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Hanau war ein Wendepunkt

Gespräch mit Y. von Young Struggle Deutschland und Migrantifa über die Perspektiven migrantischer Selbstorganisierung in Deutschland, mitte Juli 2020.

Kannst du uns etwas über den Entstehungskontext von Migrantifa erzählen?

Es gibt in Deutschland einen klaren, starken Rechtsruck. Die AfD sitzt mittlerweile in allen Bundesländern im Parlament. Die AfD brachte eine neue Strategie für die rechtsextremen Kräfte mit sich. Sie schafft es akademische Kräfte miteinzubeziehen und stellt diese auch in den Vordergrund. Mit ihrem Aufstieg hat sich der faschistische Diskurs normalisiert und verbindet sich mit einer faschistischen Praxis. Es war krass zu sehen, wie wenig der Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke thematisiert wurde, auch von seiner eigenen Partei. Alles was es gab war eine Schweigeminute im Bundestag, und Teile der AfD verweigerten sich dieser Schweigeminute offen. Neben dem Aufstieg rechter Parteien sehen wir somit auch das „nach rechts rücken“ von bürgerlichen Parteien.
Die faschistischen Angriffe nehmen migrantische „Safe-Spaces“ gezielt ins Visier. In dieser Gesellschaft, die überall rassistische Blicke, racial profiling und Kontrollen bereit hält, sind für uns solche Orte enorm wichtig, wo wir uns entspannt begegnen können. Der Mörder von Hanau hat genau einen solchen Ort, eine Shisha-Bar, zu einem Blutbad gemacht. Das trifft uns sehr hart, da damit das Vertrauen in diese Schutzräume maximal angegriffen wird. Alle Migrant*innen denken: genauso gut hätte das mich treffen können.
In den faschistischen Netzwerken wird zum „Volkskrieg“ aufgerufen. Sie sagen, jetzt könnt ihr das Land noch verlassen, doch dann werden wir euch abschlachten. Der Attentäter von Hanau hat auf diese Konzepte Bezug genommen. Und es wurde auch so von der rechtsextremen Szene aufgenommen: „Schaut, der Volkskrieg fängt schon an.“ Der Mörder wird als Märtyrer gesehen. Dem entspricht, dass nach Hanau die rassistischen Brandanschläge und Attacken einen regelrechten Schub hatten.

Als Reaktion entstand Migrantifa?

Es gibt natürlich eine wachsende Wut in der antifaschistischen Linken und unter den migrantischen Menschen. Hanau war ein Wendepunkt. Unmittelbar aus diesem Moment entstand „Migrantifa.“ Dabei stützt sich Migrantifa unter anderem auf die Erfahrungen von „Antifa Gençlik“. Das war in den 1990ern eine migrantische, antifaschistische Selbstverteidigungsstruktur. Migrantifa ist zurzeit sehr attraktiv. Es zieht sehr viele Menschen an. Bisher hat es diesen Aspekt der militanten Selbstverteidigung noch zu wenig, es ist stark akademisch geprägt. Wir versuchen diese Praxis des organisierten Selbstschutzes reinzutragen. Wir sind als Young Struggle überall, wo wir Genoss*innen haben, aktiver Teil von Migrantifa. Wir gewichten das sehr hoch.
Dann hat natürlich die George-Floyd Revolte auch in Deutschland hohe Wellen geschlagen.
Zehntausende Menschen gingen auf die Strasse. Polizeigewalt wird jetzt viel stärker thematsiert. Anstatt sich dafür zu schämen, Erfahrungen mit rassistischer Polizeigewalt gemacht zu haben, fühlen sich die Menschen enorm ermächtigt, das nicht einfach zu schlucken, sondern öffentlich zu machen und zu bekämpfen. Wir versuchen in diese Bewegung – wie wir das auch bei Fridays for Future gemacht haben – das antikapitalistische Moment reinzutragen. Wir sagen: Das kapitalistische System reproduziert strukturell Rassismus d.h. wir müssen dieses System überwinden. Es kann keinen systemkonformen Antifaschismus geben.

