Download 2

BERICHT/306: Politische Gefangenschaft – gegen wirkliche Kritik … (SB)

Im rechtsstaatlichen Sinn hält die Bundesrepublik Deutschland in Strafverfahren den Anspruch der Unschuldsvermutung vor. Die Beweislast liegt auf seiten der Anklage, erst wenn ein Gericht die Täterschaft eines Angeklagten unter Abwägung der Beweislage für gegeben erachtet und ihn verurteilt, gilt die Schuld als rechtskräftig festgestellt. Dieses Prinzip wurde mit Einführung des Tatbestands „Mitglied einer kriminellen Vereinigung“ nach § 129 StGB insofern aufgeweicht, als in diesem Fall die konkrete individuelle Verübung einer Straftat nicht mehr beweispflichtige Voraussetzung einer Verurteilung ist.

Welcher Türöffner diese Preisgabe rechtsstaatlicher Prinzipien war, zeigte deren Übertrag auf politische Prozesse. Mit der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ nach § 129a wird das Kollektivprinzip der Bezichtigung in Zusammenhängen etabliert, welche die Staatsräson für verfolgungswürdig erklärt. Grundlage der Verfügung ist eine sogenannte „Terrorliste“ der Exekutive, die damit die formelle Gewaltenteilung aufhebt und die Strafjustiz zu ihrem unmittelbaren Erfüllungsgehilfen macht.
Die Erweiterung um die „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland“ nach § 129b vervollständigt die staatliche Zugriffsgewalt auch dann, wenn die Betroffenen keine Straftat in der Bundesrepublik begangen haben. Vor allem angewendet gegen türkische und kurdische Linke, übt deutsche Politik nicht nur den Schulterschluß mit der Regierung der Türkei in Verfolgung radikaler Opposition, sondern forciert ihren hegemonialen Übergriff auf den Nahen Osten wie auch die repressive Formierung des Sicherheitsstaats im Inland.

Hintergrund und Verlauf des Verfahrens gegen Musa Asoglu
Im Rahmen einer zweitägigen internationalen Konferenz, die auf Einladung des Freiheitskomitees für Musa Asoglu [1] am 10. und 11. Februar im Hamburger Centro Sociale stattfand, berichteten die Anwältinnen Fatma Sayin und Gabriele Heinecke über Hintergründe und Verlauf des Verfahrens gegen ihren Mandanten vor dem Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Dem 56jährigen Musa Asoglu, der seit Anfang Dezember 2016 im Hamburger Untersuchungsgefängnis in Isolationshaft einsitzt, wird nach § 129b des Strafgesetzbuches von der Bundesanwaltschaft vorgeworfen, Mitglied der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) zu sein und als „hochrangiger Führungsfunktionär“ die Vereinigung in Europa geleitet zu haben.
Wie eine Aktivistin der Antiimperialistischen Front auf der Konferenz ausführte, wurden Musa Asoglu und zwei weitere Personen auf den sogenannten Terrorlisten der Türkei und der USA per Kopfgeld gesucht. Demnach suchten die USA Schuldige für die militante Aktion gegen die US-Botschaft in Ankara und fragten bei der Regierung in Ankara an, die daraufhin drei Namen nannte. Deren Benennung erfolgte völlig willkürlich, zumal die USA dazu keine eigenständigen Ermittlungen durchführten.
Auf der Terrorliste der USA stehen rund 80 Personen, von denen drei türkeistämmig und die einzigen Marxisten-Leninisten sind. Bei allen anderen Gesuchten handelt es sich um Personen aus dschihadistischen Milizen wie Al Kaida, Al Nusra Front oder IS. Die Türkei führt den Angaben zufolge eine gestaffelte Liste in verschiedenen Farbstufen der Gefährlichkeit von rot über blau, grün, orange bis zu grau, auf der rund 1000 Personen stehen, 70 von ihnen vermeintliche Mitglieder der DHKP-C. Bei der Stufe rot sind bis zu 1,5 Millionen Dollar für Hinweise, die zur Verhaftung führen, in Aussicht gestellt.
Im unwahrscheinlichen Fall eines Freispruchs Musa Asoglus oder nach Verbüßung einer Haftstrafe könnte ein Auslieferungsantrag gestellt werden. Das Hanseatische Oberlandesgericht hat in der Anklageschrift darauf verzichtet, den Anschlag auf die US-Botschaft einzubeziehen. Dadurch wird die Tür zu einer möglichen Auslieferung an die USA offengehalten, die andernfalls verschlossen bliebe, da nach deutschem Recht eine Doppelbestrafung unzulässig ist. Ein weiterer Hinderungsgrund wäre eine drohende Todesstrafe, die von den US-Behörden ausgeschlossen werden müßte.

