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Berlin: „Es ist der Traum von kollektiver Verantwortung füreinander“

Im Interview mit Telepolis äußern sich die Bewohner*innen der Liebig34 erstmals ausführlich. Liebig34 gilt als die zur Zeit militanteste linke Gruppe in Deutschland und definiert sich anarcha-queer-feministisch.

Die linksradikale und radikalopppositionelle Szene in Berlin, Leipzig und Hamburg wird zur Zeit dominiert von der Furcht vor Räumungen der bekanntesten Haus- und Wohnprojekte, vor allem in den Szene-Kiezen Neuköllns und Friedrichshains, die sich allmählich zu Hipster-Hochburgen wandeln.

Neben der Rigaer94 ist die Liebig34 das in ganz Europa bekannteste Projekt (es wohnen nur Frauen, Trans* und „Nicht-Cis-Männer“/Nicht-Binäre/Transgender dort) und wird offensiv unterstützt von Anarchafeministinnen aus Südamerika „from the end of the world“. Aber auch in der linken Szene ist das Haus und seine Ausrichtung nicht ganz unumstritten, auch in Bezug auf die Art und Weise der militanten Aktionen, die es in dieser Form seit den 1990ern in Deutschland kaum mehr gab. Die Polizei Berlin hält die Gruppe oder das Umfeld für Dutzende schwerer Straftaten verantwortlich, Behörden kritisieren teils offene Aufrufe zur Gewalt. Eines ihrer poetisch-romantischen Motti heißt: „Unseren Hass könnt ihr haben, unser Lachen kriegt ihr nie“.

Die Liebig34 soll in nächster Zeit zwangsgeräumt werden – wie auch die feministische Wagenburg an der Rummelsburger Bucht und das Traditions-Jugendzentrum Potse/Drugstore am Schöneberger Queer- und Multikulti-Kiez. Im Moment werden noch juristische Möglichkeiten ausgeschöpft, Aktionen sind angekündigt. Bei vorherigen Aktionen gab es unter anderem Brandsätze in Gerichten, Stürmungen von Gerichtssälen oder Serien von Dutzenden Brandanschlägen.

Liebig34 gilt daher nicht nur den Sicherheitsbehörden als sehr gut vernetzte, mit Abstand militanteste linke Gruppe in Deutschland und Mitteleuropa. Teile der linken Szene lehnen ihre Aktionen und ihre strikt anti-sexistische Ausrichtung ab, auch in Teilen der Linkspartei und des rot-rot-grünen Senats in Berlin gibt es seit Jahren sehr heftigen Streit über den Umgang mit Liebig34, die sich als anarcha-queer-feministisch betrachten.

Der Anarchafeminismus ist eine politische und soziale Ausrichtung, die ansonsten nur in Südamerika (vor allem in Bolivien und in Brasilien) und in Spanien und Katalonien sehr verbreitet ist und auf eine dort regional extrem große Unterstützung in der Gesamtbevölkerung zählen kann, auch im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, Alltags-Sexismus, tödliche Armut und Ausbeutung durch Lohnarbeit.

Der Twitter-Account der Liebig34 wurde vor kurzem gesperrt. Die Gründe sind unklar. Unter anderem die Hollywood-Autorin und Hamburger Bestseller-Autorin Cornelia Funke (u.a. „Tintenherz“) setzte sich für den Erhalt u.a. von Liebig34 in der Initiative „Kein Haus weniger!“ ein.

Was sind Eure Befürchtungen für die nächste Zeit, was die Existenz der Liebig34 betrifft?

Liebig34: Wir haben Angst, dass unser Kollektiv aus den Räumen unseres Hausprojekts der Liebigstraße34 geräumt wird. Da unser Pachtvertrag im Januar 2019 ausgelaufen ist, leben wir seitdem mit einer ungewissen Zukunft. Wir haben beschlossen die Räume nicht zu verlassen und für den Erhalt des Projektes zu kämpfen. Gerichtsurteile wurden gegen uns gesprochen und unser Kollektiv soll wohl in naher Zukunft zwangsgeräumt werden.

Was bedeutet das denn für euer persönliches Leben?

Liebig34: Wir werden, wie so viele Menschen tagtäglich, zwangsgeräumt. Wir haben dann keinen Wohnort mehr und wir haben keinen Raum mehr, in dem wir unser anarcha-queer-feministisches Projekt weiter leben können. Eine Räumung wird ein heftiger und traumatischer Einschnitt in unseren Leben sein. Jede* von uns kämpft aber momentan gegen diese Räumung und die Leben drehen sich auch viel um unseren feministischen Widerstand.

