(…) die grundgesetzliche Perversion des Rechts auf Widerstand gegen die Macht zur Pflicht der Verteidigung der Macht, erfolgte in der Novellierung des Grundgesetzes bei der Ausgestaltung der Notstandsgesetze. Da machte der Bundestag das Recht auf Widerstand als die Berechtigung und moralische Pflicht aller Bürger fest, die öffentliche Gewalt gegen die Subversion selbsttätig zu verteidigen, wenn andere Abhilfe nicht möglich sei. Das Recht des Widerstands gegen die Staatsgewalt verwandelt sich in die staatsethische Pflicht, gegen die Negation im Notfall von sich aus vorzugehen. Nebenbei, wenn es gegen Subversion, Rebellion und Revolution geht, erklärt sich der Staat grundsätzlich bereit, seine heiligste Kuh zu schlachten: sein Gewaltmonopol.
Johannes Agnoli – Die Subversive Theorie [1]
Bis heute erregen die Ereignisse des 18. Oktober 1977, als die Gefangenen der RAF, Andreas Baader und Gudrun Ensslin in der JVA Stuttgart Stammheim tot und Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller schwer verletzt aufgefunden wurden, die Gemüter. Raspe erlag seinen Verletzungen nur wenig später. Einen Tag darauf wurde die Leiche des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, den die RAF am 5. September 1977 als Geisel zum Zwecke des Austausches gegen eigene Gefangene genommen hatte, nach einem Hinweis aus ihren Kreisen in Mulhouse im Elsass aufgefunden. Seit 40 Jahren wird über den sogenannten Deutschen Herbst, der damit seinen Höhepunkt erreicht hatte, auf eine Weise debattiert, bei der der von der RAF angegriffene Staat ungebrochen Definitionsmacht über die damalige Konfrontation beansprucht. Daß dies auch über die Kreise jener radikalen Linken, die die im April 1998 aufgelöste RAF als Teil ihrer revolutionären Geschichte begreift, hinaus auf Widerspruch stößt, ist Ausdruck des bis heute niemals vollständig aufgeklärten Verlaufes der damaligen Konfrontation wie der konstitutiven gesellschaftlichen Bedingungen, die sie hervorbrachten und die bis heute andauern.
So forderte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 18. Oktober 2017 auf einer Gedenkveranstaltung an seinem Berliner Amtssitz, die unter dem Titel „Die Freiheit verteidigen, die Demokratie stärken – eine bleibende Herausforderung“ [2] stand, die ehemaligen Angehörigen der RAF auf, endlich ihr Schweigen über die konkreten Umstände dieser und anderer Taten zu brechen. Für ihn als ersten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland kann das Kapitel solange nicht geschlossen werden, bis die ausführenden Personen bei Aktionen der RAF Gesicht und Namen erhalten haben. Als unumstößlich gesichert gilt zugleich die Behauptung, daß die RAF-Gefangenen sich selbst umgebracht hätten. Die Gültigkeit dieser in der offiziellen Geschichtschreibung als Tatsache behandelten These wiederum wurde stets nicht nur von Unterstützern der RAF, sondern zahlreichen Linken in der Bundesrepublik wie darüber hinaus in Frage gestellt.
Ebenfalls an einem 18. Oktober, zum 35. Jahrestag der Todesnacht von Stammheim, präsentierten der IT-Experte Helge Lehmann und der Bruder Gudrun Ensslins, Gottfried Ensslin [3], in Berlin einen Antrag zur Neueröffnung des Todesermittlungsverfahrens in der Sache der in Stuttgart Stammheim tot und verletzt aufgefundenen RAF-Gefangenen. Obwohl Lehmann die Ereignisse dieser Nacht und das dazu einsehbare Ermittlungsmaterial jahrelang umfassend und akribisch untersucht hatte, wie die 32 Einzelpunkte zu widersprüchlich oder unaufgeklärt gebliebenen Vorgängen im Antrag zeigen [4], scheiterte dieser bislang wirksamste Versuch, Licht ins Dunkel dieser Vorgänge zu bringen, am Desinteresse der Staatsanwaltschaft Stuttgart und einer Öffentlichkeit, die sich der weitreichenden Konsequenzen eines entgrenzten staatlichen Gewaltmonopols weniger denn je bewußt zu sein scheint. Gottfried Ensslin [5], der den Kampf seiner Schwester Gudrun stets mit großer Zugewandtheit begleitet hatte, nahm sich am 6. Dezember 2013 das Leben.