Welche Rolle hat Corona in den vergangenen Monaten in Bezug auf diese Kämpfe gespielt?

Natürlich hat die Pandemie auch eine wichtige Rolle gespielt. Es gibt einfach noch mehr Bullen und verstärkte Kontrollen. Das trifft zuerst migrantische Menschen, die sich ständig und überall filzen und kontrollieren lassen mussten. Auch die Stuttgart-Riots haben wir in diesem Kontext der intensivierten Kontrollen analysiert. Der Ausgangspunkt war ja die Kontrolle eines schwarzen Jugendlichen. Der wollte sich der Kontrolle entziehen und versuchte davon zu rennen, wurde dann aber brutal nieder gedrückt. Das hat eine spontane Dynamik ausgelöst. Hunderte Jugendliche haben ihre Wut rausgelassen und die Stadt kurzzeitig übernommen, die Polizei musste Verstärkung aus anderen Bundesländern anfordern. Fokus ist die Wut und Trauer, die sich hier Bahn gebrochen hat. Danach hat Alice Weidel in einer Rede Migrantifa dafür verantwortlich gemacht. Migrantifa Stuttgart war zwar nicht in den Aufständen involviert, jedoch hat es die Reichweite sowie das Verständnis/Gewicht für die Arbeit massiv erhöht.
Wir wollen Faschismus auch nicht nur als deutsches Problem thematisieren. Faschismus gilt es zu bekämpfen, egal woher er kommt. Es gibt eine Zunahme von Angriffen türkischer Faschisten in Deutschland – und zuletzt der massive Angriff in Österreich. In Hamburg gab es einen Angriff auf unseren Verein Lüttje Lüüd und in Stuttgart wurden sogar alevitische Gräber angegriffen.

Wie genau ist Migrantifa entstanden?

Die erste Migrantifa Gruppe entstand in Hessen, also dem Bundesland wo auch Hanau liegt. Dann folgten schnell andere Städte. Es ist dabei nicht in Folge eines irgendwie bundesdeutschen Beschlusses entstanden, sondern auf lokale Initiative, als spontane Dynamik, einfach weil das die richtige Antwort auf die Zunahme rechter Gewalt ist. Am stärksten ist Migrantifa in NRW und Hessen, aber die Gruppen sind sehr unterschiedlich aufgestellt. Überall aber folgen ihren Aufrufen sehr viele Menschen, die Mobilisierungskraft ist im Moment sehr stark.
Es sind oft auch migrantische Jugendliche, die zuvor in Antifa-Strukturen aktiv waren und dort Rassismus-Erfahrungen gemacht haben. Es gibt auch viele migrantische Student*innen, die vorher nicht gross politisch aktiv waren, aber über ihre Rassismuserfahrungen reden wollen.
Es gibt derzeit eine grosse Debatte: Wollen wir uns getrennt von den deutschen Linken organisieren, als klarem Safe-Space. Oder wollen wir den Kampf gemischt und gemeinsam führen. Young Struggle vertritt die Position, dass autonome Strukturen sehr wichtig und notwendig sind, aber dass es auch offene und gemischte Strukturen braucht, wo wir gemeinsam mit Deutschen gegen Rassismus kämpfen.
Es gibt natürlich auch aktive Vereinnahmungsversuche von Parteien. Die wollen den Karrierismus in den Aktivist*Innen ansprechen und dann Vorzeige-Migrant*innen für ihre Parteien gewinnen, um die Menschen daran zu hindern, auf die Straße zu gehen und Angriffe offen zu thematisieren. Intern in Migrantifa gibt es auf jeden Fall auch sehr widersprüchliche Gedanken und offene Konflikte. Aber die werden sehr respektvoll ausgetragen, weil das im Kontext von so viel Unterdrückung passiert. Auch die einzelnen Städte sind in ihrer politischen Ausrichtung recht unterschiedlich.
Hanau stellt in Deutschland für Migrant*innen einen Wendepunkt dar. Die Wut und die Angst hat sich nochmals gesteigert, aber sie findet jetzt auch einen Ausdruck in der Selbstorganisierung. Das hat es seit Jahren nicht mehr gegeben und das ist sehr positiv. Wir versuchen auch sehr stark spezifische Position von Frauen in diesen Kampf reinzutragen. Migrantische Frauen sind auch auf eine spezielle Art Zielscheibe der Rassisten, das müssen wir sichtbar machen. Wir versuchen deshalb auch autonome Frauenstrukturen innerhalb von Migrantifa zu entwickeln. Antifa Gençlik ist unter anderem auch deshalb auseinandergebrochen, weil sich eine sehr starke Macho-Kultur entwickelt hat. Das hat dann in eine Art Gang-Kultur gemündet und es dem Staat einfacher gemacht die Struktur zu zerschlagen. Deshalb wollen wir das unter anderem mit der Selbstorganisierung von Frauen bei Migrantifa von Anfang an blockieren.

