und die Dschihadisten in Syrien auf türkische Waffenlieferungen verlassen, während oppositionelle und linke Kräfte, Kurd:innen wie Alevit:innen durch die autokratische türkische Regierung seit Jahrzehnten mit staatlichen Repressionswellen und Verfolgung überzogen werden.
Terror als Mittel im Wahlkampf
Die militärischen und politischen Erfolge der kurdischen Befreiungsbewegung im Kampf gegen den Islamischen Staat und andere islamistische Banden brachten ihr weltweite Bekanntheit ein und wurden zunehmend zu einem innenpolitischen Problem für die türkische Regierung.
Die im Juni 2015 stattgefundene Parlamentswahl hatte einen erheblichen Stimmenverlust für die islamisch-rechtskonservative AKP zur Folge, woraufhin Erdoğan eine noch aggressivere und repressivere politische Offensive gegen linke und oppositionelle Kräfte auffuhr, da keine Regierung gebildet werden konnte und zum Ärgernis der AKP und anderen konservativen Parteien die HDP (Halkların Demokratik Partisi dt. Demokratische Partei der Völker) einen beachtlichen Zugewinn an Wahlstimmen erreichen konnte.
Die linksgerichtete HDP und ihre Unterstützer:innen setzten sich seit ihrer Gründung unter massiver staatlicher Handlungseinschränkung und Verboten für die Rechte der kurdischen, wie auch der anderen Minderheiten in der Türkei ein, engagieren sich weiterhin für den Naturschutz von ökologischen Räumen und kämpfen gegen islamistische und faschistische Normen in der Regierung, wie auch im öffentlichen Leben an.
Es fanden noch im selben Jahr Neuwahlen statt, bei denen die AKP plötzlich wieder führende Kraft wurde. Im Schatten dieser Wahlkampfperioden ereignet sich neben dem Anschlag in Suruç auch das schwere Selbstmordattentat in Ankara mit 102 Toten und über 500 verletzten Personen. Es stellte sich heraus, dass beide Attentäter Brüder und überzeugte islamistische Dschihadisten waren. Erdoğans Taktik, innenpolitisch Unruhe, Terror und Hass auf Minderheiten zu stiften, sollte der Angriffspolitik auf kurdische Gebiete Tür und Tor öffnen und – da ja bekanntlich eine Hand die andere wäscht – ist der IS ein verlässlicher Partner für die AKP-Regierung, wenn es um den Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung und revolutionäre politische Opposition geht.
Hinweise auf Verstrickungen des Staates
Diese politischen und gesellschaftlichen Vorzeichen führten am 20.07.2015 schließlich zum niederträchtigen Anschlag von Suruç, der 33 junge Sozialist:innen aus dem Leben riss. Doch wie konnte der Täter überhaupt diesen Anschlag planen? Wer waren seine Unterstützer:innen? Wie konnte der bereits straffällig gewordene und aktenkundige Attentäter mit Sprengsätzen am Körper am Tattag einfach an einer großen Polizeidienststelle in unmittelbarer Nähe zum Tatort vorbeilaufen?
Diese Fragen sind bis heute weitestgehend ungeklärt und juristisch nie aufgearbeitet worden. Denn die Verstrickungen in führende Kreise der AKP-Regierung und des türkischen Geheimdienstes sind gravierend: Es ist hinlänglich bewiesen, dass die AKP-Regierung eine Verbindung in Strukturen des IS pflegt. So wurden seit den militärischen Überfällen des IS im Nahen Osten etliche verwundete IS-Milizen in türkischen Krankenhäusern medizinisch behandelt, haben erwiesenermaßen an den Grenzen Waffenausbildung genossen, logistische Hilfe und finanzielle Unterstützung erhalten. Dabei stellt der damalige Ministerpräsident und Vorsitzende der AKP, Ahmet Davutoğlu, eine Schlüsselfigur dar für die Verschleierung der Verstrickungen von AKP und dem IS.
Journalist:innen in der Türkei, die sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Missstände investigativ zu verfolgen, müssen mit harter Repression, staatlicher Einschüchterung, Diffamierung und Todesdrohungen rechnen.
Nach den ersten Minuten der Detonation des Sprengstoffgürtels in Suruç bot sich den schwerverletzt Überlebenden und den sofort dazu geeilten Ersthelfer:innen ein Bild des Grauens. Der Garten des Kulturzentrums Amara war übersät mit Toten. Die Ersthelfer:innen versorgten und bargen – selbst unter Schock stehend – die Überlebenden und organisierten die Evakuierung aus dem Hinterhof.
Notfallrettungsdienste eilten zum Unglücksort, wurden jedoch durch Straßenblockaden der Polizei an ihrem Rettungseinsatz massiv behindert. Schwerverletzte mussten deshalb sogar in diesem kritischen Zustand mit privaten PKW in die Krankenhäuser gefahren werden. Die lokalen Polizeieinheiten und die türkische Gendarmerie begründeten ihr Handeln mit dem vorgebllichen Absichern des Tatorts. Sie sind somit für den Tod von Verletzten verantwortlich, die nicht rechtzeitig notfallmedizinisch betreut werden konnten. Aufgrund der Bildung von Staus und zu wenig medizinischem Personal verstarben viele Menschen, die den Anschlag noch schwerverletzt überlebt hatten, dann auf dem Weg in die Krankenhäuser.