Nun gab es vorletztes Wochenende in Berlin eine der größten linken Demos seit langem in Deutschland zur Solidarität mit Liebig34. War die letzte Demo in Neukölln ein Erfolg? Das Syndikat, eine linke Szenekneipe am Tempelhofer Feld, wurde trotzdem geräumt. Es gab sehr massive Gewalt wie seit langem nicht, letzten Donnerstagabend und dann Freitag früh, als der Gerichtsvollzieher kam …

Liebig34: Die Demo am 01.08. war ein Erfolg, da es ein wichtiger Schritt war aus der Defensive zu kommen. Es wurde gezeigt, dass wir nicht nur darauf reagieren, wenn uns unsere Räume genommen werden, sondern auch Muster durchbrechen und selbstbestimmt Widerstand leisten. Ja, das Syndikat wurde trotzdem geräumt. Aber wir müssen die Entwicklungen in einem Großen und Ganzen betrachten. Viele Leute haben ihre Wut auf die Straße getragen und werden das in Zukunft weiter tun. Diese Ungerechtigkeiten werden nicht unbeantwortet und widerstandslos passieren. Wir werden zu einer realen Bedrohung.

Aber was werft Ihr dem (linken) Berliner Senat vor?

Liebig34: Eigentlich werfen wir dem Berliner Senat gar nichts vor, denn wir erwarten auch nichts von denen. Es ist so viel Scheiße passiert und dafür ist der Berliner Senat verantwortlich – sei es die Räumung der Geflüchtetenbesetzung in der Ohlauer Straße, sei es die Vertuschung und Kleinhaltung des ganzen Komplexes um die rechten Anschläge in Neukölln. All die Versprechungen, gegen den Ausverkauf der Stadt vorzugehen oder eine queerfreundlicheres Berlin zu gestalten, sind leere Phrasen. Der Senat macht sich seit langem zum Spielball von Investor*innen und Immobilienhaien.Die Polizei könnte Befehle verweigern.

Und vertraut ihr deutschen Gerichten noch? Leben wir in einem Rechtsstaat?

Liebig34: Es wäre polemisch zu sagen, dass wir hier in Deutschland in keinem Rechtsstaat leben. Wir leben in Zeiten, in denen Menschen wie Erdogan, Orban oder Trump regieren. Aber natürlich trägt Deutschland eine riesengroßen Teil dazu bei, dass in anderen Ländern der Rechtsstaat ausgehebelt werden kann. Das können wir nicht übersehen. Wenn wir uns also als Teil dessen sehen, müssen wir an deutsche Gerichte und dessen Rechtsstaatlichkeit zweifeln.

Bereitet ihr euch auf die Räumung vor?

Liebig34: Natürlich. Wir bereiten uns auf verschiedenen Ebenen auf eine Räumung vor und mobilisieren ja auch jetzt schon zu aktivem Widerstand, um eine Räumung zu verhindern.

Mit was muss die Polizei rechnen?

Liebig34: Jede Räumung hat ihren Preis und den muss auch die Polizei zahlen. Diese Institution ist ein signifikanter Auswuchs des kapitalistischen Patriarchats. Sie sind das ausführende Organ, das die Räumung durchführen wird. Sie waren es, die das Syndikat geräumt und Menschen mit Knüppeln weggeprügelt haben. In einer Welt, in der uns Selbstbestimmung und Wiederaneignung von Produktionsmitteln verunmöglicht wird, ist die Polizei zentraler Angriffspunkt für antiautoritären und antikapitalistischen Widerstand. Das sehen wir gerade weltweit und das ist auch hier der Fall.

Habt ihr Mitleid mit Polizist*innen?

Liebig34: Nein. Die Polizist*innen haben sich ihren Job ausgesucht und obwohl sie eigentlich tagtäglich damit konfrontiert werden, dass Menschen Angst vor ihnen haben, um ihr Leben bangen, wenn sie die Polizei sehen oder sie verachten, weil sie sie nicht als „Freund und Helfer“ sehen, bleiben sie in diesem Beruf. Das ist eine Entscheidung aus Überzeugung. Und diese Überzeugung steht konträr zu unseren Ideale einer befreiten Gesellschaft. Wir haben ja auch kein Mitleid mit Großinvestoren, die Leute zwangsräumen lassen und nur Platz für Reiche schaffen. Die Polizei übernimmt diese Drecksarbeit und nicht selten finden sie diese Gewaltausübung auch richtig geil. Sie könnten Befehle verweigern.

