18.10

Denn es ist ein Feind

Polizeifotos aus dem »Deutschen Herbst«: Arwed Messmers Bildband »RAF. No Evidence. Kein Beweis«
Von Jürgen Schneider junge Welt 14.10.17

Im Rahmen der Ermittlungen des Staatsschutzes zur Entführung des Berliner CDU-Chefs Peter Lorenz durch Aktivisten der Bewegung 2. Juni entstanden seit Februar 1975 rund 3.000 Fotonegative. Der Künstler Arwed Messmer »befreite« diese Archivalien aus dem Keller des Berliner Polizeipräsidiums und präsentierte 2016 einen Teil davon im großformatigen Bildband »Zelle/Cell«. Auf Bildlegenden verzichtete Messmer, um die Bereitschaft des Betrachters zu fördern, sie nicht als bloße Illustrationen zu sehen, sondern, wie es im Nachwort von Ines Lindner heißt, »sich auf die visuellen Bildenergien einzulassen«. Den im Kontext der Lorenz-Entführung entstandenen Fotos stellte Messmer in einer Art Prolog Aufnahmen vom 2. Juni 1967 voran. Lindner: »Die Bilder, die gemacht werden, sind Teil des Ereignisses. Mit erheblicher Verspätung werden sie klären helfen, was damals vertuscht worden ist: Der Polizist Kurras hat Ohnesorg unprovoziert erschossen.«

Zum 40. Jahrestag des sogenannten Deutschen Herbstes ist nun ein weiterer Bildband von Messmer erschienen: »RAF. No Evidence. Kein Beweis«. Dieser hebt sich ab von einer denunziatorischen Bewältigung der Geschichte der RAF, wie sie jüngst etwa der Journalist Arno Widmann oder der Filmemacher Andres Veiel in der Frankfurter Rundschau betrieben, oder der publizistische Generalstaatsanwalt in Sachen RAF, Wolfgang Kraushaar, in seinem neuen Buch »Die blinden Flecken der RAF«. Letzterer sieht in dem illegalen Kleben von Plakaten mit der Aufschrift »Amis raus aus Vietnam« eine Vorstufe der Guerilla. Nein, die damalige Bundesregierung, die das Bestreben der US-amerikanischen Politiker unterstützte, Vietnam »in die Steinzeit zurückzubomben« (so angeblich US-Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay), hätte gewiss keine Genehmigung zum Anbringen derartiger Parolen erteilt. Kraushaar hält es gar für wissenschaftlich, sich bei der Diskussion der Haftbedingungen der Gefangenen aus der RAF auf Berichte der Bild sowie des stellvertretenden Vollzugsleiters von Stammheim, Horst Bubeck, zu stützen. Auf die vielen Punkte, die Helge Lehmann in seinem Buch »Die Todesnacht von Stammheim« als ungeklärt auflistete, geht Kraushaar inhaltlich nicht ein. Ihm genügt, dass die Vertreter staatlicher Behörden sich nicht bemüßigt fühlen, dem weiter nachzugehen. Diese Sülze genügt zwar keinen wissenschaftlichen Ansprüchen, aber ein weiterer sich als »RAF-Experte« bezeichnender Vokativus, Stefan Aust, bewirbt sie auf dem Buchumschlag als »glasklare Analyse«. Deutschland im Herbst 2017.