Verfügungsermächtigung – Schlüssel zum Staatsschutzprozeß
Wie Fatma Sayin und Gabriele Heinecke vom laufenden Prozeß berichteten, haben sie den Antrag gestellt, das Verfahren einzustellen, weil eine Verfolgungsermächtigung ihres Erachtens nicht vorliegt bzw. veraltet ist. Sie führten zur Begründung an, daß sich die Verhältnisse in der Türkei seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wesentlich verändert haben. Es gebe dort weder ein wirksames Rechtssystem, noch würden die grundlegendsten Menschenrechte eingehalten. Die Türkei sei ein Staat, der nicht nur im eigenen Land, sondern auch über die Grenzen hinweg, „terroristisch“ agiere. Deshalb müsse die Ermächtigungsgrundlage zurückgenommen und neu entschieden werden. Das Gericht hat diesen Antrag jedoch mit der Begründung abgelehnt, ihm fehle diese Möglichkeit der Überprüfung, weil das Gesetz das nicht gebiete. Deshalb gebe es keine Handhabe, die vorliegende Ermächtigung des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz zu bewerten.
Worum handelt es sich bei der Verfolgungsermächtigung? Sie ist bildlich gesprochen der Schlüssel zum Haus des 129b, der die Tür aufschließt. Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz erteilt damit den Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden die Erlaubnis, eine bestimmte Person anzuklagen. Ohne diese Ermächtigung kann die Bundesanwaltschaft niemanden vor dem OLG unter Anklage stellen. Es wird also mittels einer politischen Entscheidung die strafrechtliche Verfolgung in Gang gesetzt. Eine Verfolgungsermächtigung wurde 2011 für Musa Asoglu verfügt und 2014 erneuert. Seit 2015 ist sie für alle Personen verfügt, die der DHKP-C zugerechnet werden.
Im Zusammenhang der Verfolgungsermächtigung stellt sich die Frage, was dabei das Schutzgut ist. Haut jemand einem anderen auf die Nase, ist das Schutzgut dessen körperliche Unversehrtheit. Geht es hier jedoch darum, Personen festzunehmen und anzuklagen, die in bezug auf die Türkei eine politische Tätigkeit entfalten, bleibt offen, was die Bundesrepublik Deutschland damit zu tun hat. Diese ist demnach der Auffassung, daß sie zum Schutz der Türkei jemanden verfolgt, obwohl es kein Schutzgut auf deutschem Boden betrifft. Es gehört zu den Besonderheiten bei fast allen Verfahren nach § 129b, daß Dinge strafrechtlich verfolgt werden, die in der Bundesrepublik legal sind. Die Betroffenen werden wegen einer Meinungsäußerung, dem Sammeln von Spenden oder Sympathiekundgebungen für Menschen in der Türkei strafrechtlich verfolgt.
Als der § 129b Anfang der 90er Jahre diskutiert wurde, sprach sich der damalige Generalbundesanwalt dagegen aus. Er war der Auffassung, daß man Sachverhalte, die im Ausland entschieden werden, hierzulande besser nicht verfolgen möge, weil die deutschen Behörden keinen Zugriff auf die notwendigen Informationen aus dem betreffenden Land haben. Wenn also in einem solchen Verfahren die Interessen des türkischen Staats verteidigt werden, geschieht dies auf Grundlage unüberprüfbarer Informationen des türkischen Geheimdienstes MIT oder der dortigen Polizei, obgleich diese nicht offiziell als Zulieferer von Tatsachen in Erscheinung treten.
Gemäß dem Wortlaut des Paragraphen 129b müssen das Bundesministerium und die Justiz prüfen, ob das Land, das man als Schutzobjekt definiert, den deutschen und europäischen Werten gerecht wird. Dennoch erklären alle deutschen Gerichte einschließlich des Hanseatischen Oberlandesgerichts, dies nicht überprüfen zu können. Nach Angaben der Anwältinnen hat der Bundesanwalt in seiner Stellungnahme lediglich geschrieben, daß die Ermächtigung gemäß der außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik erteilt wird. Die Gerichte machen das mit, keines hat das Verfahren ausgesetzt und eine Anfrage an das Bundesministerium gestellt, was genau dieses Interesse sein soll. Bekanntlich gibt es in der Türkei keine Opposition mehr, es handelt sich um ein von Recep Tayyip Erdogan geführtes Regime. Er hat im eigenen Land die kurdischen Städte in Schutt und Asche gelegt, er stempelt jeden Kritiker als „Terroristen“ ab. Von einer Wahrung deutscher oder europäischer Werte kann also keine Rede sein.
Da im Völkerrecht der Grundsatz der Staatensouveränität gilt, soll eine strafrechtliche Verfolgung demnach nur dann möglich sein, wenn es den Interessen der Bundesrepublik gerecht wird. Ansonsten haben wir mit Sachverhalten im Ausland nichts zu tun, so die Anwältinnen. Obgleich die Souveränität der Türkei betroffen ist, begrüßt diese es natürlich ausdrücklich, daß ihre Gegner in Deutschland verfolgt werden. Die Verfolgungsermächtigung setzt eine politische Entscheidung der Bundesregierung voraus, daß Sachverhalte in der Türkei hier strafrechtlich verfolgt werden. Was die formellen Voraussetzungen betrifft, eine konkrete Person der Strafverfolgung auszusetzen, wird hier argumentiert, Musa Asoglu habe sich zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Paragraphen 129b in der Bundesrepublik aufgehalten und politisch betätigt. Die politische Entscheidung der Verfolgungsermächtigung wird nicht inhaltlich öffentlich gemacht, sie wird ohne nähere Angaben von Gründen einfach gewährt.

