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Elbchaussee-Prozess: Von fürsorglicher und rachsüchtiger Klassenjustiz

Im richtigen Lichte betrachtet ist „Elbchaussee-Prozess“ eine schillernde Wortschöpfung, mit der man alles Mögliche assoziieren kann.

Es ließe sich zum Beispiel die angenehme Vorstellung an diesen Begriff knüpfen, es sei ein Verfahren gemeint, bei dem all die Steuerhinterzieher, Waffenhändler und sonstigen Schwer- und Wirtschaftsverbrecher*innen, die an dieser den Reichtum Hamburgs wie keine andere symbolisierenden Straße in ihren Villen mit Elbblick residieren, auf der Anklagebank sitzen. Ein Verfahren, für das eine Soko „Weiße Weste“ in monatelanger mühsamer Kleinarbeit mit Hilfe modernster Software vorgearbeitet hat. In dem die Staatsanwaltschaft ein flammendes Plädoyer hält und die Angeklagten als einen „skrupellosen und raffgierigen Mob, der auf unterster sittlicher Stufe steht“ anprangert. In dem die Angeklagten zu hohen Haftstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt werden, auf dass sie die Allgemeinheit fürder hin nicht mehr schädigen können.

Das ist leider nur ein schöner Traum. Natürlich standen im „Elbchaussee-Prozess“ nicht die Herren und Profiteure dieser „Ordnung“ vor Gericht, sondern fünf junge Männer, die es gewagt hatten, eben diese „Ordnung“ nicht nur verbal in Frage zu stellen, sondern sie auf eben dieser Straße gezielt anzugreifen. So etwas können die Herrschenden nicht durchgehen lassen. Folglich wurden die Fünf am 10. Juli von der Großen Strafkammer 17 des Landgerichts Hamburg wegen schweren Landfriedensbruchs und Beihilfe zur Brandstiftung verurteilt. Sie wurden quasi stellvertretend für alle etwa 220 Aktivisten verknackt, die am 7. Juli 2017, dem ersten Tag des G-20-Gipfels in der Hansestadt, durch Altona gezogen waren und für Glasbruch gesorgt hatten. Sie waren die einzigen aus der Menge, die die Soko „Schwarzer Block“ trotz ihres fanatischen Verfolgungswillens und moderner Gesichtserkennungssoftware identifizieren konnte.

Von „milden Urteile“ schrieb die bürgerliche Presse anschließend. Und gemessen an den Strafen, die die Staatsanwaltschaft gefordert hatte, gemessen an den grotesk harten Haftstrafen für andere Gipfelgegner*innen wie etwa den Niederländer Peike S., war diese Einordnung gar nicht mal falsch. Zwei der vier Angeklagten bekamen Haftstrafen auf Bewährung, ein Jahr und drei Monate respektive ein Jahr und fünf Monate. Die zwei, die zum Tatzeitpunkt noch minderjährig waren, kamen mit 20 Arbeitsstunden davon. Der Franzose Loic S., der einzige, dem konkrete Straftaten zugeordnet wurden, wurde zu drei Jahren Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, saß davon etwa eineinhalb Jahre schon in Untersuchungshaft.

Tatsächlich sind die Haftstrafen natürlich nicht milde oder moderat. Dieser Prozess war, wie die anderen G-20-Verfahren, Ausdruck von Klassenjustiz. Schon der Umfang, die zeitliche Dauer, die Akribie, mit der in diesem Verfahren vorgegangen wurde, belegen das. Sogar der Vorsitzenden Richterin, die als „liberal“ geltende Anne Meier-Göring, schien ein Problem zu haben mit dem Aufwand, den die Kammer betrieben hatte. Es klang wie ein Stoßseufzer, als sie beim Verlesen der Urteilsbegründung die Eckdaten des zu Ende gehenden Prozesses nannte. In gut eineinhalb Jahren habe man an 67 Verhandlungstagen 116 Zeugen und drei Sachverständige gehört, sich durch zehn Umzugskartons Akten gewühlt und „gefühlt einen Monat lang Videos angesehen“.

Meier-Göring hielt nicht damit hinter dem Berg, bei wem sie die Verantwortung für die lange Prozessdauer sah. In der Urteilsverkündung warf sie der Staatsanwaltschaft vor, sie habe das Verfahren unnötig in die Länge gezogen, indem sie darauf beharrt hatte, sämtliche Straftaten, die aus dem Aufzug begangenen worden waren, allen Teilnehmern zuzuschreiben – sogar jene, die geschehen waren, nachdem die Angeklagten längst das Weite gesucht hatten. Darum habe man jede noch so geringe Sachbeschädigung dieses Morgens in Altona bis in kleinste Details beleuchten müssen.

