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Der Prozess am Scheideweg?

Im Zentrum des 9. Verhandlungstages stand die Erklärung der Angeklagten Frau Dr. Banu Büyükavci zur Anklageschrift .
Einleitend thematisierte die Fachärztin für Psychosomatik die Auswirkungen der Isolationshaft, die gegen sie und die anderen Angeklagten in den ersten Monaten nach der Verhaftung angewandt wurde, und deren Folgen aus ärztlicher Sicht. Sie kritisierte diese Haftbedingungen als Folter, die irreparable psychische Schäden verursachen kann.

 

Auch die Einschränkung ihrer Verteidigungsrechte (Kontrolle auch der Verteidigerpost, lange Zustelldauer trotz kurzer Stellungnahmefristen, Trennscheibe bei Verteidigergesprächen) griff sie auf, um den Charakter des Verfahrens herauszustellen: „Niemand wird uns davon überzeugen können, dass es sich hier um ein rechtsstaatliches Verfahren handelt. Dies ist ein politischer Prozess, es geht nicht um einen gerechten Prozess, das Urteil wurde schon vorher gefällt. Wäre es anders, dann wäre unser Recht auf Verteidigung nicht eingeschränkt und wir wären nicht den oben erwähnten unmenschlichen Praktiken unterzogen worden.“
Den weitaus größten Teil ihrer Erklärung nahm die Thematisierung der Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen speziell in der Türkei und ihres Kampfes um Befreiung ein. Die Entstehung der Frauenfrage, die sie neben der Kurdenfrage als eine der zentralen Probleme der Republik Türkei sieht, leitete sie geschichtlich her und ging anschließend auf die verschiedenen Bereiche ein, in denen das Patriarchat verankert ist, also Ideologie, Familie, Religion, Staat und Ökonomie. Mit zahlreichen Beispielen verdeutlichte sie die von Unterdrückung geprägte Lage von Frauen speziell in der Türkei und im Nahen Osten und deren Verschärfung durch das Erdoğan-Regime.
Gegen Ende sprach Frau Dr. Büyükavci über die spezifische Situation migrantischer Frauen in Deutschland, ein Thema mit dem sie sowohl in ihrer Arbeit, als auch im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit bspw. für ver.di und natürlich persönlich konfrontiert war.

Ihre Erklärung beendete sie hoffnungsvoll: „Das Lebensbild, mit dem sich die Menschheit und im Besonderen Frauen konfrontiert sehen und dass ich zuvor geschildert habe, mag pessimistisch wirken, aber ich bin nicht pessimistisch und hoffnungslos. Ich weiß, dass die Geschichte Ungerechtigkeit nicht verziehen hat. So wie die Menschheit die Despoten und Gewaltherrscher der Vergangenheit gerichtet hat, so wird sie auch die der Gegenwart richten.“
Nach der Erklärung Frau Dr. Büyükavcis verlas Bundesanwältin Ritzert die Stellungnahme zum Einstellungsantrag der Verteidigung. Wenig überraschend beantragte sie dessen Ablehnung.
Um so interessanter wurde es direkt nach der Stellungnahme der BAW, als der Vorsitzende die Verteidiger_innen bat, eine mögliche Erwiderung schnellstmöglich abzugeben, weil mit der Entscheidung des Gerichts über die Frage der Verfolgungsermächtigung der Prozess sich an einem Scheideweg befinde. Das Gericht wolle die Angeklagten möglichst nicht zu lange auf diese Entscheidung warten lassen. Diese Aussage des Vorsitzenden sollte sicherlich nicht überbewertet werden, denn selbst eine Anfrage des Gerichts bei dem für die Frage der Verfolgungsermächtigung zuständigen Ministerium für Justiz wird bei der derzeitigen außenpolitischen Haltung Deutschlands wohl kaum dazu führen, dass die Strafverfolgung hier unterbleibt. Es könnte also nur der Wunsch des Vorsitzenden zum Ausdruck gebracht worden sein, schnellstmöglich die Frontalangriffe auf die Legitimität des Verfahrens durch die Verteidigung zu beenden.

Wie auch immer: Vor dem Hintergrund der immer offener zu Tage tretenden diktatorischen Züge des Erdoğan-Regimes steigt der Begründungsaufwand der BAW, mit dem sie die Durchführung dieses Großverfahrens rechtfertigen muss.Die Argumentation der BAW wird den inzwischen auch in der Presse geäusserten Zweifeln am Sinn der Durchführung solcher Prozesse nicht gerecht, wenn ausgeführt wird: „Selbst wenn jedoch die von den Verteidigern behauptete Unterstützung des IS durch die Republik Türkei zutreffend und darüber hinaus als ein Verstoß gegen das Völkerrecht anzusehen wäre, könnte dies nicht zur Einstellung des hiesigen Strafverfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses führen.“

Die Verteidigung wird zu dem Antrag der BAW, den von der Verteidigung gestellten Einstellungsantrag abzulehnen, noch ausführlich Stellung nehmen.