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Die let­zte Bas­tion

Die Streik­welle im türkischen Met­all– und Auto­mo­bilsek­tor und der Kampf der Arbei­t­erIn­nen von Arçelik-LG

Einer der let­zten Bas­tio­nen des Met­al­lar­beit­er­wider­standes in der Türkei im Jahre 2015 waren die KämpferIn­nen von Arçelik-LG, einer Kli­maan­la­gen­pro­duk­tions­fab­rik im Indus­triege­biet von Gebze in Istan­bul. 500 der 680 Arbei­t­erIn­nen der Fab­rik traten ver­gle­ich­sweise spät in den Streik und beset­zten Anfang Juli die Fab­rik, nach­dem die Fab­rik­leitung und die dort organ­isierte Gew­erkschaft Türk Metal-Iş zunehmend mehr Druck auf sie ausübten. Die Arbei­t­erIn­nen forderten ein Ende des Mob­bings, bessere Löhne und ihren Aus­tritt aus der Türk Metal-Iş. Am 4. Tag, dem 5. Juli, ließ Koç, der türkische Part­ner der Fab­rik, den Laden kurz vor dem Fas­ten­brechen von Bere­itschaft­spolizis­ten stür­men und die Arbei­t­erIn­nen rauss­chmeißen. Damit begann der 109-tätige Wider­stand der 173 Arbei­t­erIn­nen, die frist­los gekündigt wer­den, während die restlichen der 500 Arbei­t­erIn­nen nach und nach wieder zum Arbeit­splatz und zur Gew­erkschaft Türk Metal-Iş zurückkehrten.
Unter den 173 Arbei­t­erIn­nen, die ein Zelt direkt am Ein­gangstor zur Fab­rik auf­bauten und dort in den Wider­stand traten, befinden sich viele, die dort schon seit über zehn Jahren gear­beitet haben. Ein Kol­lege hat dort schon seit 23 Jahren gear­beitet – auch er wurde ohne Abfind­ung rausgeschmissen.

Was die Arbei­t­erIn­nen in den 109 Tagen durch­machten, ist atem­ber­aubend. Inner­halb kürzester Zeit bilden sie, die meis­ten zuvor nicht beson­ders poli­tisch noch bele­sen, Klassen­be­wusst­sein aus und brin­gen gle­ichzeitig eine kämpferische Klassen­praxis her­vor. Sie sind stets im Kon­takt mit den anderen Arbei­t­erIn­nen­wider­stän­den im Indus­triege­biet und sind über­all in Form von Sol­i­dar­ität und Besuchen präsent. Die Arbei­t­erIn­nen organ­isieren Demos, Besuche, Presseerk­lärun­gen; die Wache am Zelt wird schicht­en­weise organ­isiert, Essen und Trinken eben­falls kollek­tiv organ­isiert. Irgend­wann sind sie im gesamten Gebiet und darüber hin­aus bekannt; sie schaf­fen es, die Pro­pa­ganda der Arbeit­ge­ber nach dem Motto „das sind PKK-Unterstützer, Kom­mu­nis­ten, Chaoten, Krach­macher“ zu zertrüm­mern. Jedes Mal, wenn ich mit ihnen am Zelt sitze und mich mit ihnen unter­halte, fahren Autos und Last­wa­gen vor­bei und hupen als Aus­druck ihrer Sol­i­dar­ität oder hal­ten an und grüßen den Wider­stand der ArbeiterInnen.
Ander­er­seits haben die Arbei­t­erIn­nen inner­halb kürzester Zeit auf­grund ihrer kollek­tiven Praxis – und dem Ein­satz organ­isierter Ele­mente und linker Gew­erkschafter – ein recht umfassendes, kritisch-politisches Bewusst­sein her­aus­ge­bildet. Wir unter­hal­ten uns mit ihnen über die Umstruk­turierung des Nahen Ostens, die Funk­tion des IS, die Kon­flikte zwis­chen den unter­schiedlichen Staat­sap­pa­raten in der Türkei, 9/11, den Mil­itär­putsch vom 12. Sep­tem­ber 1980, ja sogar über Deniz Gezmiş, Mahir Çayan und über den großen Arbei­t­erIn­nen­streik vom 15. und 16. Novem­ber 1970. All das haben sich die meis­ten der streik­enden Arbei­t­erIn­nen in den let­zten knapp drei Monaten aneignet. Und zugle­ich kämpfen sie für ihre Rechte. Vor Gericht kämpfen sie für eine Wiedere­in­stel­lung respek­tive zumin­d­est Auszahlung der Abfind­un­gen, ihre politisch-ökonomischen Forderun­gen haben sich sogar etwas radikalisiert: sie fordern, dass Türk Metal-Iş die Fab­riken ver­lässt und dass sie selbst ihre Gew­erkschafts­delegierten wählen können.
… als Teil einer der größten Streik­wellen in der Türkei