Überhaupt ging die Richterin die Staatsanwaltschaft in der Urteilsbegründung massiv an, ebenso den 1. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG), mit dem sie erkennbar noch ein Hühnchen zu rupfen hatte. Hatte dieser Senat doch noch vor Beginn des Prozesses im Dezember der Kammer vorgehalten, sie verkenne die Dimension der Gewalt beim fraglichen Aufzug, hatte hohe Haftstrafen gefordert und die Angeklagten als Teil eines „auf unterster sittlicher Stufe stehenden Mobs“ diffamiert. Diese Äußerung wies Meier-Göring scharf zurück. Der Staatsanwaltschaft warf sie vor, es sei ein „Griff in die juristische Trickkiste“ gewesen, alle Taten allen zuzuordnen. Die Behauptung, der ganze Aufzug sei von vorn bis hinten durchgeplant, „choreografiert“, gewesen und alle Teilnehmern hätten davon gewusst, sei durch nichts bewiesen.

Wie vor dem Urteil befürchtet, wurden vier der fünf Angeklagten aber dennoch wegen Schweren Landfriedensbruchs verurteilt, obwohl ihnen keine konkreten Taten zugeordnet worden. Von der Roten Hilfe, der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Ulla Jelpke, und anderen wurde dies als bedrohlich für die Versammlungsfreiheit eingeordnet. Angesichts der Tendenzen in Gesetzgebung und Rechtsprechung ist das sicher nicht von der Hand zu weisen und das bevorstehende Rondenbarg-Verfahren wird zeigen, wie weit das noch gehen und was das für Folgen haben kann. Auf der anderen Seite ist dem Urteil eine gewisse innere Logik nicht abzusprechen

Aus Sicht der Kammer handelte es sich eben von Anfang an nicht um eine unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit stehende Demonstration. Gleich zu Beginn seien brennende Mülltonnen auf die Fahrbahn gezogen worden, jeder habe mitbekommen müssen, wie zahlreiche Fahrzeuge angezündet und zu beiden Seiten Fensterscheiben eingeschlagen und eingeworfen worden seien. Die Gewalt habe dem Aufzug von Anfang an „auf der Stirn gestanden“, so Meier-Göring. Sie stufte die vier Angeklagten, denen keine konkreten Taten zugeordnet worden, als Teilnehmer des schweren Landfriedensbruchs ein, der „mit vereinten Kräften“, wie es im entsprechenden Paragraphen heißt, begangen worden sei – nämlich indem die Menge, in die sich die Angeklagten eingeordnet hätten, den Straftätern Schutz und Rückhalt geboten habe.

Dennoch handelt es sich bei dem Urteil um Klassenjustiz. Man könnte sagen, dass es eine Variante der Klassenjustiz mit fürsorglichem Antlitz repräsentiert, während die Forderungen und Zuschreibungen der Staatsanwaltschaft und des 1. Strafsenats des OLG die strafende, rachsüchtige Version der Klassenjustiz darstellen, bei der der linke Klassenfeind letztlich aufs härteste bestraft werden soll. Nicht zufällig nutzten Staatsanwaltschaft und OLG unisono Begrifflichkeiten, die aus dem Hitlerfaschismus in die Jugendstrafgesetze übernommen wurden respektive dort verblieben sind.

Meier-Göring zeigte in der Urteilsbegründung viel Verständnis für die Angeklagten, bezeichnete sie als intelligent, würdigte gar ihr politisches Engagement. Gerade vor diesem Hintergrund könne sie aber noch weniger begreifen, so die Richterin, warum die Fünf sich dem Aufzug in Altona angeschlossen hätten. Denn die Gewalttaten, die dort verübt worden seien, hätten sicher nicht dazu beigetragen, die Welt zu einem „better place“ zu machen.

Diese Passage war vielleicht die spannendste und aufschlussreichste in der gesamten Urteilsverkündung. Sie illustrierte exemplarisch das völlige Unverständnis, mit dem bürgerliche Kreisen auf Wut und Militanz reagieren. Wenn man in gesicherten Verhältnissen lebt und die Fassade für die Realität nimmt, dann glaubt man natürlich auch an das Funktionieren des Rechtsstaats. Es gibt aber genug Gründe, diesen Staat und dieses System zu bekämpfen. Loic hat in seinen beeindruckenden Prozesserklärungen einiges dazu gesagt. Angesichts der Schweinereien, die allein die eingangs erwähnten Anwohner der Elbchaussee begehen, sind die Sachbeschädigungen, zu denen es am 7. Juli 2017 an dieser Straße kam, doch nur Peanuts.
Autor*in
Kristian Stemmler

https://lowerclassmag.com/2020/07/17/elbchaussee-prozess-von-fuersorglicher-und-rachsuechtiger-klassenjustiz/