flüchtlinge

Flüchtlinge in die Fachkräftelücke nd 16.9.

Jörg Kronauer über die Strategie der deutschen Wirtschaft, den heimischen Wohlstand zu sichern

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat die Menschlichkeit entdeckt. Da fliehen Hunderttausende aus zerschossenen, verwüsteten Kriegsgebieten, um ihr blankes Leben zu retten – und die reiche Bundesrepublik schottet sich ab? Nicht mit Ulrich Grillo. »Als Wohlstandsstaat und auch aus christlicher Nächstenliebe sollte es sich unser Land leisten, mehr Flüchtlinge aufzunehmen«, hat der BDI-Präsident schon Mitte August gemahnt. Kürzlich hakte er nach. Nicht wenige Flüchtlinge hätten »eine wirklich gute Ausbildung« absolviert, sagte er vor einigen Tagen dem »Focus«; sie besäßen also ein Potenzial, das man sich nicht entgehen lassen dürfe. »Wenn wir es schaffen, die möglichst zügig in den Arbeitsmarkt zu integrieren, dann helfen wir den Flüchtlingen«, tönte Grillo – »und wir helfen  uns«.

 

Die Klage über mangelnde Fachkräfte ist nicht neu, wird von der Wirtschaft aber neu aufgetischt. »In 96 von 619 Berufen fehlten zwischen August 2011 und April 2015 anhaltend Fachkräfte«, hielt das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln im Juli fest. Wenig später berichtete der Personaldienstleister ManpowerGroup, 40 Prozent der Unternehmen in Deutschland meinten, sie erhielten zu wenig Bewerbungen auf offene Stellen. Es gebe durchaus »Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern sowie in Gesundheits- und Pflegeberufen«, räumt die Bundesagentur für Arbeit ein. Auch bei der Ausbildung hapert es aus Sicht der Wirtschaft. Im August hieß es beim Zentralverband des Deutschen Handwerks, es seien noch 27 000 Ausbildungsstellen zu vergeben. Schon 2014 hätten »32 Prozent der Betriebe nicht alle angebotenen Stellen besetzen« können, teilte jüngst die Bereichsleiterin Ausbildung beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag mit. Bis 2030 »könnten uns sechs Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter am Arbeitsmarkt fehlen«, ließ sich kürzlich der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ingo Kramer, vernehmen: Gelinge es nicht, die »Fachkräftelücken zu schließen«, dann seien »unser Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland bedroht«.
Gesucht werden Fachkräfte und Azubis – und da hagelt es junge Menschen und Akademiker gleich zu Zehntausenden ins Land. 18,5 Prozent aller Flüchtlinge hätten einen Hochschulabschluss, die »meisten Asylbewerber« seien »junge Männer«, hielt das IW Köln im Juli fest: Was für eine Chance! Viele der Flüchtlinge gerade aus Syrien seien »hoch qualifiziert in Berufen, für die wir hier sehr gute Verwendung haben«, hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière schon Ende 2014 erklärt. Auch die Flüchtlinge aus Südosteuropa, die in ihren Herkunftsländern »kaum Perspektiven« für »ein Leben in Würde« sähen, solle man nutzen, schrieb Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) Ende August in der »Welt«: Man werde sie zwar wohl abschieben müssen, könne aber auf dem Balkan Berufsbildungszentren gründen, in denen einige »so qualifiziert« würden, »dass sie für den deutschen Arbeitsmarkt auch wirklich geeignet sind«, empfahl der Genosse der Bosse. Prompt sprang ihm der aktuelle Boss der Genossen zur Seite: Man könne die Steuermehreinnahmen für »Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen« für Flüchtlinge nutzen, die – zugegeben – die »deutsche Arbeitskultur« noch nicht kennten, erklärte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Sie bräuchten »Hilfe beim Einstieg in den Arbeitsmarkt«. Wohl nicht ohne Anlass hat Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) jetzt darauf hingewiesen, dass der Mindestlohn auch für Flüchtlinge gilt.

Für völkische Rassisten, von denen es in Deutschland nach wie vor viel mehr gibt, als NPD und AfD bei Wahlen absorbieren können, sind die Vorstöße des BDI und seines politischen Arms ein schwerer Schlag. Ariertümelei legt der Wirtschaft derzeit beim Thema Arbeitskräfte nur Steine in den Weg; deshalb ist die Bundesrepublik denn auch zum »Einwanderungsland« geworden, wie BDI-Chef Grillo erklärt. Dass Berlin ökonomische Anlässe braucht, um eine gewisse Offenheit für Flüchtlinge zu zeigen, kann man moralisch beklagen. Besser aber sollte man eine kühle Erkenntnis daraus ziehen:

Die Menschlichkeit des deutschen Establishments ist die Nächstenliebe des Managers und seines Buchhalters für den Profit, der allein ihnen das Herz erwärmt. Es ist dieselbe Eigenschaft, die Berlin bei Bedarf auch Bomben auf Belgrad werfen oder den Sturz der syrischen Regierung planen und damit Menschen auf die Flucht treiben lässt.