Aber wie gesagt, der Kampf bei Arçelik-LG ist Teil und einer der let­zten Bas­tio­nen einer viel größeren, ja einer der größten Streik­wellen in der Geschichte der mod­er­nen Türkei über­haupt, die Ende 2014, Anfang 2015 los­ging und die gesamte West­küste erschüt­terte. Laut dem Gew­erkschaft­sak­tivis­ten und –the­o­retiker Aziz Çelik beteiligten sich Zehn­tausende Arbei­t­erIn­nen an der Streik­welle. Genaue Zahlen gibt es nicht, denn aus­nahm­s­los alle Streiks ab Mitte April 2015, als die Streik­welle erst so richtig an Fahrt auf­nahm, waren wild­cat–Streiks, also gew­erkschaft­sun­ab­hängige, spon­tane, wilde Streiks der Arbei­t­erIn­nen selbst.
Wie immer waren die unmit­tel­baren Aus­löser die Lohn­frage, die Frage nach den Kollek­tivverträ­gen und die Gew­erkschafts­bürokratie. Dass diese anson­sten recht „nor­malen“ Gründe und For­men der ökonomis­chen Auseinan­der­set­zung zwis­chen Lohnar­beit und Kap­i­tal spon­tan solche mas­siven For­men annah­men, deutet darauf hin, dass sich die Wider­sprüche mas­siv zuge­spitzt haben und eine gewisse Vorgeschichte existiert.

Unmit­tel­barer Aus­löser war eine Auseinan­der­set­zung in der Fab­rik von Bosch in Bursa im Jahr 2012. Dort traten 3500 Arbei­t­erIn­nen mit einem Schlag aus der dort organ­isierten Gew­erkschaft Türk Metal-Iş aus und woll­ten der Bir­leşik Metal – Iş beitreten. Türk Metal-Iş ist eine Met­al­lar­bei­t­erIn­nengew­erkschaft und gehört zur größten der drei großen Gew­erkschafts­dachver­bände in der Türkei, zur Türk Iş. Bir­leşik Metal-Iş hinge­gen gehört zum tra­di­tionell linken Gew­erkschafts­dachver­band DISK. Der Vor­läufer der Bir­leşik Metal-Iş vor dem Mil­itär­putsch am 12. Sep­tem­ber 1980, die Maden-Iş, gehörte zu den kämpferischsten Gew­erkschaften der Türkei. Deshalb wurde ihr linker Vor­sitzen­der Kemal Türkler, gle­ichzeitig der Begrün­der und erster Vor­sitzende der DISK sowie Mit­be­grün­der der Arbeit­er­partei der Türkei (TIP), am 22. Juli 1980 von faschis­tis­chen Paramil­itärs der Partei der Nationalen Bewe­gung (MHP) ermordet.
Die Türk-Iş hinge­gen ist eine Gew­erkschaft, die den Namen einer Gew­erkschaft nicht ver­di­ent. Sie ist nicht mal eine gelbe Gew­erkschaft, die nur Mar­ginales für die Beschäftigten raus­holen würde, um gle­ichzeitig irgend­wie den Burgfrieden zu bewahren. Sie holt gar nichts für die Beschäftigten raus, ihre Bürokraten leben im High-Class-Luxus und sitzen wortwörtlich mit der Unternehmensführung am sel­ben Tisch, wenn es darum geht, Arbei­t­erIn­nen, die aus der Gew­erkschaft aus­treten, wieder zu „überzeu­gen“ zur Türk Iş zurück­zukehren. Klappt die Überzeu­gung am Tisch nicht, wer­den, oft genug auch doku­men­tiert, bezahlte Schlägertrupps, Mafiosi und andere Gauner und son­stiges Gesin­del einge­setzt, um die nötige „Überzeu­gungsar­beit“ zu leis­ten. Während eine solche Organ­i­sa­tion in der Türkei als „Gew­erkschaft“ anerkannt wird, sind inter­na­tionale Gew­erkschaft­sor­gan­i­sa­tio­nen anderer Mei­n­ung: Türk Iş ist bis heute auf­grund seiner struk­turellen Unternehmer­fre­undlichkeit und fehlen­den inneren Demokratie bei keiner inter­na­tionalen Gew­erkschaft­sor­gan­i­sa­tion Mit­glied und regelmäßig wer­den dies­bezügliche Anträge von ihr von den jew­eili­gen inter­na­tionalen Gew­erkschaft­sor­gan­i­sa­tio­nen abgelehnt.

