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Die Verschwundenen der Türkei

von Safo Can – http://freiesicht.org

Treu der Tradition des Tiefen Staats

Es ist ein wiederkehrendes Phänomen in der Türkei. Jedesmal, wenn es für die Herrschenden eng wird, taucht es wie aus dem Nichts auf, um Unliebsames zu beseitigen. Die Rede ist von den verschwundenen Menschen. Einfach so weg? Nein sie werden von Menschen entführt, die behaupten Polizisten zu sein, manche werden später tot aufgefunden, andere bleiben verschwunden, Verbleib ungewiss.

Seit das Erdogan Regime mit politischen und wirtschaftlichen Problemen kämpft, wird wieder zu den altbewährten Methoden zur Verbreitung von Angst und zur Einschüchterung der Menschen gegriffen: Foltern, Töten, Entführen und das Verschwindenlassen von Oppositionellen.

Anfang März stellte der HDP-Abgeordnete Dr. Ömer Faruk Gergeroglu eine Anfrage, bezüglich der Entführung von Menschen in verschiedenen Städten der Türkei, an das türkische Parlament.

Er bat Erdogans Stellvertreter um eine Stellungnahme zu den Angaben der Familien und um Informationen, ob die Sicherheitskräfte etwas gegen die Entführungen unternehmen bzw. ob es Untersuchengen gibt. Mittlerweile sind 29 Fälle von in den letzten 3 Jahren verschwundenen Menschen bekannt, die Zahl der tatsächlich verschwundenen Menschen ist nicht bekannt. Bislang sind alle Bemühungen der Angehörigen im Sande verlaufen. Weder gab es eine Untersuchung, noch eine Erklärung seitens des Staates. Obwohl überall dort, wo der Großteil der Opfer entführt wurde Überwachungskameras vorhanden sind und es viele Augenzeugen gibt, verweigern die Sicherheitsbehörden jedwede Auskunft. Das Unterdrücken bzw. die Nichtzulassung von Beweismaterial zwecks Verhinderung von Strafverfolgung ist keine neue Strategie. Das Vorgehen der Entführer gleicht sich, das Opfer wird von den angeblichen Polizisten angesprochen, dann in einen Transporter mit verdunkelten Fenstern geführt und weggefahren. Mal sind es schwarze, mal sind es weiße Transporter.

In den 90’er Jahren waren die “weißen Toros“ (weiße Renault Kombi), Dienstwagen der örtlichen Gendarmarie, im Einsatz, um Menschen verschwinden zu lassen.

Seit dem 27. Mai 1995 fragen die “Samstags Mütter“ jeden Samstag auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul nach dem Verbleib ihrer Kinder. Ihre Fragen werden nicht beantwortet, sie werden von dem Platz vertrieben oder festgenommen. Trotz Diskriminierung und Angriffen von seiten der Polizei geben die Mütter nicht auf und stellen ihre Fragen auf anderen Plätzen der Stadt.

Die Gerichte werden mit unsinnigen Prozessen lahm gelegt und die Gefängnisse platzen aus allen Nähten. Richter und Staatsanwälte sind verunsichert und haben Angst Urteile auszusprechen bzw. Anklagen zu erheben, die entgegen Erdogans Postulat sein könnten. Denn auch wenn Staatsanwälte und Richter im Sinne Erdogans anklagen und verurteilen, bedeutet das nicht, dass die Handlanger des Erdogan Regimes vor diesem sicher sind. So wurde z.B. der Richter, der den HDP-Vorsitzenden Demirtas verurteilte, später vom Dienst suspendiert und mehrere Staatsanwälte, die die Aufhebung von Demirtas’ Immunität vorbereitet hatten, wurden wegen Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung inhaftiert. Es gibt viele ähnliche Fälle.

Bis zum Jahr 2023 sollen noch 228 zusätzliche Gefängnisse mit eine Kapazität für fast 138.000 Insassen gebaut werden. Im August 2017 waren ca. 225.000 Menschen inhaftiert. 2018 waren in 385 Gefängnissen, mit einer Kapazität für 220.000 Insassen, mehr als 260.000 Menschen inhaftiert.

Die Methode des “unfreiwilligen Verschwindens” hat Tradition

Mit dem “Nacht und Nebel Erlass“ des Nazi Regimes von 1941 holten SS Leute in den besetzten Gebieten und auch in Deutschland Menschen nachts aus ihren Wohnungen, um sie entweder zum Tod zu verurteilen und umzubringen oder in Konzentrationslager zu bringen. Man geht von 5.200 Opfern dieses Erlasses aus.

In den 60’er/70‘er Jahren wurden insbesondere in den lateinamerikanischen Ländern nach Putschen, Bauernaufständen, Arbeiter- und Studentenprotesten, Menschen unter dem Vorwand innere Feinde des Regimes zu sein, mit der Methode “verschwinden lassen“, verschleppt, gefoltert und getötet.

