Kürzlich erschien im immergrün-Verlag ein autobiografischer Roman eines Aktivisten aus Stuttgart, der für ein halbes Jahrzehnt ins Exil ging, um sich so der staatlichen Verfolgung (erfolgreich) zu entziehen. Worum geht es in dem Buch?
Angesichts der staatlichen Repression stehen politische Aktivist*innen immer wieder vor der Frage, wie gehen sie mit dem Verfolgungsdruck um!? Sich der Justiz ausliefern, solange warten, bis die Festnahme erfolgt, oder ab- und untertauchen? Nun liegt der im immergrün-Verlag erschienene autobiografische Roman eines Antifaschisten aus Stuttgart vor. Smily, RASH-Skin, Tattoo Artist, Student, Bassist der antifaschistische Oi!-Band “Produzenten der Froide”, kam nach 10 Monaten Knast raus und entschloss sich 2013 ins Exil zu gehen.
„Die Reise ins Ungewisse“
„Sie bretterten mit 140 Sachen über die Autobahn (…) Es war eine Reise ins Ungewisse“, so rasant die Geschichte von Karl, wie der Hauptdarsteller des Romans heißt, beginnt, so geht sie auch weiter. Einleitend wird erzählt warum Karl seine Reise begonnen hat: er wird für Konfrontationen mit der „Staatsmacht“ gesucht: bei der Revolutionären 1. Mai Demo wollte ein Cop eine rote Fahne einkassieren, Karl gab sie aber nicht her. Dann war da noch die Verhinderung eines NPD-Infostandes. Zurück in den Knast wollte er nicht mehr, die mögliche Verjährungszeit in seinem Fall betrug (damals) fünf Jahre. Also, so die Überlegung, für diese Zeit abtauchen, sich nicht erwischen lassen und danach wieder zurück in die Legalität. Aber wo soll es hingehen?
„Willkommen auf der Universität der Revolutionäre“
Zuerst führt uns der Roman jedoch ersteinmal ins Gefängnis, denn das hatte Smily schon kennengelernt. Vorwürfe wie Sachbeschädigung (auf einem Polizeiauto fand sich plötzlich der Schriftzug ACAB), aber auch Körperverletzung, im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um eine Grauzonen-Debatte im linken Milieu: Karl war nicht einverstanden damit, dass vermeidlich „unpolitische Skinheadkonzerte“ von Rechten okkupiert wurden.
Da Karl in den Verfahren Zeugen via facebook versucht haben soll einzuschüchtern, wurde Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr erlassen und Karl bildete sich die nächsten zehn Monate in der JVA fort. Die Leser*innen erfahren viel über den demütigenden, frustrierenden Haftalltag. Karl kam nach Stuttgart-Stammheim, und so erfahren wir auch etwas über die Hintergründe von „Weißer Folter“ und die Bedeutung dieser Haftanstalt für die Inhaftierung der RAF. Wir erleben mit, wie Karl in einer Viermann-Zelle lebt, wie er seinen Alltag zu strukturieren beginnt, wie er Enttäuschungen, aber auch großartige Momente erlebt- und wie wichtig für ihn die solidarische Begleitung durch Menschen von „draußen“ ist.
„Haftantritt ausgesetzt“
Als sich nach der Haftentlassung abzeichnet, dass Karl bald wieder in Haft werde gehen müssen, neue Haftstrafe, Bewährungswiderruf, wollte er nicht mehr zurück in diese enge Welt, sondern sich lieber auf das Abenteuer Leben in Freiheit einlassen: nicht in einem EU-Staat, zu groß schien ihm die Gefahr von dort im Falle einer Polizeikontrolle nach Deutschland abgeschoben zu werden. So fiel die Wahl auf die Türkei. Obwohl in Freiheit, wenn auch auf der Flucht, machte sich bald Heimweh und das Gefühl der Isoliertheit breit.
Aber im Verlaufe der Wochen und Monate wurde er doch sesshaft, konnte eine Liebesbeziehung eingehen und schließlich „sein erstes Tattoo im Exil“ stechen. Was ihm dann in den kommenden Jahren auch materiell den Lebensunterhalt sicher sollte. Aber ohne die Erfahrung der Solidarität wäre auch ein seelisches Überleben nur schwer möglich gewesen.