Bei Bosch ging es ab 2012 ähn­lich zu. Bis 2014 arbeit­eten die Chefs, die Gew­erkschaft und der Staat gemein­sam und mit den unter­schiedlich­sten Mit­teln daran, die Arbei­t­erIn­nen wieder zur Gew­erkschaft zurück­zuführen. Das klappte großteils, als Krö­nung und als „Dank“ wurde allein den Arbei­t­erIn­nen von Bosch eine Lohn­er­höhung von 60 Prozent in der Tar­ifrunde Ende 2014 ver­sprochen, während dies für die anderen Fab­riken im Met­allsek­tor nicht vere­in­bart wurde.
Dabei funk­tion­ieren Kollek­tivverträge im Met­allsek­tor nach einem einge­spiel­ten Muster: die MESS, der Unternehmerver­band der Met­all­branche und zugle­ich größter Unternehmerver­band der Türkei über­haupt, „han­delt“ mit der im Met­allsek­tor am besten organ­isierten Türk Metal-Iş einen neuen Kollek­tivver­trag aus, der dann allen anderen Beschäftigten und Gew­erkschaften der Branche mehr oder min­der aufge­drückt wird. Allein die Bir­leşik Metal-Iş kämpft immer mal wieder, mal stärker mal schwächer, gegen dieses abgekartete Spiel an und setzt dort bessere Kollek­tivverträge durch, wo sie organ­isiert und zur Ver­hand­lung von Kollek­tivverträ­gen ermächtigt ist.
So auch dies­mal. Eine Mit­glieder­be­fra­gung führte zu dem Ergeb­nis, dass die bei der Bir­leşik Metal-Iş organ­isierten Arbei­t­erIn­nen ein­deutig den neuen Branchen­ver­trag ablehn­ten, eine zweite Umfrage führte zu einer über­wälti­gen­den Zus­tim­mung zu einem Gen­er­al­streik, der am 29. Jan­uar 2015 mit 15.000 Arbei­t­erIn­nen an 22 Fab­riken in zehn Städten begann. Die Forderun­gen waren so sim­pel wie grundle­gend: gle­iche Lohn­er­höhung wie bei Bosch, vor allem eine stärkere Erhöhung der Niedriglöhne, um die Schere zwis­chen Stammbeschäftigten und Neubeschäftigten aus Sub­un­ternehmen zu min­imieren (60 Prozent im Met­allsek­tor arbeiten zum Min­dest­lohn, der weniger als 300 Euro im Monat beträgt), freie Wahl der Gew­erkschaft, die Forderung, dass Türk Metal-Iş die Betriebe ver­lässt und die Kom­pe­tenz, selbst die eige­nen Gew­erkschaftsvertreterIn­nen wählen zu können.

