Wir veröffentlichen die Rede von Lina, organisiert bei Waffen der Kritik, die am 16. Dezember auf der Demonstration „Freiheit für Palästina“ in Münster gehalten wurde.
Seit dem 7. Oktober ist mein Leben auf den Kopf gestellt. Das erste woran ich denke, wenn ich morgens aufwache, ist Gaza und auch den letzten Gedanken meines Tages widme ich Gaza. Gaza. Gaza. Gaza. Ich habe seit genau 70 Tagen Angst. Angst davor, noch grausamere Nachrichten zu bekommen, als die, die mir im Sekundentakt über den Bildschirm flimmern. Ich sehe Fotos von Leichen, von zerstörten Gebäuden und von Städten, die dem Erdboden gleich gemacht sind. Und mit jedem Bild, das ich sehe, hoffe ich, dass es nicht meine Verwandten sind.
Letzte Woche war es soweit. Letzten Samstag bin ich zur Demo gekommen und in dem Moment, an dem ich am Bahnhof ankam, erreichte mich eine Nachricht meines Vaters. Seine Tante schreibt, dass ihr Haus von vier Panzern umstellt sei und sie aufgefordert werden, sich zu ergeben. Ihr Haus steht im angeblich sicheren Süden Gazas in Khan Younes. Wie muss sich das anfühlen, dem Tod direkt ins Auge zu blicken? Während die Bomben um dich herum fallen, richten sich vier Panzer auf dich. Ich kann mir das nicht vorstellen.
In mir drin staut sich seit zwei Monaten die gesamte Wut aller Palästinenser:innen, ihre Verzweiflung und das nagende, äußerst starke Gefühl der Ungerechtigkeit. Denn während die Menschen in Gaza dem Krieg ausgeliefert sind, schreiben deutsche Medien noch immer, dass es zu früh sei, den Krieg zu beenden. Hinzu kommt die Militarisierung des deutschen Staates und ihre militärische Unterstützung Israels. Allein in diesem Jahr verzehnfachte sich die Zahl der Rüstungsexporte im Vergleich zum Vorjahr. Der Wert dieser Exporte stieg von 32 auf 303 Millionen Euro.
Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit ist sehr schwer auszuhalten. Das führt zu Wut, mit der man umgehen lernen muss. Was hilft? Die politische Organisierung, aber auch die Auseinandersetzung mit politischer Theorie und Praxis. Es ist wichtig, dass wir auf die Straße gehen und für ein freies Palästina kämpfen. Aber es sind auch andere Dinge, die tatsächliche Auswirkungen auf den Krieg haben können. Es sind vor allem die Arbeiter:innen, die etwas verändern können. So wie zum Beispiel die Hafenarbeiter:innen in Katalonien, die keine Waffenlieferungen mehr verschiffen wollen. In Belgien waren es Flughafenarbeiter:innen, die keine Waffen lieferten. In Italien blockierten 500 Arbeiter:innen den Hafen. In England waren es Arbeiter:innen, die Fabriken eines israelischen Rüstungskonzerns besetzten. In Indien riefen die 5 größten Gewerkschaften zum Boykott aller israelischen Güter auf. Es sind diese Beispiele, die uns zeigen, welche Macht die Arbeiter:innen der imperialistischen Länder haben. Es sind Arbeiter:innen, die die Kriegsmaschinerie ins Stocken bringen können.
Auch in Deutschland müssen wir innerhalb der Gewerkschaften für eine palästinasolidarische Position kämpfen. Denn Massenstreiks an deutschen Häfen und Flughäfen könnten der israelischen Kriegsmaschinerie wirksam in den Arm fallen.
Aber auch an den Unis tut sich was. Am Donnerstag haben Studierende der FU Berlin einen Hörsaal besetzt. Auch in mehreren anderen Städten, wie in München, in Leipzig, in Siegen, Göttingen und in Aachen haben sich Hochschulkomitees für Palästina gegründet. Am Dienstag haben wir auch ein Solidaritätskomitee an der Uni Münster gegründet, es heißt „Students for Palestine“. Wir wollen die Palästinasolidarität auch an die Unis bringen und den rassistischen Konsens brechen!
Der Kampf um ein befreites Palästina hört nicht auf, mit dem Ende des Kriegs in Gaza. Natürlich fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand und das Ende des Kriegs. Aber unser Kampf muss auch danach weitergehen, denn die Palästinenser:innen leben unter Besatzung, und das nicht nur in Gaza. In der Westbank wird der Siedlerkolonialismus immer weiter voran getrieben; die Gewalt der Siedler:innen gegen Palästinenser:innen nimmt immer weiter zu.
Wir müssen kämpfen für ein freies Palästina, in dem alle Menschen, unabhängig von ihrer Ethnie oder Religion leben können. Wir sind erst frei, wenn alle frei sind.
Und wenn wir hier gemeinsam Woche für Woche den Toten gedenken und für die Lebenden kämpfen, dann gibt mir das Hoffnung. Ich zitiere den palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish:
Und wenn du an die weit entfernten Anderen denkst, denke an dich selbst.
Sag: Ich will eine Kerze in der Dunkelheit sein.