„Also für mich wäre das nicht hier“
Wir erfahren im Laufe der Romans einiges über die politische Situation in der Türkei in der Zeit ab 2013, der Situation der Kurdinnen, dem Alltagsleben in Istanbul, aber vor allem, wie trotz des kämpferischen Herzens von Karl, es für ihn meist ein Tanz auf Messers Schneide war, denn nie durfte er in eine Polizeikontrolle kommen, durfte nicht (offen) mit seinen Freundinnen und Genossinnen, wie auch seiner Familie in Deutschland kommunizieren, zu groß die Gefahr, dass deutsche Behörden ihn sonst aufgespürt hätten. Und doch bekam er irgendwann Besuch von Gefährtinnen aus Deutschland. Wo diese sich jedoch frei bewegen konnte, achtete er selbst darauf lieber Seitenstraßen als belebte Hauptstraßen zu nutzen, nicht immer in den selben Supermarkt zu gehen, die Telefonnummer regelmäßig zu wechseln und viele (vermeintliche) Kleinigkeiten mehr. So dass ein Freund der ihn besuchte mal meinte, als für ihn „wäre das nichts hier“. So auf Flucht, immer auf dem Sprung sein müssend. Für Jahre!
„Die Heimreise“
Doch irgendwann war die Verjährungszeit vorüber. Karl konnte sich auf den Heimweg machen auch wenn er nicht einfach in das nächstbeste Flugzeug steigen konnte, denn er schließlich hielt sich seit Jahren illegal im Land auf. Und so macht Karl die Erfahrung wie es sich anfühlt als Geflüchteter in einem Abschiebeknast zu landen, denn die Zugreise, für die er sich entschied, diese endete unerwartet an der Außengrenze der Türkei. Karl wurde festgenommen und verbrachte die nächsten fünf Tage auf engstem Raum mit neun weiteren gefangenen Flüchtlingen, bevor ihn die Türkei frei ließ, um ihn ins nächste Flugzeug nach Deutschland zu stecken.
Die Wirklichkeit im und hinter dem Roman
Karl hat so manche Gemeinsamkeit mit Smily. Nicht nur, weil im Jahr 2019 eine Broschüre mit dem gleichnamigen Titel erschienen war, in der dieser von seinem Untertauchen und der Flucht in die Türkei erzählte, sondern im Anhang zu dem knapp 260 Seiten starken Buch finden sich auch ein „Erlebnisbericht“ aus Smilys Zeit in Stammheim, sowie ein Interview, in welchem er über seine Exilzeit erzählt. In einem Nachwort kommen auch Genoss*innen von Smily zu Wort, die Exil und politischen Widerstand historisch kontextualisieren und die Bedeutung der „praktischen Solidarität mit den ‚Illegalen‘“ über Jahre oder Jahrzehnte betonen.
Erinnerung und ein Dazwischen
Das erinnert manche vielleicht an die Situation von Bernhard Heidbreder, Peter Wendelin Krauth und Thomas Robert Walter in Venezuela, die seit fast 30 Jahren im Exil leben. Oder erinnert an einen Aktivisten, der im Mai 2023 entschied, eine Haftstrafe nicht anzutreten. Oder auch an die seit 2023 untergetauchten Beschuldigten im Verfahren um den sogenannten Budapest-Komplex.
Mich erinnert es zudem an jenes Buch das vor etwas zwei Jahren, ebenfalls im immergrün-Verlag erschienene ist: „Ich vermisse Euch wie Sau“. Dort arbeitete ein Kollektiv von Genossinnen und Gefährtinnen den Suizid von Riccardo auf, einem jungen politischen Aktivisten aus Sachsen, der ebenfalls als Folge staatlicher Verfolgung, ins Exil ging: er flüchtete nach Moçambique. Von wo er nicht mehr lebend zurück kehren sollte- denn er nahm sich dort 2017 das Leben.
Hier ein Leben das viel zu früh im Tod endete, dort ein Leben das wieder nach Deutschland führte. Und dazwischen jene Menschen die aktuell untergetaucht sind oder untertauchen werden.
Das Buch vom Smiley will und kann keine Handlungsanleitung sein, und auch wenn der Roman mit Schwung geschrieben worden ist, bei aller Coolness die Karl an den Tag legt, immer dort, wo es um Fragen des existenziellen Überlebens, der Sorgen, der Einsamkeit geht, wird hinter manchmal etwas gestelzten Worten, genau deshalb, die Not so greifbar.
Bibliografische Angaben
Autor: Smily
Titel: „Haftantritt ausgesetzt- über Knast, Untertauchen und Solidarität“, 256 Seiten
Preis: 12 €
ISBN: 978-3-910281-12-7
von: Thomas am: 05.08.2024 – 12:53