So schnell wie der Gen­er­al­streik anf­ing, so schnell endete er auch, näm­lich am Tag drauf, am 30. Jan­uar. Und zwar per Staats­beschluss. Der Min­is­ter­rat erk­lärte, auf Ini­tia­tive des Min­is­teri­ums für Arbeit und soziale Sicher­heit, dass der Gen­er­al­streik die „nationale Sicher­heit“ [!] gefährde und „ver­schob“ den Streik. Diese Befähi­gung des Staates, Streiks auf Grund hanebüch­ener Vorstel­lun­gen aufzuschieben, läuft laut Gew­erkschaftern auf ein de-facto-Streikverbot beziehungsweise Aufhe­bung des Streikrechts hin­aus. Denn sollte sich der Kon­flikt nicht bin­nen 60 Tagen nach „Auf­schiebung“ des Streiks lösen, ist der eben­falls staatliche Ober­ste Schied­srichter­auss­chuss (YHK) dazu ermächtigt, eine Eini­gung zu forcieren. Gestreikt wer­den kann nur dann nochmal, wenn inner­halb der 60 Tage eine Klage gegen den Streik„aufschub“ beim Staat­srat (Danış­tay) gewon­nen wird. Eine entsprechende Klage wurde vom Danış­tay natür­lich, da mit­tler­weile von AKP-Leuten besetzt, abgelehnt. Hinzuge­fügt wer­den muss, dass die Bir­leşik Metal-Iş dieses pseudo-legale und jeden­falls ille­git­ime, anti­demokratis­che und arbeit­er­feindliche Spiel mit­ge­spielt hat oder jeden­falls keinen Wider­stand geleis­tet hat. Dafür wehrten sich aber die Arbei­t­erIn­nen und über­holten so die linke Gew­erkschaft links.

Mitte April hieß es ya basta! und Tausende Arbei­t­erIn­nen in den Fab­riken von Renault und Tofaş demon­stri­erten spon­tan zum Türk-Metal-Gewerkschaftshaus, die Kol­legIn­nen von Mako schlossen sich als­bald an. Sie stell­ten diesel­ben Forderun­gen wie beim ille­gal­isierten Gen­er­al­streik vom 29. Jan­uar 2015. Am 21. April fand eine Riesendemo im Stadtzen­trum von Bursa statt. Die Türk Metal lehnte alle Forderun­gen der Arbei­t­erIn­nen ab, während die Fab­riken von Coşkunöz, Del­phi, Vako und SKT sich dem Wider­stand anschlossen. Auch der Arbeit­ge­berver­band MESS gab am 14. Mai bekannt, dass die Tar­ifverträge nicht rev­i­diert wer­den und dro­hte den Arbei­t­erIn­nen damit, dass ihre Aktio­nen ille­gal sein.

