Seit Juni 2023 sitzt Kenan Ayas in Untersuchungshaft in Hamburg. Grund dafür ist der Paragraph 129b StGb, der eine Unterstützung oder Mitgliedschaft einer kriminellen und terroristischen Vereinigung im Ausland zum Straftatbestand erklärt. Die Umstände von Ayas’ Anklage und Inhaftierung in Deutschland haben einen langen juristischen Vorlauf und sind eng verwoben mit bilateralen und politischen Verhandlungen des türkischen Staats mit der EU. – Ein Kommentar von Esther Zaim.
Kenan Ayas lebte seit 2013 im griechischen Teil von Zypern und hat eine von brutaler staatlicher Repression geprägte Biografie. Ayas, der in dem kleinen Dorf Halaxe in der südöstlichen Provinz Mardin auf türkischem Staatsgebiet geboren wurde, war seit seiner Kindheit dem Staatsterror der Türkei ausgesetzt und musste in diversen Haftanstalten über lange Jahre schwerste Folter erleiden.
Bereits im Alter von 18 Jahren wurde er gemeinsam mit seinem 13-jährigen Bruder von der türkischen Polizei verhaftet und grausamster Folter in Haftanstalten in der südlichen Türkei sowie im Buca-Gefängnis von Izmir ausgesetzt. Aufgrund seiner kurdischen Identität und seinem politischen Aktivismus gegen die faschistischen türkischen Regierungen saß er 12 Jahre lang in türkischen Gefängnissen und musste schwerste psychische und physische Gewalt ertragen.
Ayas’ Geschichte ist die einer Jahrhunderte andauernden Kontinuität von Unterdrückung und systematischer Gewalt an Kurd:innen, Alevit:innen, Assyrer:innen, Jezid:innen und weiteren ethnischen und religiösen Minderheiten in Westasien.
Festnahme in Zypern
Von großen Protesten und einer breiten Solidaritätsbewegung in Zypern begleitet, wurde einem Auslieferungsgesuch der deutschen Generalbundesanwaltschaft von den zypriotischen Behörden stattgegeben. Diese nahmen Ayas im März 2023 in Larnaka fest und überstellten ihn nach dreimonatiger Inhaftierung an die deutschen Strafverfolgungsbehörden.
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm die Mitgliedschaft in der PKK vor, in deren Strukturen er verschiedene Führungspositionen in Norddeutschland besetzt haben soll. Die Anklagepunkte beinhalten keinerlei Beweise auf verübte Gewalttaten seitens Ayas’. Vielmehr geht es in dem am Oberlandesgericht (OLG) Hamburg geführten Strafverfahren um organisatorische Betätigungen und Reden für pro-kurdische Kundgebungen und Demonstrationen und das Organisieren von Lautsprecherwagen.
Des Weiteren soll Ayas zwischen 2018 und 2020 in engem Kontakt mit Personen gestanden haben, die für die deutschen Sicherheitsbehörden als Anhänger:innen der PKK gelten und somit als Mitglieder einer „ausländischen terroristischen Vereinigung“ einzuordnen seien.
Systematische Repression durch Paragraph 129
Derlei Gerichtsverfahren nach dem Paragraph 129b sind in der BRD keine Seltenheit und veranschaulichen den langen Arm der türkischen Regierung gegen die kurdische Befreiungsbewegung, der weit bis in das – vorgeblich so freiheitlich-demokratische – deutsche Justizsystem eingreift. Zurzeit laufen an deutschen Oberlandesgerichten über 10 solcher Prozesse, teils mit noch anhängigen Verfahren und teils schon abgeurteilten.
Der im Fall Kenan Ayas Anfang November 2023 am Hamburger OLG begonnene Prozess folgt hierbei bekannten Mustern: So sind die von der Staatsanwaltschaft in den Zeugenstand geladenen Personen Mitarbeiter:innen der deutschen Landesämter für Verfassungsschutz (LfV) oder Beamte des Bundeskriminalamts (BKA). Alle sind mehr oder weniger vertraut mit den Akten und der vorangegangenen Überwachung und Observation von Kenan Ayas. Auch ein Sachverständiger mit Expertise in dem Themenbereich Kurdistan und der Türkei ist zur Verhandlung vorgeladen.
