Die Lotusblumen der Revolution

Özkut Özkan. Die Revolutionärin Nilüfer Alcan wurde in einem Gefängnis in der Türkei ermordet, weil sie mit anderen politischen Gefangenen für menschliche Haftbedingungen und eine bessere Welt kämpfte. Sie nicht zu vergessen heisst, ihren Kampf weiterzuführen.

Es ist der 19. Dezember 2000. In der Türkei findet landesweit in verschiedenen Gefängnissen der Protest «Operation zurück zum Leben» von politischen Gefangenen statt. Der berechtigte Aufstand gegen die Haftbedingungen wird brutal niedergeschlagen und endet mit der Ermordung von zwölf Revolutionär*innen, sechs von ihnen werden lebendig verbrannt. Nilüfer Alcan (37) ist eine von ihnen – Nilüfer ist ein weiblicher Name und bedeutet auf Deutsch Lotusblume.

Unverzichtbare Lebensweise
Nilüfer Alcan war eine revolutionäre Frau, die die Wahrheit des Landes kannte und sich darin ausbildete, wie die Zukunft gestaltet werden sollte. Sie absolvierte die Fakultät für Biologie an der Universität Istanbul. Als sie 1986 als 23-jährige, junge Frau am ersten Generalstreik nach dem Militärputsch (1980), der so genannten Netas-Streik, teilnahm, begann sie die Welt und die Realität ihres Landes von einem anderen Fenster aus zu betrachten. Aus diesem Fenster blickend, sah sie, was die Menschen in unserem Land, in der Türkei, erleiden müssen. Ihr Leben, das dann folgte, führte sie in einen unmöglichen Kampf. Die Arbeit, die sie für Tayad, dem Verein für Familien von politischen Gefangenen, leistete sowie ihr Kampf gegen die Unterdrückung der Rechte in den Gefängnissen war für sie eine Selbstverständlichkeit. Das, was gegen die unmenschliche Behandlung getan werden muss, war für sie eine unverzichtbare Lebensweise. Eine, die sich jeder Mensch aneignen müsste.

Femizide an der Tagesordnung
Nilüfer Alcan und die Revolutionärinnen, die beim Massaker vom 19. Dezember 2000 in den Gefängnissen ermordet wurden, kämpften wir ihr Volk und eine bessere Welt. So wie alle anderen Widerstandskämpferinnen, die sich gegen die Unterdrückung von Rechten, Ungerechtigkeiten, Entlassungen und unmenschlichen Arbeitsbedingen wehren. Heute setzen Revolutionär*innen diesen Kampf für die Türkei und die Völker der Welt fort. Die Gründe dafür sind zahlreich. So sei an Folgendes erinnert: Weltweit werden 18 Millionen Kinder unter zwölf Jahren zwangsverheiratet. Alle sieben Minuten wird ein Mädchen zur «Kinderbraut», und in vielen Ländern gibt es keine rechtlichen Vorschriften dagegen, geschweige denn Verbote. Eins von fünf Mädchen gebärt vor ihrem 18. Lebensjahr ihr erstes Kind, 62 Millionen Mädchen gehen gar nicht zur Schule.

In der Türkei wurden im laufenden Jahr bereit 295 Frauen* durch Femizide getötet – mehr als eine Frau* pro Tag! Durchschnittlich begehen innerhalb 24 Stunden acht Menschen Selbstmord aufgrund von Hunger und Armut. In den letzten 17 Jahren nahmen sich 7000 Kinder das Leben. In Sachen Kindervergewaltigungen ist die Türkei auf der Weltrangliste der Länder auf Platz 3 mit rund 300 000 Fälle pro Jahr. Diese Zahl stammt aus dem Jahr 2019, in dem auch 387 Morde an Kinder zu beklagen und rund 3000 Minderjährige inhaftiert waren. Und dann noch eine Angabe aus dem Jahr 2020: 21 Millionen Menschen sind in der Türkei von der Beschlagnahmung ihres Vermögens betroffen. Die Gesamtschuld der Menschen an die Banken beträgt 521,5 Milliarden Pfund.