Daraufhin traten am 15. Mai tausende Arbei­t­erIn­nen in den Streik: sie beset­zten die Fab­riken oder stoppten die Arbeit. Während der Vor­sitzende der Türk Metal, Pevrul Kavlak, die Arbei­t­erIn­nen dazu aufrief, den Wider­stand aufzugeben und darauf hin­wies, dass es das gute Recht der von diesen ille­galen Streiks betrof­fe­nen Unternehmer sei, die jew­eils ille­gal streik­enden Arbei­t­erIn­nen frist­los zu kündi­gen, bre­it­ete sich der Wider­stand über Bursa hin­aus zum Beispiel auf Ford Oto­san in Kocaeli und Eskişe­hir (20. Mai) sowie auf Türk Trak­tör in Ankara (21. Mai) aus. Wie ein Lauf­feuer sprach es sich in den Fab­riken des Met­all– und Auto­mo­bilsek­tors herum, dass Kol­legIn­nen von anderen Fab­riken für ihre Rechte streik­ten, und so wur­den immer mehr Arbei­t­erIn­nen dazu motiviert, eben­falls zu streiken. Die mas­sive, aber spon­tane Streik­welle bre­it­ete sich an der gesamten West­küste der Türkei aus. Organ­isiert und koor­diniert wur­den die Streiks kaum miteinan­der, das ergab sich teils im Laufe der Zeit, vor allem mit dem Ein­satz organ­isierter Linker und GewerkschaftsaktivistInnen.
Kap­i­tal, Staat und Arbeit seit dem Mil­itär­putsch vom 12. Sep­tem­ber 1980
Dass in der Türkei Staat und staats– und unternehmen­snahe Gew­erkschaften zusam­me­nar­beiten, staatliche Insti­tu­tio­nen de facto Streiks ver­bi­eten kön­nen und Gew­erkschaft­sor­gan­i­sa­tion sowieso nur unter äußerst widri­gen legalen wie prak­tis­chen Umstän­den stat­tfindet – all das dient freilich der Unter­drück­ung der rel­a­tiven Autonomie der Arbei­t­erIn­nen­klasse, d.h. der Unter­drück­ung der poten­ziellen Dynamiken, die der Arbei­t­erIn­nen­klasse auf­grund ihres antag­o­nis­tis­chen Ver­hält­nisses zum Kap­i­tal erwach­sen. His­torisch betra­chtet war es der Mil­itär­putsch vom 12. Sep­tem­ber 1980, der diese Unter­drück­ung durch­set­zen sollte. Denn die Peri­ode von 1960 bis 1980 war für das Kap­i­tal ein „Alp­traum“, wie es ein­mal der Großin­dus­trielle und Monopolka­p­i­tal­ist Vehbi Koç (dessen Hold­ing übri­gens Arçe­lik, den türkischen Part­ner von Arçelik-LG besitzt) gegenüber dem Putschis­ten­führer Kenan Evren aus­drückte. Das stimmt schon: Die Arbei­t­erIn­nen­be­we­gung erstarkte mas­siv in diesen zwei Jahrzehn­ten, kon­nte am 15. und 16. Novem­ber 1970 ganz Istan­bul mit einem Gen­er­al­streik lahm­le­gen, gewann die umfassend­sten Rechte, erstritt einem würdi­gen Leben entsprechende Löhne und war ver­bun­den mit einer recht großen und starken sozial­is­tis­chen und rev­o­lu­tionären poli­tis­chen Bewe­gung, die eine Demokratisierung der Türkei und den Sozial­is­mus anstrebte. Dies fand das Kap­i­tal und der eis­erne Kern des Staates, das Mil­itär, Scheiße. Ergo fol­gten faschis­tis­cher Ter­ror und let­ztlich der Mil­itär­putsch, den die Linke auf­grund von Prob­le­men und Fehlern, die ander­norts zu erörtern wären, nicht besiegen kon­nte. Kein Wun­der jeden­falls, dass der dama­lige Vor­sitzende des Arbeit­ge­berver­ban­des TISK, Halit Narin, kurz nach dem Mil­itär­putsch den Arbei­t­erIn­nen zuge­wandt meinte: „Bisher habt ihr gelacht; nun sind wir dran.“ So etwas nennt man landläu­fig Klassenkampf.
Danach wurde es zap­pen­duster für die Arbei­t­erIn­nen­klasse. Wie gewöhn­lich bei faschis­tis­chen Machtüber­nah­men wurde sofort der damals noch sehr mil­i­tante und rev­o­lu­tionäre Gew­erkschaftsver­band, die DISK, ver­boten, viele Kader wan­derten in die Gefäng­nisse und viele ihrer Mit­glieder aus ihrem Kernsek­tor, der Met­all­branche, wur­den gezwun­gen der Türk Iş beizutreten. Erst 1992 wieder erlaubt, kon­nte die DISK nur einen Bruchteil ihres ehe­ma­li­gen Ver­mö­gens und ihrer ehe­ma­li­gen Mit­glieder zurück kla­gen. Mit­tler­weile erstarkte die staats– und unternehmer­nahe Türk Iş und der dritte große Gew­erkschaftsver­band, die Hak-Iş, die tra­di­tionell den islamis­chen Parteien nah­esteht und mit der AKP mehr Bedeu­tung gewann. Jeden­falls ist aber auch deren Erstarkung rel­a­tiv zu betra­chten. Die eisen­harte, repres­sive und staat­sautoritäre Umformierung des gesamten Arbeits– und Gew­erkschaft­srechts im Zuge des Mil­itär­putsches erschw­erte die gew­erkschaftliche Organ­isierung mas­siv, hob die Arbeit­splatzsicher­heit zunehmend auf und gren­zte die Effek­tiv­ität von Gew­erkschaften eben­falls mas­siv ein.