In den bisherigen Verhandlungsterminen fiel auf, dass die Beweislast anhand der Zeugenaussagen äußerst wackelig und zweifelhaft erscheint: sie beinhalten keine stichhaltigen Beweise für kriminelle Handlungen und Betätigungen von Ayas, sondern bestehen eher aus Mutmaßungen und Hypothesen. Vielmehr erscheint die Beweisaufnahme wie die Verdeutlichung der aufwändigen und akribischen technischen Überwachung des Angeklagten durch das Bundeskriminalamt, um krampfhaft den Vorwurf krimineller Aktivitäten zu erzeugen und zu bekräftigen.
Auch scheinen die Methoden und Praxis für das Gewinnen sogenannter Quellen und Informant:innen, die den Angeklagten belasten und dem Verfassungsschutz zugänglich gemacht werden, undurchsichtig: Sicher – und auch offen zugegeben von den Strafverfolgungsbehörden – ist, dass Informant:innen und Vertrauenspersonen für erbrachte Auskünfte und Belastungen Geld erhalten. Starke Zweifel müssen auch in anderer Hinsicht bestehen bleiben, denn ob der ‘Wahrheitsgehalt’ dieser Informationen auf behördlichem Druck oder Androhung von Strafverfolgung beruht, bleibt im Unklaren.
Besonders auffallend ist bei den Vernehmungen der BKA- und Verfassungsschutzbeamten das ausgeprägte Aussageverweigerungsrecht, das fast bei jeder zweiten Nachfrage des Gerichts bezüglich Ayas oder Informant:innen beansprucht wird. So wird für die Öffentlichkeit immer abstruser und fragwürdiger, was dem Angeklagten vorgeworfen wird, wenn nicht einmal der Vorsitzenden Richterin dienstinternes Wissen von BKA und Verfassungsschutzämtern zugänglich gemacht wird. Der Eindruck eines Schauprozesses müsste sich bei dieser willkürlichen und schwammigen Beweisaufnahme spätestens jetzt für Beobachter:innen einstellen.
NATO-Länder als verlängerter Arm Erdoğans
Zurzeit hängt der NATO-Beitritt Schwedens von der Abstimmung und Ratifizierung durch das türkische Parlament ab. Die türkische Regierung als eine der größten Abnehmerinnen deutscher Rüstungsgüter weiß indessen, diese Umstände auch als Türsteher Europas zu nutzen. Die Migrationsbewegungen dienen dabei als vorzügliches politisches Erpressungsmittel, um die Strafverfolgung kurdischer Aktivist:innen in Europa voranzutreiben.
Der Hauptvorwurf der AKP-Regierung Erdoğans an Schweden besteht z.B. darin, dass mit der kurdischen Befreiungsbewegung und der PKK (kurdisch: Partiya Karkerên Kurdistanê, dt.: Arbeiterpartei Kurdistans) juristisch zu lasch umgegangen werde. Europa befindet sich somit in der Position einer Bittstellerin und bemüht sich in hohem Maße, das AKP-Regime durch entgegenkommende Angebote milde zu stimmen. Im Schatten dieser gewollten NATO-Erweiterung begeht die Türkei unterdessen ungeahndet schwerste Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in kurdisch besiedelten Gebieten. Jedoch erzeugen diese militärischen Belagerungen und Massaker an der Zivilbevölkerung in Europa keine Schlagzeilen.
Zeitgleich wird die kurdische Bevölkerung auch hierzulande mit Repression und Kriminalisierung überzogen, und es wird immer wieder am Exempel versucht, sie medial und mit staatlicher Gewalt in der Gesamtgesellschaft zu ächten: Willkürliche polizeiliche Hausdurchsuchungen und Razzien in kurdischen Vereinen, behördliche Einschränkungen und Verhinderungen von Demonstrationen, die Androhung von Abschiebung oder Sorgerechtsentzug stehen für kurdische Aktivist:innen oder politisch Verfolgte auf der Tagesordnung in diesem Einschüchterungssystem unseres vorgeblichen Rechtsstaats Deutschland.
Unterdrückung begann bereits in der Kindheit
Anfang Dezember 2023 verlas Kenan Ayas während eines Verhandlungstermins eine emotionale Prozesserklärung, worin all die Diskriminierungen und menschenrechtsverachtenden und zutiefst verstörenden Angriffe auf seine Person und auch sein familiäres und soziales Umfeld geschildert werden.
