Mit immer mehr Maßnahmen verfolgen EU-Institutionen grenzüberschreitende linke Bewegungen. Dem BKA haben es angebliche „Euro-Anarchisten“ besonders angetan
Seit 2002 ist die EU-Polizeiagentur für die Verfolgung von Umwelt- und Tierrechtsaktivismus bekannt. Jetzt bekommt die Kriminalisierung internationaler politischer Kampagnen eine neue Facette: Eine Konferenz von Europol nimmt unter anderem verkehrspolitische und antirassistische Aktivisten aufs Korn. Um die Kompetenzen der Behörden zu erweitern, werden die Ausgeforschten mit Absendern von Briefbomben gleichgesetzt. Auch der EU-Geheimdienst ist mit von der Partie.
Europol organisiert eine Konferenz zu anarchistischen Bewegungen in der Europäischen Union. Dies berichtete ein Sprecher der EU-Polizeiagentur letzte Woche in der Ratsarbeitsgruppe „Terrorismus“. Demnach soll die Veranstaltung am 25. April stattfinden. Über den Ort wurden keine Angaben gemacht. Gewöhnlich finden derartige Zusammenkünfte aber am Sitz der Agentur in Den Haag statt.
Im Sommer 2011 bezog Europol einen ausschweifenden Neubau. Dort haben fortan neben den umfangreichen Informationssystemen und forensischen Abteilungen auch die Verbindungsbeamten der 27 EU-Mitgliedstaaten sowie von weiteren neun Regierungen Platz (Wer kontrolliert Europol?).
Initiative aus Italien
Die Mitteilung von Europol erfolgte im Rahmen eines Referats der italienischen Delegation über Aktivitäten der „Federazione Anarchica Informale“ (F.A.I.). 2003 hatte sich die italienische Gruppe in einer „Operation Weihnachtsmann“ zum Versand von Päckchen bekannt, die beim Öffnen eine Stichflamme entfachten („Archipel der Gewaltbereitschaft“). Auch an die Europäische Zentralbank (EZB) und an Europol wurde derartige Post verschickt. Zuletzt erhielt im Dezember der Chef der Deutschen Bank einen mit Sprengstoff gefüllten Brief, dem ein Bekennerschreiben der F.A.I. beigelegt war (Explosive Post an Ackermann).
Nicht nur innerhalb linker Bewegungen wird über die Authentizität der Gruppe gerätselt. Tatsache ist, dass immer wieder Anschläge die Handschrift der F.A.I. tragen und Erklärungen hierzu auf einschlägigen Webseiten publiziert werden. Auch Inhaftierte beziehen sich international positiv auf die F.A.I. – ein Indiz dafür, dass es sich eher um ein Netzwerk oder um einen Sammelbegriff für eine Aktionsform handelt.
Jedoch soll die Konferenz von Europol zu „Anarchismus“ mitnichten nur militante Aktionen beargwöhnen, die von den Behörden in den Kontext des „Anarchismus“ gestellt werden. In anderen Papieren der Europäischen Union wird zirkuliert, dass ein Fokus auf jenen Gruppen liegen soll, die grenzüberschreitenden Widerstand gegen Schienennetzwerke organisieren. Damit dürfte erneut eine italienische Protestbewegung gemeint sein: gegen eine Schnellbahntrasse durch das Susa-Tal im Nordwesten Italiens (Aus für Hochgeschwindigkeitszüge).
Widerstand im Susa-Tal
Seit rund 20 Jahren plant die italienische Regierung eine Hochgeschwindigkeitsverbindung von Turin ins französische Lyon. Von Beginn an leistete die lokale Bevölkerung erbitterten Widerstand gegen den „Treno ad Alta Velocità“ (TAV). Kritisiert werden nicht nur die 20 Milliarden Euro, die das Vorhaben vermutlich kostet. Bei den Tunnelbauarbeiten würde zudem uran- und asbesthaltiges Gestein freigesetzt und oberirdisch gelagert. Etliche Grundstücke werden enteignet.
Die „No TAV“-Bewegung zählt auf einen starken Rückhalt in der italienischen Linken, vergleichbar mit den Protesten gegen den bislang jährlichen Castor-Transport in Deutschland. 2005 beteiligten sich 80.000 Menschen an einer Großdemonstration in Turin. In der anschließenden “ Schlacht von Venaus“ blockierten Aktivisten die Zufahrtsstraßen, woraufhin die Bauarbeiter samt schützender Polizei aus dem Tal abziehen mussten. Letzten Monat protestierten erneut rund 70.000 Menschen. Tausende Demonstranten reisten aus ganz Italien und anderen europäischen Ländern an.