Die Fol­gen sind ein­deutig: Der gew­erkschaftliche Organ­isierungs­grad beträgt nach amtlichen Zahlen nur elf Prozent, der niedrig­ste unter allen OECD-Ländern. Aber kri­tis­che Gew­erkschaft­sak­tivis­ten wie z.B. Aziz Çelik sind der Mei­n­ung, dass die Sach­lage noch schlim­mer ist, weil nur ein Teil der gew­erkschaftlich Organ­isierten von Kollek­tivverträ­gen prof­i­tiert, näm­lich ins­ge­samt sieben bis acht Prozent oder eine Mil­lion von 14 Mil­lio­nen Arbei­t­erIn­nen. Finden denn über­haupt Streiks statt, kön­nen sie durch den „Auf­schub­s­bescheid“ der Exeku­tive ver­boten wer­den – was auch passiert.
Der Min­dest­lohn beträgt nicht ein­mal mick­rige 300 Euro (um die 960TL), was in Städten wie Istan­bul kaum für das Über­leben aus­re­icht. 60 Prozent der Werk­täti­gen im Met­allsek­tor bekom­men diesen Lohn. Das Akku­mu­la­tions– und Export­mod­ell der türkischen Indus­trie, die sowieso schon unter schlechter Konkur­ren­zfähigkeit lei­det, ist gekennze­ich­net vom Ein­satz von Niedrigtech­nolo­gie, sehr niedrigerer Arbeit­splatzsicher­heit und Über­aus­beu­tung der Arbeit­skraft. Regelmäßig zahlen Arbei­t­erIn­nen mit ihrem Leben für diese beschisse­nen Arbeitsver­hält­nisse: ins­ge­samt 14.587 Arbei­t­erIn­nen im Zeitraum von 2003 bis 2014. Kri­tik­erIn­nen sprechen von sys­temisch her­vorge­brachten Arbeitsmor­den. Auch hier gehört die Türkei zu den Weltrangschlechtesten.
Es sind diese struk­turell miesen Arbeits­be­din­gun­gen und die Ver­tiefung des Regimes vom 12. Sep­tem­ber 1980 seit­ens der AKP, die den Hin­ter­grund für die Streik­welle im Met­allsek­tor abgeben. Und natür­lich war auch Gezi ein Aus­löser dieser Welle. Was Gezi mit dem Indus­triepro­le­tariat zu tun hat, das man beim Gezi-Aufstand kaum gese­hen hat? Sehr viel. Gezi war eine pop­uläre Massen­be­we­gung, die von mehreren Mil­lio­nen Men­schen getra­gen wurde, sich auf fast alle Städte der Türkei aus­bre­it­ete und auf die eine oder andere Art und Weise gegen Unrecht und für Demokratie kämpfte. Gezi bes­timmte den All­tag der gesamten Türkei. Staunen müsste man eher darüber, wenn Gezi jeman­den nicht bee­in­flusst hätte. Jeder, und ganz sicher die KämpferIn­nen von Arçelik-LG, haben Zugang zu Twit­ter und Face­book, oder, wenn sie auf der anderen Seite des poli­tis­chen Lagers ste­hen, zur staatlichen Revolver­presse, die ihnen verzapft, dass Gezi eine Machen­schaft böser fremder Mächte war und den Regierung­sum­sturz anvisierte. Bei Teilen der Unter­drück­ten, Aus­ge­beuteten und Mar­gin­al­isierten jeden­falls hat Gezi offen­sichtlich den Kämpfer­geist erweckt und bewiesen, dass sich sehr wohl für die eige­nen Rechte erfol­gre­ich kämpfen lässt. Es hatte eben auch in der Met­all­branche nur mehr eines Funkens bedurft, um einen Auf­s­tand und eine spon­tane Selb­stor­gan­isierung der Arbei­t­erIn­nen auszulösen.

