Warum der Abzug dennoch notwendig ist, um einen harten und steinigen Weg zur Befreiung zu eröffnen. – Ein Kommentar von Tim Losowski
Am Sonntag hat die afghanische Regierung eine „friedliche Machtübergabe“ an die Taliban angekündigt, die bereits vor der Hauptstadt Kabul standen. Anschließend floh der afghanische Präsident von NATOs Gnaden, Ashraf Ghani, ins Exil nach Usbekistan. Er tat dies, um „Blutvergießen“ zu verhindern – vermutlich jedoch vor allem, um seine eigene Haut zu retten. Daraufhin nahmen die Taliban den Präsidentenpalast ein. – 3 Thesen zur Debatte:
1. Der Afghanistan-Einsatz war eine imperialistische Besatzung aus wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen
In vielen Medienberichten und von Politiker:innen hört man nun, dass Deutschland verspiele, was man in „den letzten 20 Jahren erreicht“ habe. Solche Aussagen basieren auf der Legende, die NATO-Koalition sei vor mehr als 20 Jahren damit angetreten, Afghanistan für „Freedom and Democracy“ zu befreien. Tatsächlich ging es Deutschland darum, das Land in eine Neokolonie zu verwandeln, um eigene Interessen zu sichern.
Auf der Halbzeit des Krieges sprach das auch der deutsche Bundespräsident Horst Köhler mit Bezug auf Afghanistan in einem Interview aus: „Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen, negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg. […] Es wird wieder sozusagen Todesfälle geben. Nicht nur bei Soldaten, möglicherweise auch durch Unfall mal bei zivilen Aufbauhelfern. […] Man muss auch um diesen Preis sozusagen seine am Ende Interessen wahren. […]“. Für seine Offenheit, die nur mit dem, was die Bundeswehr und auch CDU/CSU bereits öfter offen verkündet hatten, übereinstimmte, musste er seinen Hut nehmen.
Warum zieht dann die Bundeswehr trotzdem ab, obwohl sie dort eigentlich die Interessen des deutschen Kapitals wahrt? Das hängt mit der strategischen Umorientierung der USA auf den Kampf gegen China zusammen, der in Hillary Clintons Erklärung vom „pazifischen Jahrhundert“ zum Ausdruck kommt. Dem lag bereits die Außenpolitik Trumps zugrunde und nun auch die von Joe Biden. Die Bundeswehr muss sich dem einfach fügen, da sie derzeit nicht auch nur annähernd eine Militärmacht wie die USA aufbringen kann. Auch wenn seit Jahren an deutscher Aufrüstung auf Hochtouren gearbeitet wird – der deutsche Imperialismus konnte so einen Einsatz nicht alleine stemmen und musste raus.
2. Auf eine Besatzungsarmee kann man sich nicht verlassen
Dass der Abzug jetzt so panikartig geschieht, ist schon eine Blamage für die NATO-Imperialisten. Alle Völker dieser Welt, die noch von einer imperialistischen Besatzung betroffen sein werden oder sind, wird damit ein eindeutiges Signal gesendet: Wenn ihr mit den Besatzungstruppen kollaboriert, seid ihr denen letztendlich total egal.
Wer hofft, durch Dolmetschertätigkeit, logistische Unterstützung, Spitzeldienste oder anderes in der Gunst der Besatzungsmacht zu steigen und damit ein mögliches besseres Leben für sich und seine Familie zu erreichen, wird im Zweifelsfall enttäuscht werden. Die Kollaborateure, die in westlichen Medien beschönigend als „Ortskräfte“ bezeichnet werden, werden nun einfach zurückgelassen und damit der vermutlichen Rache der Fundamentalisten ausgesetzt.
Selbst imperialistische Hilfe beim Aufbau einer „eigenen“ afghanischen Armee anzunehmen, funktioniert nicht – wenn es keine eigenständige Vision gibt. 83 Milliarden Dollar sollen die USA in die zuletzt auf 300.000 Mann bezifferte afghanische Armee gesteckt haben. Doch vor den fanatisch verhetzten Taliban ist diese Armee wie ein Kartenhaus zusammen gefallen.
Wofür sollten sie denn auch kämpfen? Für ihre Generäle, die sich alle als erstes ins Ausland absetzten? Für die Regierung, welche durch und durch korrupt war und nur unter Legitimation der NATO eingesetzt wurde? Der Siegeszug der Taliban zeigt die Bedeutung der moralischen Größe im Krieg – die Aussicht auf die Verteidigung eines morschen Marionetten-Staats war es offenbar für die afghanischen Soldaten nicht.
3. Das Ende der Besatzung eröffnet die Möglichkeit zur wirklichen Befreiung
In einem SWR-Podcast brachte ein afghanischer Interviewter gegenüber der deutschen Journalistin die Ergebnisse des Afghanistan-Einsatzes auf den Punkt: „Ihr seid gekommen, um die Terroristen zu vertreiben, habt ihr gesagt, aber nun gibt es viel mehr davon“.
Die Taliban wuchsen von geschätzten 11.000 im Jahr 2008 auf mittlerweile 200.000 im Jahr 2021 an, da sie sich als Vorkämpfer gegen die Besatzung darstellen konnten. Das ist nun nicht mehr möglich.
Der Abzug der Besatzungmächte ist richtig, nicht nur, weil die Besetzung anderer Länder für die Interessen der eigenen Konzerne und damit Milliardäre falsch ist. Er ist auch richtig, da nur so in Afghanistan selbst die Klassenkonflikte sichtbar werden können.
Denn gerade weil die Taliban in Zukunft nun nicht mehr durch ihren „Kampf gegen die Besatzung“ von ihrer Rolle als feudaler Militärmacht ablenken können, wird der dauerhaft währende Klassenkampf zwischen ausgebeuteten Arbeiter:innen oder Bäuer:innen auf der einen und lokalen Kapitalist:innen und Feudalherren auf der anderen Seite verstärkt an die Oberfläche treten können.
Auch wenn man sagen kann, dass die Taliban es geschafft haben, hunderttausende NATO-Soldaten letztendlich zum Aufgeben zu zwingen – eine Verbesserung der Lebensbedingungen der afghanischen Unterdrückten wird sich dadurch nicht wirklich einstellen.
Zwar werden sie nicht mehr von NATO-Drohnen aus der Luft ermordet werden oder in einer von Korruption durchfressenen Scheindemokratie leben – doch nun dafür unter dem „Islamischen Emirat Afghanistans“. Ein Teil der früher regierenden Feudalherren („Warlords“) sind selber teils Taliban oder haben sich bereits mit ihnen darauf geeinigt, ihre feudale Herrschaft weiterzuführen.
Erst jetzt gibt es die Möglichkeit, dass diese in den Augen der breiten Unterdrückten augenfällig wird und diese ihre eigene Klassenrolle entdecken. Erste Keime eines selbstständigen Kampfes der Afghan:innen zeigten sich in den letzten Monaten, als offensichtlich wurde, dass sie auf sich alleine gestellt sind. Es entstanden kleine militärische Abteilungen von Frauen und Männern, die selber die Gewehre in die Hand nahmen, um sich gegen das Vordringen der Fundamentalisten zu verteidigen.
Noch ist die afghanische Linke nicht stark genug gewesen, diese wirklich zu organisieren. Ihrem Aufbau und der fortschrittlichen Selbstorganisation von Arbeiter:innen, Bäuer:innen und Frauen – nun unter fundamentalistischer Herrschaft statt imperialistischer Besatzung – gilt jetzt unsere Solidarität, damit in Afghanistan wirkliche Befreiung einziehen kann.
Von Tim Losowski