Die Definitionsmacht des Staates
Die Gründe für die politische Virulenz 40 Jahre zurückliegender Ereignisse gehen weit über die frag- und untersuchungswürdigen Umstände hinaus, auf denen die offizielle Erklärung, in der JVA Stammheim sei in dieser Nacht ein kollektiver Suizid begangen worden, beruht. Auch wenn sich die Auseinandersetzung zwischen der RAF als der zum bewaffneten Kampf entschlossenen Fraktion der revolutionären Linken und dem die kapitalistische Klassengesellschaft verfügenden Staat in der BRD an anderen Parametern sozialen Widerstands und herrschender Verfügungsgewalt als heute entwickelte, hat sich dieses Verhältnis nur insofern verändert, als die außerparlamentarische und radikale Linke organisatorisch wie inhaltlich nurmehr ein Schatten ihrer selbst ist. Um so unbestrittener liegt die Definitionsmacht in den Händen der Repräsentanten dieses Staates, wie an der Gedenkrede des Bundespräsidenten zum 40. Todestag von Hanns Martin Schleyer exemplarisch nachzuvollziehen ist.
Selbstverständlich betrauert Frank-Walter Steinmeier zur Beginn seiner Rede lediglich die von der RAF getöteten Menschen, alles andere liefe darauf hinaus, deren Kampf als einen politischen anzuerkennen, was zu vermeiden stets Hauptlinie staatlicher Legitimationsstrategie war. Das politische Ansinnen der RAF sollte nicht nur strafrechtlich als illegal und kriminell verfolgt werden, ihm mußte gerade deshalb, weil in den frühen 1970er Jahren nicht wenige mehr oder weniger offen mit der RAF sympathisierten, jegliche Legitimität entzogen werden. Da sich die Gruppe als Teil einer weltweiten antiimperialistischen Bewegung verstand, der Ausbeutung und Unterdrückung der Bevölkerungen im Globalen Süden in den hochindustrialisierten Metropolengesellschaften des kapitalistischen Zentrums bekämpfte, konnte sie angesichts von der Bundesregierung und global agierenden Konzernen mit deutschem Stammsitz unterstützter Folterregimes in Lateinamerika und Afrika wie der vom NATO-Verbündeten USA geführten Kriege unschwer Argumente für ihr Vorgehen anführen.
Steinmeier gehörte schon als Schüler den Jusos und damit einer Linken an, die sich zu seiner Zeit zumindest programmatisch antikapitalistisch gab. Mit den Kämpfen und Zielen der 68er-Bewegung gut vertraut, resümiert der 1977 seit zwei Jahren der SPD angehörende 21jährige Jurastudent den linken Aufbruch seiner Jugend als Massenbewegung „gegen Geschichtsvergessenheit, Bildungsnotstand, gegen Kolonialismus und Vietnamkrieg, gegen Autoritäten aller Art, die ein freies und befreites Leben aus Sicht der jungen Generation verbauten“. Diese Wortwahl kann nur als präsidial bezeichnet werden. So steht „Geschichtsvergessenheit“ für die zahlreiche Anwesenheit zu neuen Ehren und Würden gelangter Nazis in Regierungsämtern und Ministerialbürokratien, in Gerichten und anderen öffentlichen Institutionen. Schleyer, seit 1933 SS-Mitglied und im sogenannten Protektorat Böhmen und Mähren ein für die „Arisierung“ tschechischer Unternehmen und die Bereitstellung von Zwangsarbeitern zuständiger Wirtschaftsfunktionär, firmiert bei Steinmeier als „Mann mit Vergangenheit“. „Bildungsnotstand“ meint nicht nur zu wenige Studienplätze, sondern die Reproduktion reaktionärer Inhalte insbesondere in Sozial- und Geisteswissenschaften. „Kolonialismus“ war zwar ein Thema, aber die linke Kritik an der Politik der kapitalistischen Staatenwelt gegenüber dem Globalen Süden bediente sich doch weit häufiger des Begriffes „Imperialismus“.