Vielleicht wäre die Polizei menschlicher, wenn es mehr Beamtinnen und Transpeople dort gäbe?

Liebig34: Wir lehnen die Polizei als Institution ab und da hilft es nicht, sich auf Einzelfälle zu fokussieren. Die Polizei übt patriarchale Gewalt aus und das auch innerhalb ihrer eigenen Kreise. Da helfen keine Individuen, die die Quote stellen. Außerdem ist es fatal zu denken, dass eine Frau per se menschenfreundlicher ist. In den höchsten Rängen der AfD tummeln sich Frauen, die besonders gewaltvolle und menschenfeindliche Politik betreiben.

Und in welcher politischen Tradition seht ihr euch denn eigentlich? In der der deutschen Linken oder eher eines herrschaftsfreien Internationalismus, der zuvörderst die Rechte von Frauen berechtigterweise in den Mittelpunkt stellt?

Liebig34: Unser Kollektiv ist sehr divers und international. Das heißt die unterschiedlichsten Menschen treffen aufeinander. Wir können da schwer von einer gemeinsamen politischen Tradition sprechen. Wir verorten uns (mehr oder weniger) alle als Anarchist*innen, Queers und Feminist*innen und führen gerade in diesen Bereichen durchwegs Diskussionen, um uns auch zu positionieren.

Frauen und Transpeople werden weltweit weiterhin ausgebeutet, unterdrückt, ermordet – was sagt Ihr den Männern als Botschaft, die das machen, akzeptieren oder wegsehen?

Liebig34: Als Queer-Feminist*innen wollen wir uns nicht so sehr auf Täter fokussieren, sondern darauf, uns mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt, Unterdrückung und Diskriminierung zu solidarisieren, zu organisieren und gemeinsam zurückzuschlagen.

Bei all den Verbrechen, die Frauen in der Geschichte angetan wurden – sollten Frauen mehr Rechte bekommen als Männer, als Gutmachung … denn auch heutige, nicht-sexistische Männer profitieren ja von den „alten“ Verbrechen der Männer?

Liebig34: Es geht uns nicht um die gleichen „Rechte“ oder um eine Gleichstellung á la gleiche Löhne für alle. Es geht uns um die Abschaffung des Patriarchats. Eine kapitalistische Gesellschaft fußt auf dem Patriarchat, also einer hegemonialen Männlichkeit. Wir wollen das wir frei von Gender bzw. Geschlechtern leben und frei von Unterdrückung von FrauenLesbenInter- und Transpersonen strukturell, aber auch im Privaten. Außerdem streben wir eine herrschaftsfreie Gesellschaft an, in der nicht einzelne privilegiert werden und Macht über andere ausüben.

Mal ganz naiv gefragt: Welches sind die Stärken von Frauen, die Männer nicht haben können?

Liebig34: Das ist eine schwierige Frage. Wir kämpfen ja auch gegen die Binarität dieser Gesellschaft an, das heißt, dass wir in strikten Kategorien von zwei Geschlechtern denken. Queerfeminist*innen kämpfen ja dafür, dass anerkannt wird, dass Geschlecht durch die Gesellschaft geschafften wird. In einer befreiten Gesellschaft gibt es diese Schubladen nicht mehr. Das versuchen wir auch schon jetzt zu leben.

Aber sollten Männer denn weiblicher werden? Warum ist es weiterhin verpönt, dass Heten-Männer Gefühle zeigen, schwach sind, pink lieben, Make-up tragen, putzen, bedienen, high-heels anziehen?

Liebig34: Gerade auch in Zeiten eines rechten Backlash und einer Zunahme von konservativen Einstellungen, wird wieder auf eine stark patriarchale Gesellschaftsordnung zurückgegriffen. Das geht einfach von starren Charakterzügen und Verhaltensmuster aufgrund von Geschlecht aus. Die Vorherrschaft des Cis-Mannes fußt darauf, dass ihm Stärke und Macht zugeschrieben wird. Schwächen werden eher den Nicht-Männern zugeschrieben, sodass sie eben unterdrückt werden. Es verwundert nicht, dass in einer Zeit der autoritären Formierung eben auch „schwache Männer“ verpönt sind.

Die Geschichte des aufgeklärten Feminismus ist die großartigste der Welt … Frauen haben durch eigene Kämpfe ihre Leben zurückerobert … Was muss noch geschehen?

