Genozid an den Herero, Nama und in Gaza: Die moralische Fassade Deutschlands bröckelt

Seit 112 Tagen bombardiert Israel pausenlos den Gazastreifen. Ganze Familien wurden ausgelöscht, kein einziges Mitglied lebt mehr. Ende 2023 verkündete Südafrika schließlich, dass es Israel wegen Völkermord am Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagen werde, seit dem 10.1. laufen die Verhandlungen. Nun schreitet aber auch die Bundesregierung ein und stellt sich als Drittpartei an die Seite Israels. Seien es der Genozid an 100.000 Herero und Nama von 1904 bis 1915 oder jetzt, die bedingunglose und militärische Unterstützung Israels im Krieg gegen Palästina: Ein Blick in die deutsche Geschichte reicht, um zu sehen, wie gerne Deutschland sich mit einer oberflächlichen Erinnerungskultur schmückt, um weitere Kriegsverbrechen und Völkermorde zu verdecken.

120 Jahre Genozid an den Herero und Nama

Die Bundesregierung verkündete am 12.1.2024:

“Angesichts der deutschen Geschichte und des Menschheitsverbrechens der Shoa sieht sich die Bundesregierung der Konvention gegen Völkermord besonders verbunden (…) Den nun vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Israel erhobenen Vorwurf des Völkermords weist die Bundesregierung aber entschieden und ausdrücklich zurück. Dieser Vorwurf entbehrt jeder Grundlage.”

Am selben Tag antwortete auch die Regierung Namibias mit einem Statement:

“Angesichts der Unfähigkeit Deutschlands, Lehren aus seiner schrecklichen Geschichte zu ziehen, bringt Präsident Hage G. Geingob daher seine tiefe Besorgnis über die schockierende Entscheidung zum Ausdruck, die die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gestern, am 12. Januar 2024, mitgeteilt hat (…) Deutschland kann sich nicht moralisch zur Konvention der Vereinten Nationen gegen Völkermord bekennen, einschließlich der Sühne für den Völkermord in Namibia, während es das Äquivalent eines Holocausts und Völkermords in Gaza unterstützt.”

Deutschland war von 1884 bis 1915 Kolonialmacht im heutigen Namibia. Die deutsche Kolonialverwaltung und ihre Siedler bekämpften die lokale Bevölkerung und schlugen regelmäßig Aufstände nieder. Als im Mai 1904 General Lothar von Trotha das Kommando über die Kolonialverwaltung übernahm, begann ein grausamer Vernichtungskrieg gegen die Herero und anschließend gegen die Nama, der bis 1915 andauerte. Nach der Schlacht am Waterberg trieb die deutsche Besatzungsmacht tausende Herero-Soldaten mit ihren Familien in die Omaheke-Wüste. Von Trotha ließ die Wüste monatelang abriegeln und die wenigen Wasserstellen bewachen, sodass Zehntausende verdursteten. Daraufhin erließ er einen sogenannten “Vernichtungsbefehl”:

“Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu Ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“ (Quelle: Externer Link: BArch R 1001/2089)”

Auch die Nama leisteten Widerstand und führten über 4 Jahre Guerilla-Gefechte mit den deutschen Kolonialtruppen. Gegen sie wurde am 22. April 1905 ebenfalls ein Vernichtungsbefehl erlassen. Ungefähr 80 % der Herero wurden ermordet, in den Konzentrationslagern, die die deutsche Kolonialverwaltung bauen ließ, starben schätzungsweise zwischen 1904 und 1908 54.000 bis 74.000 Herero und Nama, manche Quellen besagen bis zu 100.000.

Rund 110 Jahre später, 9 Jahre nach der Aufforderung der namibischen Nationalversammlung, begann der offizielle Dialog zwischen Deutschland und Namibia zur “Aufarbeitung” des Genozids. Die Verhandlungen dauerten ganze sechs Jahre an, das Ergebnis: Deutschland erkennt den Völkermord zwar an, entschuldigt sich und will Wiederaufbauhilfe leisten, darüber hinaus aber nichts. Die Bundesregierung betonte ein paar Jahre zu vor noch, dass die Niederschlagung des Aufstands der Herero und Nama „nicht nach den heute geltenden Regeln des humanitären Völkerrechts bewertet und daher auch nicht als Völkermord eingestuft werden“ könne. Im Dialogprozess zwischen Deutschland und Namibia war es schließlich besonders die Generation der Überlebenden des Genozids, die im Prozess ignoriert oder ausgeschlossen wurden. Im Januar 2017 reichten Vertreter:innen der Herero und Nama deshalb eine Sammelklage gegen Deutschland ein, um ihr Recht auf eine Beteiligung an den Entscheidungsprozessen einzuklagen. Daraufhin berief sich die Bundesregierung auf ihre Staatenimmunität und die Klage wurde abgewiesen. Deutsche Siedler kauften während der Kolonialzeit immer größere Teile des Landes auf und vertrieben die Bevölkerung. Auch heute gehören in Namibia noch rund 60 Prozent des Landes den Nachfahren der deutschen Besatzer, obwohl sie nur 6 Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Drittpartei am Internationalen Gerichtshof

