HAFTSTRAFE NACH »KRAWALLNACHT«

»War ein Ausdruck der Wut über soziale Ungerechtigkeit«
Baden-Württemberg: Solidaritätskreis unterstützt Verurteilten nach »Stuttgarter Krawallnacht«. Ein Gespräch mit Adeline Wiebe
Adeline Wiebe ist Sprecherin des »­Stuttgarter Solikreises«

In Baden-Württemberg ist ein junger Mann wegen Teilnahme an der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Weshalb hat sich dazu Ihr Solidaritätskreis gebildet?

Innenminister Thomas Strobel machte unmittelbar nach der Krawallnacht »gewalttätige Linksextreme« verantwortlich und gab damit die Richtung für die Ermittlungen vor. Funkzellenabfragen wurden allein mit dem Ziel durchgeführt, über die Nummern bekannter Linker deren Beteiligung an den Ausschreitungen zu konstruieren. Eine eigene Sondergruppe innerhalb der »EG Eckensee« verfolgte ausschließlich Linke. Schließlich wurde die gesamte Ermittlungsgruppe dem Staatsschutz unterstellt. Indizien für die Beteiligung von Linken: die rote Farbe, ein organisiertes Auftreten und das Lied »Bella Ciao«.

Was wird dem Betroffenen namens Nico vorgeworfen?

Ihm wird wie anderen Aktivistinnen und Aktivisten vorgeworfen, sich an der sogenannten Krawallnacht in der Stuttgarter Innenstadt aktiv beteiligt zu haben. Er musste am 12. August eine 37monatige Haftstrafe in der JVA Ulm antreten. Nico wurde zunächst in zwei Instanzen zu einer Freiheitsstrafe von letztlich drei Jahren und einem Monat verurteilt. Vorstrafen im Zusammenhang mit einer Solidaritätsaktion mit dem Befreiungskampf in Rojava sowie Aktivitäten zur Zurückdrängung von Nazis der Partei Die Rechte in Pforzheim wurden in die Gesamtstrafe einbezogen.

Wie bereiteten Sie den Betroffenen auf die Haftzeit vor?

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Dazu gehörten konkrete Überlegungen, wer die Wohnung übernimmt, wie der Kontakt zur Familie aussehen soll, was Nico im Vorfeld der Haft noch erleben wollte, wie die Besuche während der Haftzeit gestaltet sein sollen und vieles mehr. Dazu gehörten aber auch Diskussionen über die Funktionsweise des Knastes und die Mechanismen, die auf die Gefangen wirken, und ihre politische Identität angreifen, ein Austausch mit ehemaligen Gefangenen über ihre konkreten Erfahrungen und auch die Konfrontation mit eigenen Schwächen und angreifbaren Momenten. Außerdem geht es darum, die Solidaritätsarbeit zu gestalten, Öffentlichkeit für die Haftzeit zu schaffen sowie den Haftantritt und die Begleitung konkret zu planen.

Was können Sie zum Auslöser jener »Krawallnacht« sagen?

Während Polizei und Medien von einer Kontrolle (durch die Polizei, jW) als Auslöser sprechen, sind die Ursachen der Auseinandersetzung um die »Krawallnacht« wesentlich komplexer und haben einen politischen Charakter: Die Auseinandersetzungen im Sommer 2020 waren ein Ausdruck der Wut über die herrschende soziale Ungerechtigkeit, die permanenten Kontrollen und Schikanen durch die Polizei sowie die Verdrängung aus dem öffentlichen Raum. Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren, und geschlossene Einrichtungen verschärften die Situation für all jene, die in beengten Verhältnissen leben oder sonst schlicht keinen anderen Ort haben als den öffentlichen Raum.

Aus der gemeinsamen Erfahrung entstand spontan Solidarität und gemeinsames Handeln. Zunächst wurden die Provokationen der Polizei mit Flaschenwürfen und Sachbeschädigungen an Einsatzfahrzeugen beantwortet, später verlagerte sich die Auseinandersetzung immer weiter auf die Haupteinkaufsstraße.

Der Reaktion der Behörden mangelte es nicht an Härte.

Mit öffentlichen Fahndungen, unzähligen Verhaftungen und demütigenden Vorführungen vor Gericht wurde an Einzelpersonen ein Exempel statuiert. Insgesamt wurden über 125 Jahre Haft verhängt. Auch wenn die Riots kein bewusster politischer Akt waren und sicherlich auch durch Gruppendynamik sowie Alkohol begünstigt wurden, sind es diese Momente, die die Verhältnisse in Frage stellen und auf der Straße greifbar machen.

Welche Folgen sind heute noch zu spüren?

Mit einem neuen Sicherheitskonzept planten Polizei, Stadt und Land eine umfassende »Befriedung der Innenstadt«. Dazu gehören integrative Angebote wie der Ausbau der Sozialarbeit bis hin zu einer massiven Ausweitung der Kameraüberwachung in der Innenstadt, die Einführung einer Messerverbotszone – die weitere Anlässe zu rassistischen Kontrollen gibt –, die Erhöhung der Polizeipräsenz und die Verstärkung des städtischen Ordnungsdienstes.

junge Welt 17.8.24