Die Lügen der Herrschenden

Dies alles, weil wir noch immer in einer Klassengesellschaft leben. So geht der Kampf zwischen den Unterdrückten und den Unterdrückerinnen weiter. Deshalb haben diejenigen, die versuchen, das System aufrechtzuerhalten, das Massaker an den Revolutionärinnen in den Gefängnissen angerichtet, um den Widerstand des Volkes zu brechen, zu zerstören. Der damalige Justizminister Hikmet Sami Türk lud Journalistinnen ein, die sogenannten Typ-F-Hochsicherheitsstrafanstalten zu besuchen. Er führte sie durch das Gefängnis und sagte gar, diese seien von einer «5-Sterne-Hotelqualität». Er versuchte so zu vermitteln, dass der Widerstand der Revolutionärinnen nicht zu rechtfertigen sei. Die Realität für Gefangenen in Typ-F-Gefängnisse ist jedoch folgende: Einzelhaft und ein Hofgang von gerade mal eine Stunde pro Tag ohne Kontakt zu anderen Insassinnen. Vertreterinnen des gleichen Systems schrieben in den Protokollen über das Gerichtsurteil zum Mord an Nilüfer Alcan, dass «die Gefangene an einer Gasvergiftung gestorben ist».

Doch Hacer Arikan, ein Freund aus der gleichen Gefängniszelle, erzählte: «Als wir bemerkten, dass sechs unserer Freunde fehlten, gingen wir zurück, um sie zu retten. Wir riefen ihr Namen: Nilüfer Alcan, Seyhan Dogan, Özcan Ercan, Gülser Tuzcu, Yazgülü Güder Öztürk und Şefinur Tezgel. Als wir die Tür öffneten, brannte das Innere der Zelle. Ich sah Gülser an der Tür hängen. Sie war tot und die Hälfte ihres Körpers brannte. Wir wollten die Leiche nicht zurücklassen, wir wollten sie rausziehen. Aber wir konnten nicht. In der Zelle, in der sechs Menschen verbrannten, wurde kein Tropfen Wasser gesprüht.»

Wir werden sie nicht vergessen
In einem neunseitigen Bericht, der von der Gendarmerie im Bayrampasa-Gefängnis nach dem Vorfall erstellt wurde, heisst es: «Es wurde festgestellt, dass die Terroristin, deren Name Nilüfer Alcan ist, sich selbst verbrannt und gestorben ist.» Die Henker beschuldigen ihre Opfer, selbst schuld zu sein an ihrem Tod. Dann beschuldigten und bestraften sie ihre Familien, die diese Fälle untersuchten. In den Augen derselben Henker sind Frauen, die getötet oder vergewaltigt werden, auch selbst schuld. Genauso wie die Arbeiterinnen, die wegen den miesen Arbeitsbedingungen während ihrer Tätigkeit ihr Leben verlieren. Es sind immer alle selber schuld, doch genau deshalb werden die Lotusblumen der Revolution nie verwelken.

Die herrschenden Klassen versuchen mit allen Mitteln, ein unmenschliches Gefängnissystem, ein unmenschliches Arbeitssystem, ein unmenschliches Geschlechtersystem, ein unmenschliches Bildungssystem, kurz gesagt, ein unmenschliches System schlechthin aufrechtzuerhalten. Deshalb werden die Lotusblumen der Revolution nie sterben. Sie haben ihren entschlossenen Kampf für menschliche und kulturelle Werte und gegen Unterdrück jeglicher Art mit ihrem Leben bezahlt. Wir werden sie nicht vergessen – nicht vergessen gehen lassen!

Özkut Özkan ist Schriftstellerin, freie Journalistin und Spitzenkandidatin der Partei der Arbeit Zürich im Kreis 3 bei den Gemeinderatswahlen vom Februar 2022

vorwärts 3.12.21