Liebig34: Gerade in den internationalen Kämpfen, zum Beispiel in Südamerika, können wir so viel von den Feminist*innen lernen. Auch in der Vergangenheit der Frauen*bewegungen können wir uns Scheiben abschneiden. Gerade in Deutschland wird der Feminismusbegriff häufig aufgeweicht. Da wünschen wir uns eine klarere antirassistische und antikapitalistische Haltung, die auch konfrontativ ist. Wir brauchen keinen Kuschel-Feminismus. Die Vorherrschaft des weißen Cis-Mannes ist eine reale Bedrohung, die Menschen weltweit auslöscht. Das muss uns bewusster sein.

Die Hälfte der Welt den Frauen, die Hälfte der Hausarbeit den Männern, so ein alter Slogan … Warum nicht die ganze Welt? Warum nicht die ganze Hausarbeit den Männern? Wäre es nicht Zeit für eine komplette Umkehrung dieser Zwangsstrukturen in Haushalten? Putzen zum Beispiel gilt als „weiblich“, eigentlich absurd …

Liebig34: Die Zwangsstruktur ist nicht der Haushalt per se, sondern das, was die Gesellschaft aus diesem sozialen Ort macht. Genauso verhält es sich mit Geschlechterrollen. Es ist also nicht das Ziel, Rollen umzukehren, sondern diese völlig aufzuheben. In einer befreiten Gesellschaft würde Arbeit im Haushalt wahrscheinlich genauso wichtig sein, wie der Bau eines Hauses. Es geht um das Verändern des großen Ganzen, nicht einfach um Umkehr innerhalb den Mauern des Systems.

Was heißt Gentrifizierung für euch?

Liebig34: Gentrifizierung ist Verdrängung. Berlin wird eine Stadt, in der nur noch reiche Menschen wohnen können und von der auch nur die Oberschicht profitieren kann. All die Menschen, die nicht in dieses Bild passen, sollen aus den Innenstädten verschwinden, werden unsichtbar gemacht oder aktiv von der Polizei aus dem öffentlichen Raum vertrieben. Das ist auch an unserem Beispiel sichtbar. Gentrifizierung ist ein Mechanismus in der kapitalistischen Verwertungslogik. Es ist Unterdrückung und macht uns wütend. Es ist ein riesengroßes Problem hier in Berlin und zieht sich auch durch unser Viertel. Nachbar*innen werden zwangsgeräumt, Freund*innen müssen mehr Jobs annehmen, um die Miete zu bezahlen und nach und nach ziehen die Menschen, die diese Kieze gestaltet haben, weg. Menschen, die in dieser Straße seit Jahrzehnten leben, können es sich nicht mehr leisten, oder haben auch all die Orte verloren, die für sie den Kiez ausgemacht haben.
Nicht nur in Berlin, auch in Buenos Aires, Madrid, Barcelona, Lissabon, Florenz oder Los Angeles …

Ja, aber kann sich denn jeder Eurem Kampf & Eurer Lebensweise anschließen? Was erwartet ihr von Cis-Männern?

Liebig34: Na klar. Alle Menschen, die sich unserem Kampf anschließen wollen, sind willkommen. Cis-Männer sollten sich mit ihrer eigenen Position in der Gesellschaft auseinandersetzen und sich selbst reflektieren. So wie aber auch andere Personen.

Eure Aktionen sind cool, provokant, energiegeladen – woher nehmt Ihr die Kraft?

Liebig34: Wir versuchen immer, auch eine feministische Praxis zu haben. Das heißt auch miteinander und durcheinander Kraft zu schöpfen. Wir reden über unsere Ängste und versuchen, diese gemeinsam aus dem Weg zu schaffen oder eben auch diese zu respektieren. Natürlich klappt das alles auch nicht immer perfekt und wir müssen auch echt viel ausdiskutieren und auch mal streiten. Aber das gehört eben auch dazu. Die Unterstützung von außen, von so vielen Menschen, Gruppen, Strukturen macht auch Mut und zuletzt treiben uns natürlich unsere Überzeugungen an, und unsere Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Habt ihr denn Vorbilder in eurem feministischen Kampf und selbstbestimmten Leben? Auch aus der Popkultur?