Das Ende ist der Anfang
Am Ende der mas­siven Streik­welle lassen sich einige sehr ein­deutige Siege und einige ein­deutige Nieder­la­gen fest­stellen. Bei Renault, dessen Besitzer die Hold­ing der Mil­itärs (OYAK) ist, wur­den alle Forderun­gen akzep­tiert, bei den meis­ten Fab­riken, die zur Koç Hold­ing gehören, wur­den viele Ver­sprechun­gen gegeben, die wenig­sten wirk­lich erfüllt und nor­maler­weise trotz gegen­teiliger Behaup­tun­gen mas­sive Repres­sion gegen die Streik­enden aus­geübt. Bei eini­gen Fab­riken, wie z.B. bei Tofaş und Mako, kon­nten einige Forderun­gen erfüllt wer­den, bei anderen, etwa bei Türk Trak­tör, nur sehr wenige.
Von großer Bedeu­tung allerd­ings ist, dass die Türk Metal-Iş ihren arbeit­er­feindlichen Charak­ter ent­larvte. Sie ver­lor deswe­gen bis zu 11.000 Mit­glieder, viele gin­gen zur Bir­leşik Metal-Iş. Zusät­zlich hierzu machten die Arbei­t­erIn­nen, viele von ihnen zum ersten Mal, eine von ihnen selbst getra­gene und organ­isierte Kampfer­fahrung durch. Sie entwick­el­ten die Keime eines anderen Gew­erkschaftsver­ständ­nisses, eines Ver­ständ­nisses von der Gew­erkschaft als einer demokratis­chen Klassenor­gan­i­sa­tion mit selb­st­gewählten und selb­st­bes­timmten Gew­erkschafts­delegierten und Streiks statt einer bürokratis­chen, anti­demokratis­chen Appa­ratur, die ten­den­ziell mit den Arbeit­ge­bern zusam­me­nar­beitet und von oben herab bes­timmt, wie Tar­ifver­hand­lun­gen zu führen sind und ob und wie Streiks stat­tfinden. Es wurde schon eine neue Gew­erkschaft seit­ens der Met­al­lar­bei­t­erIn­nen selbst, die TOMIS, gegründet.

Und sie entwick­el­ten natür­lich ein Klassen­be­wusst­sein. Beim Wider­stand­szelt der Arbei­t­erIn­nen von Arçelik-LG sehen wir einige Türkeifah­nen, ein Kol­lege posiert immer mit dem islamis­chen Tekbir- Zeichen (in die Luft gestreck­ter Zeigefin­ger). Aber neben diesem Kol­le­gen steht der kur­dis­che Kol­lege, der mit dem in der Türkei nur von Kur­den und Linken genutzten Victory-Zeichen posiert, die meis­ten recken die linke Faust, die Slo­gans drehen sich oft um die Ein­heit der Arbei­t­erIn­nen­klasse und die Ein­heit des Kampfes. Einer der Sprecher der Kol­legIn­nen meint: „Wir kämpfen hier alle gemein­sam. Moslems, Kur­den, Türken, Män­ner, Frauen. Das ist unser geein­ter Kampf als Arbei­t­erIn­nen und wir lassen uns nicht teilen.“
Mücadel­eye devam! – Der Kampf geht weiter!
Am 109. Tag des Wider­standes von außer­halb der Fab­rik, dem 16. Okto­ber, geben die Kämpfer von Arçelik-LG eine let­zte Presseerk­lärung ab. Sie wer­den das Zelt vor der Fab­rik räu­men müssen. Die meis­ten von ihnen sind mit­tler­weile hoch ver­schuldet, sie haben immer­hin drei Monate lang nicht mehr lohngear­beitet. Im Indus­triege­biet von Gebze nach einer Arbeit zu suchen kön­nen sie sich sparen. Ein Kol­lege erzählt mir, dass es bei Vorstel­lungs­ge­sprächen heißt: „Du gehörst doch zu denen, die den Wider­stand in der Arçelik-LG Fab­rik mitor­gan­isierten.“ Die Unternehmer legen black lists mit poli­tisch oder gew­erkschaftlich Aktiven, jeden­falls „auf­fäl­li­gen“ Arbei­t­erIn­nen an und teilen sie untere­inan­der. Wer ein­mal für seine Rechte kämpft, der wird in diesem Indus­triege­biet keine große Chance mehr auf einen neuen Arbeit­splatz haben.

