Berlin: Razzien von 560 Polizisten und SEK-Beamten in linken Hausprojekten
Von Michael Merz junge Welt 16.11.18
Im Morgengrauen stürmten am Donnerstag gegen sechs Uhr SEK-Beamte, teilweise ausgerüstet mit Sturmgewehren, und Bereitschaftspolizisten mit schwerem Gerät linke Wohnprojekte in den Berliner Bezirken Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln. 560 Beamte waren insgesamt mobilisiert worden.
Der größte Einsatz fand in der Rigaer Straße 94 statt. Noch Stunden nach der Erstürmung des Hauses im alternativ geprägten Nordkiez von Friedrichshain – gegen 8 Uhr, als Eltern ihre Kinder in die Kita brachten und Grundschüler auf dem Weg zum Unterricht waren – blieben die Straße und der Fußweg von vermummten und behelmten Polizisten sowie etlichen Mannschaftswagen abgesperrt. Anwohner konnten sich nur in Begleitung von Beamten bewegen.
Anlass des Polizeieinsatzes soll ein Vorfall im Mai 2018 in einem Spätkauf in Berlin-Kreuzberg sein, der Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung nach sich zog. Aufzeichnungen einer Überwachungskamera von einer handgreiflichen Rangelei, die inklusive Ton auf Bild online zu sehen sind, sollen diesen dokumentieren. Mehrere vermummte Personen sind darauf in einer Auseinandersetzung mit einem Verkäufer zu sehen. Letzterer strauchelt, geht zu Boden, mehrere Weinflaschen fallen aus den Regalen und zerbrechen. »Einige Verdächtige haben wir in den durchsuchten Objekten angetroffen«, sagte ein Polizeisprecher laut dpa am Donnerstag. Die Staatsanwaltschaft prüfe nun, ob Haftbefehle beantragt werden. Auf Twitter teilte die Berliner Polizei zudem mit, dass Beweismittel zum Verfahren gefunden worden seien. Innensenator Andreas Geisel (SPD) bezeichnete den Einsatz als »Ermittlungen im kriminellen Milieu«. Er habe keine politischen Gründe, betonte Geisel im Inforadio des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Ziel sei es, Regeln durchzusetzen, die für alle gelten.
Aktivisten und Anwohner in der Rigaer Straße vermuten jedoch einen anderen Hintergrund für den Großeinsatz der Polizei. Nachdem der frühere Innensenator Frank Henkel (CDU) Friedrichshain monatelang regelmäßig zum Aufmarschgebiet polizeilicher Einsatzkräfte gemacht hatte und repressive Maßnahmen wie Personenkontrollen an der Tagesordnung waren, blieb es unter dem neu gewählten Senat aus SPD, Die Linke und Grünen seit Ende 2016 relativ ruhig. Das wird sich voraussichtlich in Kürze ändern, da in dem Haus Liebigstraße 34, in dem sich ein laut Eigenbezeichnung »selbstverwaltetes, anarcha-queer-feministisches Hausprojekt« befindet, der Pachtvertrag im Dezember ausläuft. Der Eigentümer, die bei vielen Berliner Mietern berüchtigte Unternehmensgruppe Padovicz, ist offenbar nicht bereit, diesen zu verlängern. Die Bewohnerinnen des Hauses haben bereits Widerstand gegen eine etwaige Räumung angekündigt. Die Machtdemonstration der Polizei am Donnerstag lässt befürchten, dass die Beamten wieder häufiger im von weitgehender Gentrifizierung betroffenen Friedrichshain durchgreifen werden.