Steinmeier ist allerdings von den damaligen Ereignisse nicht weit genug entfernt, um der RAF nicht „anfängliche Sympathien“ einer Öffentlichkeit zuzugestehen, die sich dann allerdings mit „zunehmendem Entsetzen abwandte“. Auch den nicht erfolgten Austausch Schleyers gegen die für seine Freilassung verlangten RAF-Gefangenen versieht der Bundespräsident mit einer nachdenklichen Note: „In den Geschichtsbüchern steht: Der Staat zeigte sich wehrhaft. Der Staat war nicht erpressbar. Geblieben ist allerdings ein bis heute unauflösbares Dilemma. Nicht erpressbar zu sein, das kann in letzter Konsequenz bedeuten, ein Menschenleben aufzugeben, um nicht das Tor für immer neue Entführungen, für immer neue Schrecken zu öffnen. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat diese Linie entschlossen verfolgt, gestützt von den Verantwortlichen der damals im Bundestag vertretenen Parteien.“ Der Spiegel dokumentierte 1980 [6] und 2008 [7] Aussagen aus Sitzungen des Großen Krisenstabs im Oktober 1977, die belegen, daß führende Politiker der BRD erwogen, das staatliche Gewaltmonopol auf eine Weise anzuwenden, die seine verfassungsrechtliche Legitimation weit überschritt.
Auch gibt Steinmeier, der als Schüler des Verfassungsrechtlers Helmut Ridder mit einem explizit staatskritischen Grundrechtsverständnis befaßt war und auch für die von diesem herausgegebene und vom Verfassungsschutz beobachtete Quartalszeitschrift Demokratie und Recht (DuR) schrieb, zu bedenken, daß die Legitimität von Gewalt als Mittel der Interessendurchsetzung in der damaligen Linken intensiv diskutiert wurde. Nach 1977 habe man zu spät bemerkt, wohin dies geführt habe, so der Bundespräsident, der kurz NSU und Dschihadisten als auf der anderen Seite des politischen Spektrums angesiedelte Terroristen erwähnt. Zu kurz, möchte man in Anbetracht der sich häufenden Indizien für eine staatliche Verstrickung in terroristische Angriffe rechtsradikaler Täter meinen, auf deren Konto seit 1990 etwa 180 Tote und zahlreiche Anschläge auf bewohnte Gebäude wie Flüchtlingslager und Asylunterkünfte gehen.
Daß insbesondere die strafrechtliche Aufarbeitung der NSU-Morde mit erstaunlich geringer Ermittlungsintensität betrieben wird, zeigt sich auch daran, daß auf wichtige Erkenntnisse über Tatverläufe im Münchner NSU-Prozeß nicht zurückgegriffen wurde. Ganz ähnlich wie Helge Lehmann, der die Suizidthese zu den RAF-Gefangenen anhand der forensischen Rekonstruktion dazu angeführter Beweise in Frage stellt, hat die an der Londoner Goldsmiths University angesiedelte Forschergruppe Forensic Architecture die Behauptung des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme, trotz seiner Anwesenheit am Tatort nichts von dem in Kassel vollzogenen NSU-Mord an Halit Yozgat mitbekommen zu haben, dieses Jahr mit einer aufwendigen forensischen Rekonstruktion erschüttert [8]. Die Temme schwer belastenden und weitere Fragen zur staatlichen Verstrickung in die NSU-Morde aufwerfenden Erkenntnisse der Forschergruppe hatten keine Auswirkungen mehr auf den in der Endphase befindlichen NSU-Prozeß.
Diese Gewalt „kam von ganz rechts, nicht von ganz links, soweit diese Zuschreibungen heute überhaupt noch gelten und relevant sind“. Steinmeier schließt sich damit einer Einebnung politischer Positionsbestimmungen an, die signifikant ist für den Primat fragloser Unterwerfung unter die Funktionslogik der betriebswirtschaftlich organisierten Arbeitsgesellschaft. Wo Sachzwänge, Kosten-Nutzen-Kalkulationen und die ungestörte Einspeisung der Marktsubjekte in die herrschende Produktionsweise die Maßgaben der Politik sind, bedarf es keiner emanzipatorischen Forderungen mehr, von revolutionären Ideen ganz zu schweigen. Wo noch grundstürzende Gedanken diskutiert werden, wird versucht, sie mit ideologiekritisch ummänteltem Gesinnungsverdacht ins Abseits gesellschaftlich akzeptabler Interventionen zu manövrieren. Um so unbestrittener etabliert sich die Ratio exekutiver Ermächtigung als Leitbild eines Regierungshandelns, das desto weniger rechenschaftspflichtig gegenüber davon betroffenen Menschen ist, als eine Linke, die noch am ehesten die Stimme der Sprach- und Gesichtslosen erhebt, erfolgreich delegitimiert und ausgegrenzt wurde.
