Hamburger Ex-Häftlinge und Anwälte erheben schwere Vorwürfe gegen die Hamburger Justizbehörde wegen der Zustände in Hamburger Haftanstalten. Kritisiert wird zum Beispiel die mangelnde psychologische Betreuung. Die Justizbehörde bestreitet die Vorwürfe. Das NDR Hamburg Journal hatte bereits im vergangenen September berichtet.
Otto Floegel hat sechsunddreißig Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht. Zurecht, sagt der ehemalige Insassen-Vertreter. Zuletzt war er elf Jahre in der Justivollzugsanstalt Fuhlsbüttel (Santa Fu). Er erhebt schwere Vorwürfe gegen Hamburgs Strafvollzug und kritisiert vor allem die dort mangelnde psychologische Betreuung der Inhaftierten: „Ich habe mehrere Suizide dort erlebt. Und viele hätten auch verhindert werden können“, erzählt er. „Teilweise kommen die Insassen mit sehr hohen Haftstrafen an. Das erste, was ihnen erzählt wird, ist: ‚Du machst Endstrafe‘ (Anmerkung der Redaktion: keine vorzeitige Entlassung), das wird ihnen gleich gesagt. ‚Du kriegst nichts“. Einige hätten um Arbeit gebettelt. Die saßen dann Monate und über ein Jahr ohne Arbeit. Da hätte nach Ansicht Floegels der Suizid verhindert werden können. Einer habe sich morgens um sechs eine Tüte über den Kopf gezogen und sich selbst erstickt. „Der wurde einfach ignoriert, der war psychisch völlig am Boden.“
Vorwurf: „Ruhiggestellt mit Psychopharmaka“
Floegel wurde letztes Jahr aus dem Gefängnis vorzeitig entlassen, er hat noch drei Jahre Bewährung vor sich. Trotzdem spricht er offen mit dem NDR Hamburg Journal. Denn seiner Meinung nach hat der Personalmangel unter Beamtinnen und Beamten und Psychologinnen und Psychologen gravierende Auswirkungen auf die psychische Stabilität der Inhaftierten: „Ein Drittel wird ruhiggestellt mit Psychopharmaka. Ein Drittel spielt X-Box bis sie viereckige Augen haben. Die anderen pumpen sich mit Steroiden in Kraftsporträumen auf. Aber für die psychischen oder seelischen Problematiken wird nichts getan.“
Anwalt: „Ich halte das für rechtsstaatswidrig“
Rechtsanwalt Matthias Wisbar
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Matthias Wisbar vertritt seit drei Jahrzehnten Menschen, die in Hamburgs Untersuchungshaftanstalt am Holstenglacis einsitzen. Der Strafverteidiger hält die dortigen Zustände für psychisch labile Personen für gefährlich – wie im Fall eines sechszehnjährigen Ex-Mandanten, der dort als suizidgefährdet eingeschätzt wurde: „Diesen Jugendlichen hat man in eine Sicherungszelle gesperrt“. Es habe kein Radio, kein Fernsehen, kein Kissen gegeben, nichts, die Zelle sei 24 Stunden beleuchtet gewesen: „Und in irgendwelchen Abständen hat jemand geguckt, ob er sich schon umgebracht hat. Das war das Konzept der Suizidvermeidung.“ Der Anwalt beurteilt diesen Fall so: „Ich halte das für rechtsstaatswidrig und das ist natürlich auch ein unmenschliches Umgehen mit so einer Situation.“
Pandemieschutz überzogen?
Nach Meinung des Rechtsanwalts trifft viele Mandantinnen und Mandanten bei der Einlieferung in die Untersuchungshaftanstalt auch der seiner Meinung nach überzogene Pandemieschutz äußerst hart: „Wer umgeimpft in U-Haft kommt, geht 14 Tage in Quarantäne, was ja sinnvoll ist, erfährt aber Begrenzungen, die nicht nachvollziehbar sind: Sie kriegen keinerlei persönliche Sachen, sie müssen mit einer Unterhose auskommen während dieser 14 Tage, können in dieser Zeit einmal duschen. Das ist durch nichts gerechtfertigt.“ Da wiederholte Kritik an den Missständen keine Änderung herbeiführte, will sich der Anwalt an die Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger wenden, um das „Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher Behandlung“ anzurufen.