Der Kronzeuge schweigt
Im Verfahren gegen Musa Asoglu tritt als Zeuge Alaattin Ates auf, der sich auf das Aussageverweigerungsrecht beruft. Ates wurde 2002 vom BND als Informant verpflichtet und wird von BND und BKA in solchen Prozessen immer wieder als Kronzeuge aufgefahren. Des weiteren ist er offenbar ein Doppelagent, der zugleich für den MIT gearbeitet hat. In der Verantwortung der Bundesrepublik und ihrer Institution BND hat dieser Informant für den Staat gespitzelt und dazu angestiftet, Waffen zu organisieren, die er selber anbietet und die dann irgendwie in die Türkei geliefert werden sollen. All das wird wiederum aufgrund der Angaben ebendieses Informanten dem Angeklagten vorgeworfen. Ates verweigert jedoch die Aussage vor Gericht, was geradezu widersinnig anmutet.
Das Auskunftsverweigerungsrecht für Beschuldigte ist dazu da, ein demokratisches Recht gegen den Staat durchzusetzen. Der Staat soll in seiner Möglichkeit, Dinge, die man selber nicht preisgeben muß, beschränkt werden. Hier verhält es sich genau umgekehrt: Der Staat kannte jeden Schritt des Informanten Ates und verurteilte ihn zwar 2011 nach 129b, aber mit einer Strafe von zwei Jahren auf Bewährung, die lächerlich gegenüber den anderen verhängten Strafen ist. Für alle anderen mutmaßlichen Straftaten wird er überhaupt nicht verfolgt, weil er im Auftrag des Staates tätig war. Das stellt das Beschuldigtenrecht in Strafverfahren geradezu auf den Kopf.
Ates schützt nicht sich selbst, sondern den Staat, weil die Verteidigung keine Fragen stellen kann. Ein faires Verfahren, wie es die EU-Menschenrechtskonvention fordert, ist in diesem Prozeß von vornherein nicht gegeben. In solchen Verfahren sagen regelmäßig Spitzel beim BKA aus, geleitet von den Geheimdiensten, die sie beauftragt haben. Sie lassen sich in der Hauptverhandlung nicht befragen mit der Begründung, sie könnten ja selber irgendwann verfolgt werden. Wir wissen aber, daß sie gar nicht verfolgt werden, so die Anwältinnen. Selbst wenn sich das Gericht noch so anstrengen würde, wäre ein faires Verfahren angesichts dieses von BND und BKA unterstützten Settings nicht möglich. So ein Verfahren dürfte gar nicht stattfinden, so ein Verfahren müßte eingestellt werden. Es existiert ein geheimer Bereich, der für den Ausgang des Verfahrens sehr wichtig sein könnte, der Verteidigung aber vollständig vorenthalten wird.
Komplizenschaft und deutsche Staatsräson
Welche Politik hat die Bundesrepublik nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 betrieben? Bei Asylverfahren haben MIT und Verfassungsschutz direkt zusammengearbeitet. Es wurden Menschen zurückgeschickt, obwohl man wußte, daß sie verfolgt werden. Zu der engen Zusammenarbeit der Geheimdienste gesellen sich die deutschen Waffenlieferungen in die Krisenregion Türkei, die dann verwendet werden, um wie derzeit in Syrien Menschen umzubringen. Jemanden, der dazu beitragen will, ein solches Regime wie das der Türkei zu bekämpfen, „terroristisch“ zu nennen, macht die Bundesrepublik nicht nur zur Sachwalterin türkischer Staatsräson, sondern zeugt über die bloße Komplizenschaft hinaus von eigenständigen inperialistischen Interessen im Nahen Osten wie auch einer repressiven Staatlichkeit im eigenen Land.
Wenn ein Teil der Exekutive wie das Bundesjustizministeriums darüber entscheidet, ob derartige Verfahren geführt werden, macht dies die formelle Gewaltenteilung des hiesigen politischen Systems obsolet. Das lapidare Argument, die Strafverfolgung nach § 129b liege im Interesse der Bundesrepublik, belegt zweifelsfrei, daß es sich um politische Prozesse gegen Linke handelt, in denen rechtsstaatliche Prinzipien ausgehebelt werden.