Liebig34: Ach, da gibt es so viele. Wir reden und idealisieren so häufig feministische Kämpfer*innen, sei es Partisan*innen, Schriftsteller*innen oder auch einfach mal eine Popsängerin. Da können wir nicht von dem einen Vorbild reden. Uns inspirieren und empowern echt einige Menschen. Sich historisch mit feministischen und revolutionären Kämpfen auseinanderzusetzen, gibt uns auch Hoffnung und Mut. Und dann haben wir auch einfach mal Bock, zu Beyoncé zu tanzen und über die neusten Modetrends zu diskutieren.

Der Neonazi-Mord an der Sex-Arbeiterin Beate Fischer in der Berliner Residenzstraße war reine Barbarei von Cis-Männern … Warum lernen Cis-Männer nicht daraus?

Liebig34: Es war eine Barbarei von Neonazis. Femizide werden immer unsichtbar gemacht. Es wird von Beziehungstaten und Einzelfällen geredet. Aber dass dies Resultate von einem auf Gewalt basierten System sind, kommt selten. Cis-Männer werden vom System in eine unterdrückende Rolle gestellt und Morde wie diese sind Ausdruck dieser Gewalt. In anderen Kontexten ist das ein viel größeres Thema, zum Beispiel in Mexiko gibt es regelmäßig kraftvolle Proteste gegen diese Femizide.

Der Anarchafeminismus ist in Südamerika, aber auch in Süditalien und Südspanien recht verbreitet und sehr kraftvoll und wütend. Wie erklärt Ihr euch das?

Liebig34: Wir leben in einem kapitalistisch weit fortgeschrittenen Staat, mit einem klaren Fokus auf Law&Order. Möglichkeiten für anarchistische Selbstorganisierung und Lebensräume werden auf ein Minimum reduziert. Auch in Berlin. In Lateinamerika gibt es andere Möglichkeiten, aber auch eine lange Tradition antiautoritärer, feministischer und anarchistischer Kämpfe.

Was bedeutet für Euch Anarchafeminismus?

Liebig34: Anarchafeminismus ist kein festgesetzter Begriff und keine festgelegte Theorie. Wir orientieren uns an einem antiautoritären Feminismus, der hierarchiefrei sein soll. Da grenzen wir uns schon von anderen Feminismen ab. Wir leben selbstverwaltet und selbstorganisiert, also ganz nach einem anarchistischen Do-It-Yourself Ansatz. Wir verwalten also auch unser Haus selbst und versuchen, uns so weit es geht ohne Staat zu organisieren.

Ihr wirkt und Ihr seid kämpferisch, Ihr definiert Feminismus cool … In Friedrichshain kursieren auch Shirts mit dem lila Schriftzug „Antisexistische Pöbelaktion“. Können eigentlich auch Queere bei euch mitwirken oder gar leben, die eher scheu sind und lieber im Hintergrund für Eure Ziele arbeiten, zum Beispiel im Haushalt, wie in matriarchalischen Provinzen Mexikos?

Liebig34: Ich weiß jetzt nicht wie das in den matriarchalischen Provinzen Mexikos ist. Bei uns sind viele verschiedene Charaktere und wir versuchen, die Klischees und gesellschaftlichen Zuschreibungen auch aufzubrechen. Wir sind nicht nur die starken feministischen Kämpfer*innen, sondern auch verletzlich und ängstlich. Im Kampf um die Verteidigung unseres Hauses gibt es auch verschiedene Arbeiten, da ist die emotionale Arbeit, die Sorgearbeit, kreative Arbeit und und und. Das versuchen wir alles gleichwertig zu behandeln und anzuerkennen.

Man/n wirft Euch Gewalt vor. Was ist Euch für euch Gewalt und was berechtigter Widerstand gegen das Patriarchat?

Liebig34: Patriarchale Gewalt wirkt tagtäglich auf uns ein. Wir haben eine jahrhundertelange Geschichte von Unterdrückung marginalisierter Menschen hinter uns und auch jetzt passieren unsagbare Dinge. Das alles erfordert Gegengewalt. Es sollte unsere Pflicht sein, gerade auch in diesen düsteren Zeiten, Widerstand zu leisten und aufzubegehren. Solange das Patriarchat nicht zerstört ist, ist Widerstand notwendig.

