São Paulo. Die Demonstrationen der letzten Tage in Brasilien haben sich zu landesweiten Massenprotesten entwickelt. Nachdem am Montag Abend landesweit Hundertausende auf den Straßen protestierten, waren am Dienstag Abend rund 300.000 Demonstrierende auf den Straßen allein in São Paulo unterwegs.
Dort hatten die Proteste vorvergangene Woche ihren Ausgang genommen, da die Fahrpreise zum 2. Juni von 3 auf 3,20 Reais erhöht wurden. Nun erhob sich in den vergangenen Tagen ein vielfältiger Massenprotest auch gegen Mängel im Gesundheits- und Bildungssystem, gegen Milliardenausgaben des Staates für kostspielige Bauvorhaben zur Fußballweltmeisterschaft und die sozialen Räumungen wegen der WM sowie gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Vorteilsnahme.
Im Falle der Fahrpreiserhöhungen erklärte das die Proteste initierende Movimento Passe Livre (MPL), dass ein Arbeiter in São Paulo Erhebungen zufolge 31 Prozent seines Monatsgehalts für den Personennahverkehr ausgeben muß. Zudem prangerte das MPL die Verquickung der privaten Busfirmen mit Politikern an. So habe das Busunternehmen Gato Preto dem Gouverneur des Bundesstaates von São Paulo, Geraldo Alckmin, 125.000 Reais (umgerechnet 43.000 Euro) für dessen Wahlkampf gespendet.
Der Bürgermeister der Stadt São Paulo von der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, wies die Forderungen der Preisrücknahme zunächst zurück. Eine Rücknahme der Preiserhöhungen von 0,20 Reais würde die Stadt 360 Millionen Reais kosten. Haddad erklärte der Presse am Mittwoch Morgen, eine Rücknahme zum jetzigen Zeitpunkt wäre „eine populistische Maßnahme„. Am Nachmittag erklärten Haddad und Alckmin, dass die Preiserhöhung zurückgenommen und der Bustarif wieder 3 Reais kosten werde. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff erklärte, „die Stimme der Straße muss gehört werden“ und nannte die Proteste eine „Stärke der Demokratie“. Indessen nahmen infolge der Demonstrationen bereits sieben Städte die Fahrpreiserhöhungen wieder zurück.
Angesichts der sich massiv ausgeweiteten Massenproteste haben seit Freitag vergangener Woche die brasilianischen Medien ihre Berichterstattung deutlich geändert. Wurden die Proteste zuvor als „Vandalismus“ diffamiert, so werden sie nun als legitim dargestellt. Der Journalist Arnaldo Jabor von Radio CBN erklärte, er habe sich in seiner Bewertung der Proteste geirrt. José Luis Datena, Journalist des Fernsehsenders TV Bandeirantes und bekannt für seine Onlineumfragen, wurde live im Fernsehen Opfer seiner eigenen Umfrage: als zunächst seine Ausgangsfrage „Stimmen Sie mit den Protesten überein?“ deutlich zustimmende Mehrheiten bekam, änderte er die Frage in „Stimmen Sie mit den Protesten von Krawallchaoten überein?“ – und die Mehrzahl der Teilnehmenden bejahte dies noch immer deutlich.