Prozeßstrategie und Öffentlichkeitsarbeit
Da der Verteidigung in politischen Prozessen weitgehend die Hände gebunden sind, stellt sich grundsätzlich die Frage nach ihrer Rolle und ihren Einflußmöglichkeiten in derartigen Strafverfahren. Angaben der Anwältinnen zufolge wurden im Stammheimer Prozeß gegen vermeintliche Mitglieder der DHKP-C von der Verteidigung zwischen 65 und 70 Anträge gestellt, von denen nur zwei oder drei stattgegeben wurde. Die Begründungen der Ablehnungen seien rechtlich nicht mehr nachvollziehbar gewesen, diese Verfahren mit der Rechtsordnung der Bundesrepublik unvereinbar. Im normalen Strafverfahren müsse fast alles bewiesen werden, hier werde alles unter die Mitgliedschaft in einer Organisation gefaßt. Was immer die Verteidigung an Gegenbeweisen vorlege, werde von den Gerichten unter Verweis auf die Gesamtschau verworfen. Obgleich ein entsprechender Verlauf auch im aktuellen Prozeß gegen Musa Asoglu zu erwarten ist, wird die Verteidigung nach eigenem Bekunden nicht aufgeben, selbst wenn ihre Anträge zehnmal und hundertmal abgelehnt werden.
Zugleich dürften die Unterstützerinnen und Unterstützer aber auch auf der Straße nicht aufgeben. Es gelte, noch mehr Menschen für diese Form der Repression zu interessieren. Gelinge es nicht, die Öffentlichkeit aufzurütteln, könne man die Flinte gleich ins Korn werfen, was keine Option sei. Da der Paragraph 129b höchstrichterlich für verfassungsgemäß befunden wurde, könne es argumentativ nicht um diese Schiene gehen. Vielmehr biete es sich an, angesichts der politische Lage in der Türkei zu fordern, daß dieser Paragraph nicht in bezug auf dieses Land angewendet werden darf. Man sollte die Verfahren dazu nutzen, die Verfolgungsermächtigung als solche anzugreifen und in diesem Sinne um Unterstützung in der Öffentlichkeit kämpfen.
Ein Diskussionsbeitrag aus dem Plenum ging ebenfalls von einer kritischen Masse in der deutschen Bevölkerung gegen das Erdogan-Regime aus und schlug als weitere Stoßrichtung eine Kampagne gegen die Aufhebung der Gewaltenteilung vor. Mit Blick auf die Wirksamkeit jeglicher Kampagne im Kontext politischer Prozesse gab ein anderer Diskutant zu bedenken, daß dabei im Unterschied zu G20 die Solidarität deutscher UnterstützerInnen eher spärlich ausfalle. Auch bei Verfahren gegen kurdische Gefangene seien vor allem deren eigene Zusammenhänge präsent. Es gelte daher zu untersuchen, warum die Zusammenarbeit zwischen der deutschen und migrantischen Jugend hier relativ schwach ausgeprägt ist. So unverzichtbar die Kampagne sei, harre dieses Manko doch einer Bewältigung, um stärkere Wirkung in der Öffentlichkeit zu entfalten.
Foto: © 2018 by Schattenblick
Fußnote:
[1] freemusablog.wordpress.com/
Berichte und Interviews zur Konferenz „Freiheit für Musa Asoglu“ im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → POLITIK → REPORT
BERICHT/305: Politische Gefangenschaft – am Beispiel Musa Asoglu … (SB)
INTERVIEW/398: Politische Gefangenschaft – ungleich im Namen des Rechts … Apo im Gespräch (SB)
25. Februar 2018

http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0306.html