Was gibt es für Schwierigkeiten?

Die Schwierigkeit von Migrantifa ist sicher die Breite. Es besteht die Gefahr, dass wir es nicht schaffen auf einer Linie gemeinsam zu arbeiten. Die Breite solcher Bewegungen ist immer gleichzeitig ein Potenzial und eine Gefahr. Wir denken zudem, dass wir keine Spaltung der antifaschistischen Bewegung wollen, sondern einfach eine starke migrantische Selbstorganisierung innerhalb dieser. Wir sehen ausserdem, dass bestimmte gefährliche Strukturen versuchen Migrantifa zu vereinnahmen: Allen voran der Ditib [der muslimische Verband unter Kontrolle der AKP]. Es wurde von türkischen Nationalisten und Islamisten auch versucht Hanau zu vereinnahmen. Es wurde gesagt „wir wurden als Türken und als Muslime angegriffen“. Auch in den Medien war pauschalisierend von türkischen Todesopfern die Rede. Dass drei der Opfer Kurden waren wurde somit unsichtbar gemacht. Einer der Ermordeten, Ferhat Ünvar, ist der Sohn eines Genossen von uns von Agif. Wir sind deshalb stark in die Kämpfe um die Erinnerungsarbeit involviert und in den Aufbau der Stiftung der Angehörigen, sowie deren Öffentlichkeitsarbeit.
Gleichzeitig sind es die zuerst die migrantischen Aktionen und Proteste, die kriminalisiert werden. Während in staatlichen Strukturen wie Polizei oder Bundeswehr immer mehr bewaffnete, rechte Zellen an die Öffentlichkeit gelangen, die sich auf den geplanten „Volkskrieg“ bereit machen und Faschisten immer offener auf die Straße gehen, protestieren und Mordlisten veröffentlichen, sehen wir immer wieder offen, dass es trotzdem migrantische Strukturen und Aktionen wie das Hanau-Gedenken oder BLM sind, die Polizeirepressionen erfahren.

Allgemein ist es positiv, dass sich gerade ein offener Umgang mit Unterdrückung entwickelt: Es wird über die eigenen Erfahrungen geredet, das ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Auf den zum Teil vorhandenen Akademismus und Reformismus bei Migrantifa versuchen wir mit politischer Bildung zu reagieren. Wir führen viele Diskussionen und wollen ein antikapitalistisches und militantes Bewusstsein schaffen. Zudem versuchen wir Arbeiter*innen reinzuholen, denn es sind fast überall nur Studis bei Migrantifa. Deshalb wollen wir unter anderem auch Stadtteilarbeit machen, da Entwicklungen wie Gentrifizierung oder auch die Corona-Pandemie zuerst Migrant*innen in den prekären Jobs trifft.

migrantifa

https://barrikade.info/article/3793