Messmer hat für »RAF. No Evidence. Kein Beweis« Aufnahmen von Polizeifotografen in den großen deutschen Bundes- und Staatsarchiven gesichtet, recherchiert, gescannt und ediert. Er wirft mit dieser Arbeit die Frage auf, wie die einstige kriminalistische Spurensuche heute als künstlerische Recherche produktiv werden kann – im Sinne einer anderen Sichtweise auf diese Zeit. Messmer widmet sich der forensischen Perspektive der Spurensicherung von Tatorten, etwa an Anschlagsorten des Jahres 1972, in den entdeckten konspirativen Wohnungen der RAF-Akteure und in den Zellen der im Oktober 1977 in Stammheim zu Tode Gekommenen. Florian Ebner schreibt in seinem Begleittext »Alte Indizien, neue Bilder«: »Das Foto ist nicht mehr der Beweis dafür, was und wie genau etwas stattgefunden hat, sondern es wird von Messmer als Zeitzeugnis verstanden, das aus der Distanz heraus neu gelesen werden kann. Jenseits der ursprünglichen Perspektive des Fotografen hat sich ein Überschuss an Wirklichkeit ins Bild eingeschrieben. Die Fotografie wird im Licht der jetzigen Gegenwart zu einem anderen Dokument. Wir erfahren nicht nur etwas über die Vergangenheit, sondern auch über die spezifischen fotografischen Bildformen, die davon berichten.« Neben dem Überschuss sind da Leerstellen, die es herauszuarbeiten gilt.

Nach einem Happening für die Freilassung von Fritz Teufel am 9. August 1967 entstanden in einem Fotostudio der Berliner Polizei mehrere Aufnahmen. Zu den Personen, die auf den Bildern zu sehen sind, gehört Andreas Baader. Wir sehen einen ganz anderen Mann als den Schläger- oder Zuhältertypen, der uns seit Jahrzehnten medial vermittelt wird. Der abgebildete Baader wirkt schmächtig. Er trägt eine rote Jacke mit goldenen Knöpfen, hat die obere Hälfte seines Gesichts golden geschminkt, blickt freundlich in das Objektiv der Polizeikamera.

In seinem Buch »RAF oder Hollywood – Tagebuch einer gescheiterten Utopie« (Verlag zu Klampen) beschreibt der Ex-RAF-Akteur Christof Wackernagel seine erste Begegnung mit Andreas Baader im Stammheimer Gerichtssaal. Dieser erklärt: »Auf der Seite der Massen muss hier heißen, auf der Seite der Völker der Dritten Welt. Denn es ist ein Feind: die transnationalen Konzerne unter US-Hegemonie, die imperialistischen Militärbündnisse, denen das Proletariat in den Metropolen und die Völker der Dritten Welt gegenüberstehen.« Wackernagel: »Es war frappierend, wie anders er war, als er dargestellt wurde. Angeblich ein auftrumpfender Macho – sah ich mich einem zurückhaltenden, meist leicht spöttisch lächelnden, leise sprechenden Mann gegenüber, der sich bemühte, sein Lispeln nicht allzu deutlich werden zu lassen.«

Solche Beobachtungen ignorieren die selbsternannten RAF-Experten, weil sie nicht mit ihren der fortgesetzten kognitiven Dissonanzreduktion entspringenden Groschenansichten kompatibel sind. Und sie werden auch dem von Messmer dokumentierten Foto mit der Nummer 071 keine »Objektkontaktzeit« schenken, obwohl es viele Fragen zu den Ereignissen des 18. Oktober 1977 in Stammheim aufwirft. Das Bild zeigt den aufgebrochenen Sockelbereich in der Zelle Nummer 723 des Stammheimer Hochsicherheitstrakts. Die Bildlegende lautet: »Durch Hinweise von Informanten konnte ein Colt Kaliber 38 mit Munition im Sockelbereich der Zelle 723 sichergestelllt werden.« Zur Untermauerung der These vom Selbstmord der Gefangenen aus der RAF, die staatlicherseits bereits in die Welt gesetzt wurde, als die Gefangenen noch lebten, taugt das Bild nicht. Und was sagt uns Bild 78, das den Schallplattenspieler von Gudrun Ensslin zeigt, auf dem die LP »Desire« von Bob Dylan liegt? War »Hurricane« der letzte Song, den Ensslin hörte? In diesem Eröffnungssong des Albums besingt Dylan die Geschichte des seiner Meinung nach zu Unrecht inhaftierten schwarzen Boxers Rubin Carter, der in einem Indizienprozess nur knapp der Todesstrafe entging.