Es sind wohl jene internationalen Netzwerke, die der italienischen Regierung ein Dorn im Auge sind und die nun von Europol aufs Korn genommen werden sollen. Tatsächlich versucht die Regierung in Rom, die Proteste zu kriminalisieren. Die Polizei behauptete kürzlich, die Demonstranten würden Tote in Kauf nehmen und seien als „terroristisch“ einzustufen. Demgegenüber war es die Polizei, die einen Baumkletterer aus großer Höhe abstürzen ließ und schwer verletzte.
Kriminalisierung von „Grenzcamps“
Doch noch eine weitere internationale Bewegung erregt das Interesse der EU- Polizeiagentur: Die Aktivitäten des sogenannten „No Border“-Netzwerks sollen ebenfalls auf der Konferenz im April thematisiert werden.
Seit den frühen 90er Jahren organisieren migrationssolidarische Gruppen mit Netzwerken wie „Kein Mensch ist illegal“ regelmäßige grenzüberschreitende Demonstrationen, Camps oder Kampagnen. Tatsächlich sind die Aktivisten international gut vernetzt: Für dieses Jahr wollen sie unter dem Motto „Boats for people“ mit mehreren Schiffen auf dem Mittelmeer Präsenz zeigen und dort gegen die menschenverachtende Politik der EU-Grenzschutzagentur Frontex demonstrieren.
Doch der Schlüssel für das polizeiliche Interesse an der „No Border“-Bewegung liegt weniger im Mittelmeer, als vielmehr auf einem der jüngsten „Grenzcamps“ im September 2010 in Brüssel. Die belgische Polizei wollte in einer beispiellosen Aktion verhindern, dass die Teilnehmer des Camps an einer internationalen Gewerkschaftsdemonstration teilnehmen. Geholfen hatte dabei vermutlich der später aufgeflogene deutsche Polizeispitzel Simon Bromma. Der vom Landeskriminalamt (LKA) Stuttgart geführte verdeckte Ermittler schlich sich ins Camp ein und unterwanderte dessen Organisationsstrukturen.
Seine „Erkenntnisse“ gab Bromma an das LKA Stuttgart weiter („Ich habe täglich berichtet“). Womöglich gelangten die Falschinformationen daraufhin an die belgische Polizei: „96 Anarchisten wurden verhaftet, als sie an der Demonstration teilnehmen wollten“, meldete kurz darauf der Brüsseler Polizeisprecher. Doch es ging lediglich um die vermeintliche Gesinnung, denn den Festgenommenen wurde keinerlei Vorwurf gemacht: Weder führten sie verbotene Gegenstände mit, noch nahmen sie strafrechtlich relevante Handlungen vor. Vermutlich aus Protest gegen die „präventiven“ Massenfestnahmen wurden allerdings wenige Tage später mehrere Scheiben eines Polizeireviers beschädigt.
Beobachtung von Umwelt- und Tierrechtsaktivisten
Mit den antirassistischen und verkehrspolitischen Aktivisten geraten erneut linke Bewegungen in den Fokus von Europol. Erst kürzlich wurde offenkundig, dass die Polizeiagentur grenzüberschreitende Initiativen von Umwelt- und Tierrechtsaktivisten beobachtet. Während sich in entsprechenden Berichten bereits Einträge seit 2002 finden, datiert die Bundesregierung den Beginn der Überwachung erst auf 2006. Europol wertet hierfür „öffentlich zugängliche Quellen“ aus. Analysiert werden Tierbefreiungen in Nerzfarmen, oder „Aktionen und Angriffe“ gegen Bekleidungsgeschäfte, die Pelzbekleidung verkaufen. Alle „Erkenntnisse“ werden in dem jährlichen „Terrorism Situation and Trend Report“ (TE-SAT) publiziert. Auf Grundlage der Informationen organisiert die Agentur regelmäßige Konferenzen zu „Tierrechtsextremismus“.
Die Beobachtungen werden in den weitgehenden Analysearbeitsdateien (AWF) abgelegt, die teilweise regelrechte Dossiers über Personen, Objekte oder Tathergänge enthalten können. Umwelt- und Tierrechtsaktivismus wird in der AWF „Dolphin“ gespeichert, die 2003 eingerichtet wurde. Das für die Datensammlung zuständige Fachreferat bei Europol ist die Organisationseinheit „O 4 Counter Terrorism“.
Ursprünglich sollte „Dolphin“ lediglich Informationen über jene terroristischen Gruppen bevorraten, die von der EU als „terroristisch“ eingestuft wurden und in deren halbjährlichen „Terrorlisten“ auftauchen (“ Zivile Todesstrafe“). Bereits zwei Jahre nach ihrer Einführung hatte „Dolphin“ über 6.000 Einträge. Auch deutsche Polizeien liefern über das Bundeskriminalamt (BKA) Daten an die AWF „Dolphin“: Nämlich immer dann, wenn zwei oder mehr EU-Mitgliedstaaten von einer verfolgten Straftat betroffen sind. Das BKA legt vorher fest, ob „aufgrund des Umfangs, der Bedeutung und der Folgen der Straftat ein gemeinsames Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten erforderlich ist“. Auch für die „Bedrohungsanalysen“ von Europol schickt die Wiesbadener Bundesbehörde vierteljährliche Berichte.