Die Sicherheitsbehörden agierten in den folgenden Stunden des Attentats auffallend passiv und führten am Tatort keinerlei Befragungen von Zeugen durch oder fahndeten etwa nach verdächtigen Personen – vielmehr war die zur Schau gestellte Haltung gegenüber den überwiegend sozialistischen Anschlagsopfern Gleichgültigkeit.
Innerhalb dieser chaotischen und unübersichtlichen Situation berichten Augenzeug:innen vor Ort der Polizei von einem verdächtig wirkenden Mann, der auf einem Motorrad mit seinem Mobiltelefon Aufnahmen des Tatorts und der Anschlagsopfer macht und eine große Tasche mit sich trägt. Er wird durch Passant:innen zur Rede gestellt und der anwesenden Polizei übergeben. Bei der Untersuchung seiner Tasche finden sich Fahnen des IS und islamistische Literatur, auch kann nachgewiesen werden, dass der Verdächtigte sich Minuten vor der Detonation aus dem Gebäude des Kulturzentrums entfernte und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Komplize des Attentäters ist.
Er wird anschließend in Polizeigewahrsam genommen, dort aber ohne Befragung wieder freigelassen.
Bei der folgenden Gerichtsverhandlung wird er jedoch nicht als Angeklagter, sondern als Zeuge geladen, da die Staatsanwaltschaft in Urfa die strafrechtliche Verfolgung und das Ermittlungsverfahren aufgrund unzureichender Beweise gegen ihn fallen lässt.
Kurdische und türkische Presseinformationen besagen, dass eine Stunde vor dem Selbstmordanschlag der Name des – bereits im Vorfeld erkennungsdienstlich behandelten Attentäters – in einer Polizeidatenbank abgerufen wurde, wie auch vier Stunden nach der Tat, als nähere Umstände und die Personalien von Opfern und dem Täter in Ermittlungskreisen noch vorwiegend im Unklaren zu sein schienen. Die Tatbeteiligung und Mitwisserschaft türkischer Sicherheitsbehörden von dschihadistischen Aktivitäten innerhalb des türkischen Staatsgebiets ist evident.
Wochen vor dem Anschlag meldete die Mutter der Attentäter von Suruç und Ankara einer Polizeidienststelle, dass sie vermutet, ihre militant-islamistischen Söhne könnten einen Sprengstoffanschlag verüben und sie deshalb in großer Sorge um die Öffentlichkeit sei. Diese alarmierende Meldung wurde nicht weiterverfolgt, und die schwer verdächtigen Brüder wurden nach kurzem Verhör in einem Polizeikommissariat ohne Auflagen entlassen. Aussagen von Anwohner:innen und Aktivist:innen im betroffenen Stadtteil von Suruç zufolge fiel auch lokal die untypisch geringe Polizeipräsenz einige Tage vor dem Anschlag rund um das inzwischen geschlossene Kulturzentrum Amara auf, wie auch die Tatsache, dass staatliche Sicherheitskameras am Tattag und auch kurz davor weiträumig ausgeschaltet waren und es keinerlei Aufzeichnung gibt.
Nur die sozialistische und demokratische Bewegung kämpft noch für Aufklärung
Die einzige juristische Verfolgung und unablässige Bestrebung, zum Attentat von Suruç, dessen weiteren Täter:innen, Drahtzieher:innen und Mitbeteiligten zu ermitteln, erfolgt bis heute ausschließlich durch diverse solidarische Anwaltskammern, durch das Engagement der Hinterbliebenen und Opferfamilien des Anschlags und durch revolutionäre sowie fortschrittliche Organisationen.
Seit 8 Jahren sind etliche Ermittlungsakten und Verhörprotokolle unter Verschluss und werden nur schleppend und unter vehementem Druck auf Akteneinsicht von Anwälten und Anwältinnen freigegeben. Solidaritätsbekundungen und Gedenkdemonstrationen in türkischen Städten, die eine umfassende Aufklärung und Gerechtigkeit für die Opfer einfordern, sind brutalen Angriffen der türkischen Polizei und Gendarmerie, wie auch Attacken von AKP-treuen und islamistisch-fundamentalistischen Einzelpersonen und Gruppierungen ausgesetzt. Die von Erdoğan dirigierten Staatsmedien haben bei der Kriminalisierung der Getöteten und auch deren Hinterbliebenen kräftig mitgemischt und propagieren breit eine Täter-Opfer-Umkehr.
In Hamburg, Berlin, Leipzig, Frankfurt am Main, Köln wie auch in zahlreichen anderen deutschen Städten fanden zum 20. Juli Gedenkdemonstrationen für die Opfer des Anschlags in Suruç statt. Thematisiert wurden in diesem Rahmen auch die kurdische Freiheitsbewegung und der Revolutionskampf in Rojava. Die Demonstrierenden riefen Parolen wie „Gerechtigkeit für Suruç, wir kämpfen weiter“ und forderten unter diesem Motto auch gestern nach 8 Jahren eine umfassende Aufklärung der weiteren Tatbeteiligten, wobei sie gleichzeitig versuchten, eine breitere öffentliche Aufmerksamkeit für diesen Anschlag zu gewinnen.