Was lief in der Geschichte der Linken schief? Warum wurden Frauenrechte oft ausgeklammert? Wobei der Begriff „Frauenrechte“ fast schon beleidigend ist, da diese ja selbstverständlich sein sollten …

Liebig34: Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass „links“ zu sein, nicht bedeutet, frei von Vorurteilen und Machtstrukturen zu sein. Das zeigt sich sowohl in Bezug auf die Rolle von Frauen*, aber auch in der Bezugnahme auf die Kämpfe und Existenzen von Schwarzen Menschen und People of Color. Selbst in revolutionären Kämpfen haben Cis-Männer die unterdrückende Rollenvorstellung von „der Frau am Herd-der Mann im Kampf“ reproduziert. Andersrum erleben wir auch, dass feministische Kämpfe angeeignet werden, anstatt mit den Betroffenen zusammenzuarbeiten. Das war früher so und ist heute so.

Verhaltensregeln für Männer in Lebensräumen von Frauen gibt es ja in vielen FLINT-Projekten berechtigterweise. Welche sind die wichtigsten? Auch Blicke oder kleine Äußerungen können ja Gewalt sein …

Liebig34: Naja, es ist schwer von Verhaltensregeln zu sprechen. Es sind ja häufig Vorschläge, die Cis-Männer ernst nehmen sollten, wenn sie wirklich Verbündete sein wollen. Da ist das Wichtigste auf jeden Fall eine ehrliche Selbstreflektion und Achtsamkeit. Wenn sich ein Typ auf einer Party aufdringlich verhält und mit seinem sexistischen Verhalten konfrontiert wird, sollte er eine solche Kritik annehmen und sich dementsprechend anders verhalten können. Dann wäre ja auch alles ok. Wenn das nicht geschieht, muss dagegen eben vorgegangen werden.
In der Gesellschaft, in der wir leben, die auf Gewaltausübung und Machtdynamiken basiert, üben wir alle auch Gewalt und Macht aus. Das in sich zu sehen und daran zu arbeiten ist nicht nur für Cis-Männer wichtig. Für diese Selbstreflektionen versuchen wir, Rahmen zu schaffen, auch damit wir uns als Betroffene vom Patriarchat sicher und handlungsfähig fühlen.

Welche Verhaltensweisen von Cis-Männern im Alltag sind einfach zum Kotzen? Welche Äußerungen könnt iIr nicht mehr hören? Welche Wörter?

Liebig34: Alltagssexismus ist zum Beispiel immer noch ein Riesenthema. Da kannst du aus einem feministischen Hausprojekt rauslaufen mit einem kurzen knappen Rock und wirst immer noch angebaggert, kommentiert und sexualisiert. Das ist auch unsere Realität und wirft auch echt immer wieder aus der Bahn. Da kommen nicht immer die guten konfrontativen Sprüche, sondern häufig will man sich wieder in sein Schneckenhäuschen verkriechen. Das und so vieles hat uns ja auch dazu gebracht, uns ohne Cis-Männer zu organisieren und Schutzräume mitzugestalten.

Der Anarchismus ist in Nordeuropa kaum bekannt – im Gegensatz zu Spanien oder Bolivien etwa. Wie erklärt Ihr euch das?

Liebig34: Anarchismus war und ist in Nordeuropa auch ein Thema, nur vielen Leuten ist nicht bewusst, wo überall anarchistischer Input drinsteckt. Zum Beispiel der Streik als Druckmittel ist jetzt Normalität, ist aber aus einer anarchistischen Analyse entstanden. Der Begriff des Anarchismus wird an vielen Orten unsichtbar gemacht, weil er eine reale Bedrohung ist und war.

Aber wie definiert Ihr denn Anarchismus?

Liebig34: Anarchismus bedeutet, sich abseits von Staat und Kapital zu organisieren und ein Leben aufzubauen, in dem wir kollektiv und selbstbestimmt leben und zusammen aushandeln, welche Bedürfnisse wir haben und was wir als einzelne dazu beitragen, damit diese Bedürfnisse erfüllt werden. Es heißt für uns, alles abzulehnen, was uns unterdrückt, und aufzubauen, was uns davon befreit. Das machen wir jetzt schon konkret, zum Beispiel in unserer kollektive Hausgemeinschaft.
Wir können auch versuchen, das ganz simpel runterzubrechen: Anarchismus ist die Idee einer befreiten Gesellschaft ohne Hierarchien und Autoritäten. Es ist der Traum von kollektiver Verantwortung füreinander und nicht für eine individuelle Befreiung von einzelnen „Gewinnern“. Also kann Anarchismus eigentlich nur feministisch sein.

Marcel Malachowski

Website: https://www.heise.de/tp/features/Es-ist-der-Traum-von-kollektiver-Verantwortung-fuereinander-4868571.html?seite=all