Nicht nur durch die Listung in der „Dolphin“-Datei werden die politischen Aktivisten kriminalisiert. Im Mai werden die zahlreichen Analysearbeitsdateien bei Europol neu strukturiert und fortan unter den beiden Schlagworten „Organisierte Kriminalität“ und „Terrorismus“ geführt. Wieder wird Umwelt- und Tierrechtsaktivismus dann unter „Terrorismus“ verschlagwortet. Die belgische Ratspräsidentschaft hatte 2010 angeregt, “ Tierrechtsextremismus“ in die Europol-Analysedatei „Check the Web“ aufzunehmen, die bis dahin nur „islamistischen Terrorismus“ beobachtete. Offensichtlich verlief der Vorschlag aber im Sande.
Ziercke und die „Euro-Anarchisten“
Die jetzigen Initiativen gegen Anarchismus in der Europäischen Union bleiben jedoch ohne Blick auf den Chef des deutschen Bundeskriminalamts unverstanden. Jörg Ziercke war im Januar letzten Jahres vom Innenausschuss des Bundestages befragt worden, wozu seine Behörde mit Großbritannien ausgiebig verdeckte Ermittler tauscht. Mehr als ein Dutzend britische Spitzel waren 2007 beim G8-Gipfel in Heiligendamm eingesetzt gewesen, fünf deutsche Polizisten zuvor 2005 beim G8-Gipfel im schottischen Gleneagles (Mit falschen Papieren gegen „Euro-Anarchisten“).
Ziercke hatte die fragwürdige Heimlichtuerei gegen die damals international erstarkende Anti-G8-Bewegung mit einer „Europäisierung der Anarchoszene“ begründet. Deren Protagonisten aus Griechenland, Spanien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Deutschland würden angeblich „schwerste Straftaten“ begehen. Deshalb müssten Polizeien laut Ziercke vermehrt „international und konspirativ“ agieren.
Jedoch blieben die orakelten „schwersten Straftaten“ beim G8 in Heiligendamm aus und wurden auch bei späteren Protesten nicht gesichtet. Hiernach befragt, setzt die Bundesregierung die erfolgreichen Gipfelproteste trotzig mit der „grenzüberschreitenden Versendung von Briefbomben“ gleich. Ins gleiche Horn stieß der BKA-Chef, der die in Heiligendamm eingesetzten britischen Spitzel gegen „Euroanarchisten, militante Linksextremisten und -terroristen“ am Werk sieht.
Zierckes Vokabular war aufschlussreich: Der Begriff „Euro-Anarchisten“ war bis dahin im deutschen Sprachraum nicht gebräuchlich. Erstmals eingeführt wurde er 2003 als angebliches „Kartell europäischer Anarchistengruppen“ vom damaligen italienischen Innenminister Guiseppe Pisanu. Anlass waren die Briefe mit Sprengstoff der F.A.I. an Europol und die EZB.
„Euro-Anarchisten“ scheinen jedoch längst zum gemeinsamen Oberbegriff der Polizeizusammenarbeit innerhalb der EU geworden sein. In diese fragwürdige Matrix werden auch alle anderen grenzüberschreitenden linken Bewegungen eingebaut, um sie leichter kriminalisieren und durchleuchten zu können.
Doch nicht nur Europas Polizeien organisieren sich gegen linke Bewegungen: Der als „gemeinsames Lagezentrum“ (SitCen) bezeichnete EU-Geheimdienst widmet sich wie Europol dem „Phänomen ‚Anarchismus'“. Im Oktober hatte der Dienst ein „Situation Assessment“ erstellt, für das Geheimdienste der Mitgliedstaaten Informationen anlieferten. Das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz steuerte „auf Anfrage von SitCen“ ebenfalls einen Beitrag bei. Weitere Berichte kamen aus Zypern, Spanien und Griechenland.
Auch Eurojust durchleuchtet linken Aktivismus. Die EU-Agentur zur justiziellen Zusammenarbeit vernetzt die Staatsanwaltschaften der Mitgliedstaaten und hat bereits mehrere Veranstaltungen zum Thema „Tierrechtsextremismus“ ausgerichtet. Vier deutsche Staatsanwälte und Richter sind mit dem „deutschen Tisch“ bei Eurojust beteiligt. Die Agentur gilt als „Keimzelle“ einer zukünftigen EU-Staatsanwaltschaft.