In der 84-Seitigen Anklageschrift beruft sich Südafrika auf die UN-Völkermordkonvention, die beide Staaten dazu verpflichtet, nicht nur keinen Völkermord zu begehen, sondern diesen auch zu verhindern und bestrafen. Völkermord wird als Handlungen definiert, die in der Absicht begangen werden, “eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.” Das bedeutet unter anderem die gezielte Tötung von Mitgliedern der Gruppe, die Verursachung von schwerem körperlichen und seelischen Schaden, sowie die vorsätzliche (absichtliche) Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung herbeizuführen. Das betrifft besonders auch das Verhindern von Geburten innerhalb einer Gruppe und das gewaltsame Überführen von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Für seine Anklageschrift sammelte Südafrika Beweise aus Krankenhäusern, Geburtskliniken, von UN-Beobachter:innen und Hilfsorganisationen, die aufzeigen, dass Israels Krieg gegen Palästina ein “systematisches Muster” hat, “das auf Absicht des Völkermordes hinweist”, so die Rechtsvertreterin Südafrikas Adila Hassim. Der Bevölkerung Gazas wird körperlicher und seelischer Schaden zugefügt und es werden Lebensbedingungen geschaffen, die den Gazastreifen faktisch unbewohnbar machen. Es fehlt an lebenswichtigen Nahrungsmitteln, Wasser oder Medikamenten, um die Bevölkerung, die weiterhin in Gaza lebt, zu versorgen. Rund 1,9 Millionen der 2,3 Millionen Einwohner Gazas wurden bereits zur Flucht gezwungen,während Krankenhäuser und Geburtskliniken gezielt bombardiert werden.

Der Eintritt als Drittpartei, auch Nebenintervention genannt, bedeutet hauptsächlich, dass Deutschland die Möglichkeit erhält, sich schriftlich und mündlich an der Verhandlung zu beteiligen – Nicht, dass Deutschland zu einer dritten Streitpartei wird. Sollte die Klage durchkommen, kann der internationale Gerichtshof zwar nicht direkt eingreifen, trotzdem soll das Urteil zu einer Neubewertung des Konflikts führen und den internationalen Druck erhöhen. Das möchte die deutsche Regierung verhindern.

Schlussendlich wird das Urteil an den Interessen der imperialistischen Staaten und ihren Loyalitäten nicht viel ändern. Wenn es Krieg geben soll, dann wird es Krieg geben. Trotzdem kommt besonders die BRD immer mehr in Erklärungsnot – , die moralische Fassade bröckelt. Aber Deutschland ist nicht das einzige Land, das versucht, sich durch seine Position in diesem Krieg zu profilieren. Auch wenn die Welt gerade gespannt zu den südafrikanischen Anwält:innen schaut, verfolgen auch die BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) Staaten ihre Interessen im Mittleren Osten. Die imperialistischen Konflikte nehmen an Fahrt auf und dass Putin jetzt über die Freiheit Palästinas schwadroniert, ist kein Zufall.

Deutschlands Moral-Fassade bröckelt

Der industrielle Massenmord an den Jüd:innen und die ca. 50 Millionen Opfer, die der 2. Weltkrieg forderte, sind das direkte Produkt einer Vernichtungstaktik, die wiederholt in der deutschen Geschichte angewendet wurde, um die kolonialen und imperialen Interessen Deutschlands durchzusetzen. Konzentrationslager wurden nicht erst im Holocaust gebaut. Der Hitler-Faschismus ist nicht aus dem Boden geschossen, hat Deutschland wie eine Krankheit überfallen und ist dann durch den Sieg der Alliierten restlos verschwunden. Wir haben nichts gehört, wir haben nichts gesehen. Das sind die Lügen der Täter und der Schutzwall, den auch die USA in der Nachkriegszeit um das Kapital in Deutschland baute. Auch der BND (Bundesnachrichtendienst) wurde von dem Nazi Reinhard Gehlen auf Wunsch der USA aufgebaut, um sich gegen den wachsenden Einfluss des sowjetischen Blocks zu wehren.

Deutschland hat kein moralisches Recht, über Genozide zu urteilen. Das 25.000 ermordete Palästinenser:innen kollateral Schäden einer legitimen Selbstverteidigungsaktion seinen sollen, hört sich wie ein schlechter Witz an. Doch in den Anzeigen in der Berliner U-Bahn wird von 9.000 toten „Hamas-Mitgliedern“ gesprochen. Wer weiter mit einem Staat zusammenarbeitet und militärische Hilfen schickt, der offen von der Vernichtung “menschlicher Tiere” spricht, betrügt nicht nur seine “historische Verantwortung”, sondern legt auch seine wahren Interessen offen. Die Würde des Menschen ist für das Kapital nichts mehr als ein attraktives Nebenprodukt. Wer wirkliche Rache für die Millionen Jüd:innen, Zinti und Roma, Herero und Nama will, wer niemals vergeben, niemals vergessen will, der muss das auch jetzt tun. Wir vergeben nicht, wir kennen die Schuldigen, es sind Siemens, Daimler, die deutsche Bank. Es ist das deutsche Kapital und der deutsche Imperialismus. Wer vor den Kriegsverbrechen in Gaza die Augen verschließt, aber schockiert von den Geheimplänen der AfD ist, hat nicht verstanden, dass die AfD kein Phänomen ist, sondern die logische Konsequenz deutscher Profit- und Vernichtungspolitik. Nur das Ende des mörderischen Kapitalismus würde so einer historischen Verantwortung gerecht werden.