Falschmeldung

Prinzip »copy and paste«
Leitmedien der BRD übernehmen irreführende Meldung der Polizei zur Silvesternacht in Berlin

Aus 145 wurden 38: Die unkritische Übernahme von Polizeimeldungen bestimmte unmittelbar die politische Diskussion zum Jahresbeginn

Für gewöhnlich sind die ersten Tages eines neuen Jahres eher nachrichtenarm. Um so dankbarer stürzten sich die bürgerlichen Medien Anfang Januar auf die Vorfälle in der Silvesternacht in Berlin, bei denen Rettungskräfte und Polizisten mit Böllern, Raketen und Schreckschusspistolen attackiert wurden. Tagelang gab es bundesweit kaum ein anderes Thema. Die Ereignisse wurden zu »Silvesterkrawallen« hochgeschrieben. Bild berichtete von der »Silvesterschande von Berlin«, Reporter schwärmten in Neukölln aus, um die Anwohner zu befragen. Politiker von FDP und Union nutzten im Verein mit den Springerblättern und Polizeigewerkschaften die Gelegenheit, der Debatte eine rassistische Stoßrichtung zu geben und die Migranten zum eigentlichen Problem zu erklären.

Nach gut einer Woche stellte sich heraus: Die Steilvorlage für diese Argumentation hatte die Polizei geliefert, und zwar mit falschen Angaben zu den Vorfällen der Silvesternacht. Der Vorgang zeigt, wie groß der Einfluss der Polizeipressearbeit bereits ist, wie mit dieser Diskurse ausgelöst oder zumindest in eine bestimmte Richtung gelenkt werden können. Von 145 Personen, die nach den Böllerwürfen festgenommen worden waren, hatte die Polizei berichtet, und dass diese zu insgesamt 18 Nationalitäten gehörten. Die Leitmedien hatten diese Zahlen bereitwillig übernommen, bestätigten sie doch alle rassistischen Klischees vom Problemkiez Neukölln mit seinem hohen Anteil an Migranten.

Erst am 8. Januar berichtete der Tagesspiegel über die korrekten Zahlen, die das Blatt aus Polizeikreisen erfahren hatte. Danach hatte die Zahl der nach den Böllerattacken Festgenommenen tatsächlich nur bei 38 gelegen und davon waren zwei Drittel Deutsche. Die Zahl 145 habe sich dagegen auf alle Personen bezogen, die von den zu Silvester eingesetzten Polizeikräften in der gesamten Stadt festgenommen worden waren, auch wegen ganz anderer Delikte.

Den bürgerlichen Medien war diese entscheidende Korrektur kaum eine Meldung wert. Zu den wenigen, die den Verlauf der Debatte noch einmal näher ansahen und dabei auch Selbstkritik äußerten, gehörte die Süddeutsche Zeitung. In einem Beitrag vom 12. Januar beleuchtete sie die Medienarbeit der Polizei. Das Blatt wies auf den Umstand hin, dass diese ihre PR in den vergangenen Jahren nicht nur in Berlin ausgebaut und professionalisiert hat. Sie habe einen »starken Apparat« von Pressesprechern aufgebaut, die nicht nur Pressemitteilungen schreiben, sondern auch in den Social Media präsent sind, etwa bei Twitter ihre Sichtweise der Dinge verbreiten.

Die SZ schrieb von einem »Missverständnis«, dass unter Pressevertretern verbreitet sei. Nämlich, dass Journalisten Verlautbarungen der Polizei mehr Vertrauen entgegenbringen dürften als denen von anderen Akteuren, dass diese quasi als Tatsachen betrachtet werden könnten. Es ist gängige Praxis in den Redaktionen der Republik, Angaben der Polizei ungeprüft zu übernehmen. Juristisch ist das durchaus gedeckt. So sagen die Pressekammern der Landgerichte in ständiger Rechtsprechung, den Mitteilungen der Polizei dürfe »ein gesteigertes Vertrauen entgegengebracht werden«, unter anderem weil »Behörden in ihrer Informationspolitik unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind«.

Dabei berücksichtigt die Justiz offenkundig nicht, dass die Öffentlichkeitsarbeit der Polizei durchaus interessengeleitet ist. Die SZ kritisierte in ihrem Beitrag, Sicherheitsbehörden würden instrumentalisiert, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das Blatt schreibt von einer »PR-Eifrigkeit«, es würden bewusst einseitige News produziert. Warum die Polizei damit auf eine so breite Resonanz stößt, darauf ging die Süddeutsche allerdings nicht näher ein, vermutlich, weil sie ihre eigene Position dann auch grundsätzlich in Frage stellen müsste.
junge Welt 19.1.23