Eingeschüchtert sind die Kol­legIn­nen aber trotz­dem nicht. Bevor wir nach der Presseerk­lärung wieder ein let­ztes Mal zurück zum Zelt fahren um ein let­ztes Mal gemein­sam zu grillen, tre­f­fen wir per Zufall auf einen Kol­le­gen von den ursprünglichen 500 Kol­legIn­nen von Arçelik-LG, die ihre Mit­glied­schaft bei der Türk Metal-Iş kündigten. Er ist einer von denen, die wieder zur Türk Metal-Iş gegan­gen sind und die Arbeit wieder aufgenom­men haben – ohne irgen­deine Forderung erfüllt bekom­men zu haben. Er wirft den kämpfenden Kol­legIn­nen vor, sie seien zu weit gegan­gen und hät­ten nun alles ver­loren. Einer der kämpfenden Kol­le­gen lacht nur und erwidert erzürnt: „Wärt ihr Fei­glinge nicht abge­sprun­gen, hät­ten wir alles gewon­nen. Was hast du jetzt? Einen Scheißjob für 1500TL. Auf den verzichte ich gerne, irgendwo treibe ich mir schon wieder eine Arbeit für 1500TL auf. Was ich jedoch gewon­nen habe, ist meine Würde und unser gemein­samer Kampf.“
Jetzt schauen sich die Kämpfer von Arçelik-LG erst mal nach neuen Arbeit­splätzen um und treiben ihren Kampf um ihre Abfind­un­gen vor Gericht voran. Es ist wahrschein­lich, dass sie diesen Kampf gewin­nen wer­den. Die Fab­rik haben sie natür­lich ver­loren, denn Unternehmer, Staat und unternehmer­nahe Gew­erkschaft haben es wieder ein­mal geschafft, die Arbei­t­erIn­nen zu spal­ten. Der kämpferische Teil von ihnen, die 173 alten Kol­legIn­nen, wer­den jedoch sicher­lich ihre Erfahrung und ihren Kampfgeist behal­ten und in die neuen Ver­hält­nisse hineintragen.
Zum Abschied umar­men wir uns noch ein­mal alle her­zlich. „Ja also wir sehen uns dann ein­fach wieder, vielle­icht mal in Kadıköy“, meint einer der Arbeiter zu mir. „Oder ein­fach beim näch­sten Kampf“, geb ich lachend zurück. Findet der Kol­lege gut und meint, eben­falls lachend: „Ja sicher, warum nicht“.

Die Streik­welle im türkischen Met­all– und Auto­mo­bilsek­tor, die zu den größten Streik­wellen der Geschichte der mod­er­nen Türkei gehört, hat in kürzester Zeit einen mas­siven Klassen­be­wusst­sein­sprozess und eine Klassen­praxis in Gang gesetzt, die die Türkei in dieser Form lange nicht mehr erlebt hatte. Um einen solchen Prozess zu ver­hin­dern set­zten Staat und Kap­i­tal ihre Pseudo-Gewerkschaften, chau­vin­is­tis­che Ide­olo­gien und Schlägertrupps ein. Diese Mauer haben die Arbei­t­erIn­nen von Arçelik-LG und diejeni­gen, die tapfer weiter streik­ten, durch­brechen kön­nen. Der Sturm an der Ober­fläche mag zwar abgeebbt sein, aber die Erfahrung und die Entwick­lung der Arbei­t­erIn­nen wird sich hal­ten und sich bei der näch­sten Gele­gen­heit noch wil­lensstärker aus­drücken. Wie damals ist es auch heute für Kap­i­tal und Staat ein „Alp­traum“, falls sich dieser Prozess weit­er­en­twick­eln und wieder eine selb­st­be­wusste und kämpferische Klassen­be­we­gung mit demokratis­chen Mas­sen­gew­erkschaften her­vor­brin­gen sollte. Für die für ihre demokratis­chen Rechte kämpfenden Völker und Min­der­heiten sowie die Werk­täti­gen selbst wäre es ein Segen. Grund genug jeden­falls, trotz widriger Umstände opti­mistisch in die Zukunft zu schauen.

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