So beschreibt er die erdrückenden gesellschaftlichen und staatlichen Zwänge der türkischen Staatsdoktrin gegenüber kurdischem Leben. Schon kleinen Kindern wurde in der Vorschule das Sprechen der kurdischen Sprache untersagt und bei Missachtung dieser Vorgabe mussten sie mit schwerer Prügel rechnen. Auch herrschte ein Denunziant:innentum, demnach türkische Mitschüler:innen ihre kurdischen Mitschüler:innen maßregeln und an Lehrkräfte melden sollten.
Der Versuch, die gesamte kurdische Identität mit ihrer Sprache, ihren Bräuchen und ihrer Kleidung aus dem öffentlichem Leben und auch aus der Geschichte zu löschen, war ein staatlich forcierter Vorgang und wurde behördlich zielgerichtet umgesetzt. So beschreibt Ayas in seiner Erklärung:
„Den Kurdinnen und Kurden wird weder Politik, noch Kampf, noch Frieden zugestanden. Es ist sehr schwer, als Kurde zu leben. Kurz gesagt: das kurdische Volk ist ein unschuldiges Volk unter der Hegemonie von Nationalstaaten, das durch zahlreiche Massaker, Besatzung, Kolonialisierung, Assimilation, Genozid und Zwangsintegration in einem Umfeld ständiger Kriege an den Rand der Auslöschung gebracht wurde.“
Im weiteren Verlauf beschreibt er die zugespitzte Lage im Jahr 1993, das noch einmal eine besondere Zäsur für die kurdische Bevölkerung auf türkischem Staatsgebiet in der jüngsten Geschichte darstellte:
„Fast 4.000 kurdische Dörfer wurden niedergebrannt und zerstört. Millionen Dorfbewohner wurden ohne jede rechtliche Grundlage zwangsumgesiedelt. (…) Tausende von Menschen wurden von Dorfschützern, der JİTEM und der Hizbullah ermordet. Tausende Menschen wurden in Säurebrunnen geworfen. Tausende Menschen wurden brutal auf der Straße ermordet, mit der Schweinefessel getötet und in Kellern begraben. Tausende von Menschen wurden offen in Gewahrsam ermordet. Zehntausende von Menschen wurden ohne Anklage inhaftiert.“
Solidarität in Zypern und Deutschland
Rund um den Prozess von Kenan Ayas hat sich seit seiner Festnahme in Zypern dort ein breites Bündnis aus internationalen Menschenrechtsbeobachter:innen und Prozessbegleiter:innen namens kenanwatch gegründet. Hier wirken internationale Anwält:innen, Journalist:innen, Abgeordnete und Angehörige verschiedenster Berufsgruppen für eine solidarische Begleitung politischer Gefangener. Auf der Website wird Aufklärungsarbeit betrieben, es werden die Verhandlungssitzungen protokolliert und aktuelle themenbezogene Veranstaltungen und Solidaritätsaktionen für Ayas bekanntgegeben.
Auch das Solidaritätskomitee Free Kenan mobilisiert die Öffentlichkeit zur Prozessbegleitung in Hamburg und veranstaltet Kundgebungen und Infoveranstaltungen zum Thema. Die besondere zypriotische Solidarität und Verbundenheit zur kurdischen Bevölkerung resultiert sehr stark aus dem parallelen Befreiungskampf gegen die seit 1974 herrschende türkische Besatzung Nordzyperns und dem Tod und der Verschleppung zehntausender Zypriot:innen durch das türkische Militär.
Ayas Hintergrund und Biografie scheint die deutsche Justiz leider wenig zu interessieren, da sie gut darin beraten scheint, den türkischen Interessen Gehorsam zu leisten. Die diplomatisch-politischen Beziehungen auf EU-Ebene sollen nicht gefährdet werden, die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Kurd:innen in gegenwärtigem Zustand bleibt damit erhalten.
Die nächsten zwölf Prozesstermine sind bis Ende Februar (15.1., 17.1., 25.1., 26.1., 29.1., 5.2., 6.2., 8.2., 12.2., 14.2., 16.2., 26.2.) vordatiert und können jeweils ab 9:30 Uhr am Oberlandesgericht Hamburg begleitet werden.