Mit der Aufkündigung des kategorialen Unterschiedes zwischen links und rechts weichen Steinmeiers kurze Reminiszensen an seine linke Jugend vollends dem Denken eines Verwalters staatlicher Machtfülle, über die er insbesondere als Kanzleramtsminister Gerhard Schröders von 1999 bis 2005 verfügte. Die Beteiligung der Bundeswehr am völkerrechtswidrigen Überfall der NATO auf Restjugoslawien, die Einbindung der Bundesrepublik in den US-geführten Terrorkrieg nach dem 11. September 2001 durch die Beteiligung der Bundeswehr an der Besetzung Afghanistans und die Kooperation mit US-Agenturen, die vor der Verschleppung, Folterung und administrativen Inhaftierung sogenannter Terrorverdächtiger nicht zurückschreckten, die Zurichtung des deutschen Sozialstaates auf ein neoliberales Workfare-Regime im Rahmen der Agenda 2010 – Steinmeier hat bei seinem politischen Aufstieg bis zum höchsten Amt der Bundesrepublik alle Stationen machtförmiger Zurichtung durchlaufen, von denen ein aufstrebender Sozialdemokrat nur träumen kann.
So mündet Steinmeiers nach eigener Einschätzung eher rhetorische Frage, ob man die in den Untergrund abtauchenden und sich dem bewaffneten Kampf verschreibenden GenossInnen hätte aufhalten können, um das Schlimmste zu verhindern, in die Empfehlung, „im gelebten Föderalismus“ sicherzustellen, „dass irgendwo vorhandenes Wissen über Gefährder tatsächlich allen zuständigen Behörden zur Verfügung steht“, und IT-Spezialisten zu suchen, „die den technologischen Wettlauf mit gut gerüsteten Gegnern aufnehmen können“. Mit diesen und anderen Überlegungen zur Aufrüstung des Sicherheitsstaates, die die Grenzen grundrechtlichen Minimalschutzes noch ein gutes Stück enger ziehen als im sogenannten Deutschen Herbst, leitet Steinmeier über zu einem am darauffolgenden Tag von der Schleyer-Stiftung veranstalteten Symposium, auf dem die Freiheit verteidigt und die Demokratie gestärkt werden sollen. Um festzustellen, wie dies erfolgen soll, wurden insbesondere Verfechter staatsautoritärer Lösungen und sozialdarwinistischer Leistungsmoral eingeladen.
Auch das zeigt, von welchen Kommandohöhen aus eine Geschichtssicht dekretiert wird, die von tatsächlich auf Augenhöhe und ohne Herrschaftsprivileg ausgetragenen sozialen und politischen Widersprüchen nichts wissen will. So ungebrochen die Definitionsmacht des Staates für alle Grenzfragen radikaler Gesellschaftsveränderung eingefordert wird, so wenig läßt sich dadurch die Formierung antagonistischer Bewegungen verhindern. Der Friede der Paläste setzt den Krieg der Hütten zwingend voraus, wie die vielen sozialdemokratischen und grünen PolitikerInnen bewiesen haben, die den Aufstieg von der Arbeitervorstadt ins Villenviertel nach 1977 im Rekordtempo absolvierten. Die vom Bundespräsidenten in biografischer Authentizität geschilderte Zäsur linken Engagements und Aktivismus begünstigte eine Absetzbewegung ins bürgerliche Lager, wo es nicht mehr darum ging, strukturelle Ungleichheit aufzuheben und konkrete Schritte zur Überwindung sozialer Gewalt zu tun, sondern die Moral der Herrschenden als selbstverursachte Schuld der Unterworfenen zu übersetzen. Auf dieser Strecke lag auch die begriffliche Entwicklung des Terrorismus als selbstevidentes, von ideologischer Verblendung gespeistes Phänomen gesellschaftlicher Verirrung, daß es symptomatisch zu unterdrücken gilt, anstatt eine Zukunft zu wagen, die ökonomische Not und technologische Gewalt als Ergebnis kapitalistischer Aneignungs- und Vergesellschaftungspraxis versteht und überwindet.
(wird fortgesetzt)
Fußnoten:
[1] Johannes Agnoli: Die Subversive Theorie. Stuttgart 2014, S. 26
[2] http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/10/171018-Hanns-Martin-Schleyer.html
[3] BERICHT/126: Todesnacht in Stammheim – Nachgeforscht (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0126.html
[4] http://www.todesnacht.com/index.html
[5] INTERVIEW/139: Todesnacht in Stammheim – Eine Revolution läßt nichts aus (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0139.html
[6] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14324021.html
[7] http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-59889959.html
[8] BERICHT/055: documenta, Fragen und Kritik – Untiefen rechts … (2) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/kunst/report/kurb0055.html
25. November 2017
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0295.html