In Argentinien hat die Menschenrechtskommission “CONADEP“ von 30.000 vermissten Menschen 8.969 Personen namentlich feststellen können, die durch Folter zu Tode gekommen sind oder betäubt aus Flugzeugen ins Meer geschmissen worden sind.

In Mexiko verschwand am 26. September 2014 eine Gruppe Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa auf dem Weg zu einer Demonstration in Mexiko-Stadt. Die korrupten Sicherheitskräfte, die mit dem organisierten Verbrechen kooperierten, stoppten und beschossen sie. Sechs Menschen starben, weitere 40 wurden schwer verletzt und 43 Menschen sind seitdem verschwunden.

In den Jahren 1965-1966 wurden in Indonesien tausende Menschen von der Armee massakriert. Am 9. Mai 2016 überreichten Menschenrechtsaktivisten der Regierung eine Liste mit Informationen über 122 Massengräber auf Sumatra und Java, in denen 1.999 Personen begraben worden sein sollen.

Internationale Abkommen:

1980 haben die Vereinten Nationen eine Kommission zur Bekämpfung derartiger Vorfälle gegründet. Die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen (Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen) wurde am 20. Dezember 2006 von der UN-Generalversammlung verabschiedet und trat am 23. Dezember 2010 in Kraft. Seitdem wurde das Abkommen von 97 Ländern unterzeichnet, die Türkei gehört nicht dazu.

Die Türkei und die Anwendung der Methode des Verschwindenlassens

Die ersten Opfer dieser Methode waren 234 führende Personen der Armenischen Bewegung am 24. April 1915.

In der jungen Republik (1923) folgten andere. Der bekannteste Fall war der Schriftsteller Sabahattin Ali. Es waren Einzelfälle, die in die Geschichte eingingen.

Kurz nach dem Militärpusch 1980 wurde die Methode “Verschwindenlassen“ massiv gegen linke Oppositionelle eingesetzt. Trotzdem konnte dies für den Zeitraum von 1980 bis 1990 nur bei 22 Menschen nachgewiesen werden. Der Verbleib ihrer Leichname ist ungeklärt.

Es gibt bis heute keinen genauen Zahlen darüber wie viele Menschen der Staat verschwinden ließ.

Nach bis heute andauernden Untersuchungen geht man von 1.352 Vermissten (Berichte, Anzeigen und Erklärungen der Familienangehörigen) aus. Bislang konnten im Rahmen dieser Untersuchungen nur 500 Personen idenfiziert werden. 28 von diesen 500 Menschen sind unter 18 Jahre alt. Das jüngste Opfer ist die 3-jährige Dilek Sirin. Sie hat man am 23.09.1994 mit ihren Familienangehörigen Düzali Serin, Elif Işık, Gülizar Serin, Hatun Işık, Hıdır Işık und Yeter Işık verschwinden lassen. Auch hier ist der Verbleib der Leichname unbekannt. 482 der Verschwundenen sind Männer und 18 sind Frauen.

Anzahl verschwundener Menschen nach 1990

1991 12
1992 18
1993 81
1994 202
1995 97
1996 31
1997 13
1998 11
1999 9
2000 1
2001 2
2004 1
Verteilung auf Städte

Şırnak 135
Diyarbakır 123
Mardin 65
Hakkari 45
Batman 26
İstanbul 26
Şanlıurfa 13
Tunceli 11
Bitlis 10
Ankara 7
Andere 39
Die Tabelle zeigt, dass insbesondere Kurden von der Methode des “verschwinden lassen“ betroffen waren.

Die Klagen der Familienangehörigen werden in der Türkei hinausgezögert und wegen Verjährung abgewiesen. Nur selten kommt es zur Verurteilung, wenn die Beweislast zu schwer wiegt und nicht ignoriert werden kann. Nachdem alle Rechtsmittel in der Türkei erschöpft waren, wandten sich einige Anwälte an die EU. Bei der Menschrechtskommission der EU wurden jedoch viele Klagen abgewiesen. Nur in wenigen Fällen wurde die Türkei verurteilt.

Der Staat entledigt sich der Menschen, die er nicht einschüchtern kann, indem er sie verschwinden lässt. Die neuesten Fälle zeigen deutlich, dass das Erdogan Regime an dieser Methode festhalten wird. Im deutschsprachigen Raum wird wenig darüber berichtet, man will es sich mit Erdogan nicht verscherzen.

Quellen:

https://www.artigercek.com/haberler/90-li-yillarin-beyaz-toroslari-bugunun-beyaz-transporterlari

https://hakikatadalethafiza.org

https://linkezeitung.de/2019/03/10/die-verschwundenen-der-tuerkei/