Häftling: Duschen nur einmal die Woche
Das NDR Hamburg Journal trifft einen Ex-Untersuchungshäftling und fragt nach seinen jüngsten Erfahrungen. Aus Furcht vor Repressalien nach einer möglichen Verurteilung möchte er unerkannt bleiben. Er erzählt: „Als ich letztes Jahr inhaftiert wurde, war das ein Schock. Ich durfte die ersten Monate nur ein Mal pro Woche duschen. Wenn man dann wochenlang im Sommer bei 35 Grad die gleiche Kleidung trägt, zehrt das an der Substanz. Man fühlt sich wie Dreck, wie ein Tier, das in eine Ecke geworfen wird. Fast jede Maßnahme wird mit Pandemieschutz begründet, aber gleichzeitig mussten wir zu dritt mit nur einem Meter Abstand gemeinsam duschen. Das zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der U-Haft.“ Der Mann berichtet, wie er mit einzelnen Justizvollzugsbeamten während seiner U-Haft aneinander geriet. „Dort wird die Menschenwürde nicht nur missachtet. Man wird als Mensch von den Wärtern verachtet. Als ich neben meinem Duschhandtuch, das man zwei Wochen benutzt, ein sauberes fürs Gesicht haben wollte, wurde das abgelehnt. Dann habe ich einen Beamten an meine Menschenwürde erinnert. Daraufhin meinte der Beamte: ‚Nerv mich nicht! Ich sage Dir, wo Deine Menschenwürde anfängt und wo sie aufhört!“
Suizide vor und in der Pandemie
Versuchten laut Senatsantworten auf Schriftliche Kleine Anfragen vor der Corona-Pandemie 2018 noch drei U-Häftlinge, sich das Leben zu nehmen, waren es in der Pandemie 2020 elf. Auch die vollendeten Suizide in der Untersuchungshaft stiegen im Vergleichszeitraum von null auf vier. Die Hamburger Fraktionsvorsitzende der Linken, Cansu Özedemir, ist Mitglied im Justiz-Ausschuss der Bürgerschaft. Jüngst hat sich die Abgeordnete von der U-Haft selbst ein Bild vor Ort gemacht: „Wesentliche Pfeiler der Suizidprophylaxe fallen momentan komplett aus. Das liegt eben auch an der Pandemie. Das heißt: Freizeitaktivitäten und Kontaktmöglichkeiten sind sehr stark eingeschränkt, was zu Isolation und starken psychischen Belastungen führt. Das heißt, die Behörde möchte jetzt das Konzept der Suizidprophylaxe auch überarbeiten, aber die Überarbeitung allein reicht nicht aus“. Denn das entsprechende Personal, Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen, sei Mangelware.
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Otto Floegel will sich jetzt ein geordnetes Leben in Freiheit aufbauen. Mit Familie und Job, um nicht rückfällig zu werden. Sein Fazit nach Jahrzehnten Gefängnis ist bitter: „Weil Fakt ist, der Gefangene, der aus Santa Fu entlassen wird, ist hinterher gefährlicher als vorher. Weil der lernt nichts, der ist frustriert, der hat Hass, der hat Schulden, die meisten haben nichts. Unter diesen Bedingungen ist er gefährlicher als vor seiner Inhaftierung.“
Behörde: „Unbelegte und haltlose Vorwürfe“
Die Pressestelle der Justizbehörde teilte auf Anfrage mit: „Es handelt sich aus unserer Sicht um unbelegte und haltlose Vorwürfe. Selbstverständlich ist es auf Antrag bzw. auf Anfrage auch möglich, Anstaltsunterwäsche und/oder weitere Handtücher zu bekommen.“ Auch die Stellenbesetzungssituation im Justizvollzug sei sehr gut. Trotz des Fachkräftemangels sei auch der medizinische Bereich gut aufgestellt. Der Suizid-Prophilaxe werde dauerhaft eine hohe Bedeutung beigemessen, so die Justizbehörde.