KOMITEE

In Venezuela wieder aufgetaucht

Sie sollen versucht haben, ein Abschiebegefängnis zu sprengen. Nach 23 Jahren in der Illegalität können drei Berliner nun wieder mit ihren Verwandten in Kontakt treten.

Wolf-Dieter Vogel am 12.05.2018 im nd

Keine Tränen. Nur lachen. Vor lauter Freude muss Jacqueline Walter einfach nur lachen. Kaum hat sie die letzte Kontrolle des Flughafens hinter sich, sieht sie ihn. Auch er lacht. Sie erkennen sich sofort. Einen Moment lang bleiben beide stehen und schauen sich aus der Distanz an. Sie in blauer Bluse, blauem luftigem Schal und mit roter Handtasche. Er locker gekleidet. Wie früher. Dann geht sie, gestützt auf ihren Stock, langsam auf ihn zu. Sie fallen sich in die Arme. An diesem Abend reicht es gerade noch für die Fahrt ins Hotel, eine Paella und ein gemeinsames Fläschchen Wein. Dann fällt die 84-Jährige ins Bett und schläft wie ein Stein.

Jacqueline Walter erinnert sich ganz genau an diesen Tag. Mehr als zwei Jahrzehnte lang hat sie ihren Sohn Thomas vorher nicht mehr gesehen. Und dann dieses unglaubliche Treffen, das auf dem Flughafen in Caracas seinen Anfang nimmt. Davor ist jeder Kontakt verboten. Das sei zu gefährlich, hat Thomas entschieden. Denn für die deutschen Sicherheitsbehörden ist er ein Terrorist. Seit über zwanzig Jahren fahnden sie nach ihm. Bis heute.

Deshalb reist Jacqueline Walter aus dem badischen Sinzheim im vergangenen Juli nach Venezuela. Kurz bevor ihr Sohn mit einem Skype-Anruf das erste Mal von sich hören lässt, beantragt er dort, als Flüchtling anerkannt zu werden. Sein erster Schritt in die Legalität. Von nun an heißt er nicht mehr Nico, Sebastian oder wie auch immer, muss keine Geschichten über seine Vergangenheit erfinden und kann alte Freunde in Berlin anrufen. Und – das ist das Wichtigste – er kann Kontakt mit seiner Familie aufnehmen. Plötzlich ist er wieder Thomas Walter, so wie vor jenem 11. April 1995, der sein Leben auf den Kopf stellt.

In der Nacht auf diesen Frühlingstag entdecken Streifenpolizisten auf einem Waldparkplatz im Berliner Stadtteil Köpenick zwei Fahrzeuge. Beide Wagen sind offensichtlich gerade verlassen worden. Die Tür des roten Ford Transit steht offen, die Motorblöcke sind noch warm. In dem Transporter finden die Beamten vier Propangasflaschen, die mit 120 Kilogramm eines explosiven Gemischs gefüllt sind. In einem Rucksack sind mit Benzin gefüllten Flaschen, Kabel und Blitzlichtbirnen verstaut. Und einige Zettel, auf denen geschrieben steht: »Achtung Lebensgefahr, Sprengung des Knastgebäudes, Das K.O.M.I.T.E.E.« Dreieinhalb Kilometer entfernt liegt die Haftanstalt Köpenick-Grünau. Sie wird gerade zu einem Abschiebegefängnis umgebaut.

In einem blauen Passat finden die Beamten Personalausweise, Führerscheine und andere Dokumente, die auf vier Personen verweisen: Thomas Walter, Bernhard Heidbreder, Peter Krauth sowie dessen Schwester, die Halterin des Wagens. Nach dem nächtlichen Fund erlässt der Bundesgerichtshof Haftbefehl. Als terroristische Vereinigung sollen die Vier geplant haben, das Gefängnis in die Luft zu sprengen. Die Aktion sollte sich gegen die deutsche Abschiebepolitik richten. Zudem werfen ihnen die Strafverfolger vor, das Kreiswehrersatzamt in Bad Freienwalde in Brand gesetzt zu haben. Denn das K.O.M.I.T.E.E. hat sich auch zu diesem Anschlag bekannt und seine Solidarität mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK zum Ausdruck gebracht. »Deutschland ist Kriegspartei in Kurdistan«, schreibt die Gruppe und kritisiert Rüstungsexporte in die Türkei.

Krauths Schwester wird verhaftet, aber nach drei Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen. Die Vorwürfe gegen sie sind haltlos. Die drei anderen tauchen ab. Seither sind sie auf der Flucht, leben in El Salvador, Kolumbien, Venezuela und anderen Ländern Lateinamerikas. Zwei Jahrzehnte lang fahndet die Sonderkommission »Osterei« nach ihnen, verfolgt den Freundeskreis, lässt die Eltern observieren und die Wohnungen vermeintlicher Mitwissenden durchkämmen. Vergeblich. Bis Ermittler des Bundeskriminalamtes 2014 Heidbreder in der Stadt Mérida im Südwesten Venezuelas aufspüren. Beamte des Andenstaates nehmen den damals 53-Jährigen fest. Die nächsten zwei Jahre verbringt Heidbreder im Gefängnis. Doch die Behörden weigern sich, ihn auszuliefern, weil die Taten nach venezolanischem Gesetz verjährt seien.

In Karlsruhe dagegen halten die Ankläger an der Verfolgung fest, obwohl die wesentlichen Tatvorwürfe auch hier verjährt sind. Nur noch die Verabredung zu der gescheiterten Tat wirft die Bundesanwaltschaft (BAW) den drei Männern weiterhin vor. Damit kann sie die Verjährungsfrist von 20 auf 40 Jahre ausweiten. Das sei unverhältnismäßig, verfassungswidrig und verstoße gegen das Schuldprinzip, kritisiert Krauths Verteidigerin Undine Weyers. »Es kann nicht sein, dass die Verabredung zu einer Straftat länger verfolgt wird als die zeitlich spätere Vorbereitung der Tat«, erklärt die Anwältin. Mit ihren Kolleginnen und Kollegen zieht sie vor den Bundesgerichtshof, das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Allerdings ohne Erfolg. Bislang sieht es nicht so aus, als ob die Drei vor 2036 nach Deutschland kommen können.

Deshalb muss Jacqueline Walter auf die andere Seite des Atlantiks fliegen, um ihren Sohn zu treffen. Im Süden Venezuelas, eine Flugstunde von Caracas entfernt, hat sich Thomas seit 2003 nahe der Andenstadt Mérida niedergelassen. Dort betreibt er mit anderen lange Zeit ein Internetcafé, heute kümmert er sich um Hasen, Hühner und ökologischen Gemüseanbau. Gemeinsam mit seiner Freundin lebt der 56-Jährige zwischen Litschi-Bäumen, Salatbeeten und dem Hühnerstall. Hier ist er zu Hause. Sehnsüchte bleiben dennoch. Hinter einem wie ein Fenster gebauter Holzrahmen ist ein Bild der »Yburg« aufgehängt, eine von Weinbergen umringte Burg, die vor 800 Jahren Teil eines Verteidigungssystems der Marktgrafschaft Baden darstellte. »Die habe ich gesehen, wenn ich als Jugendlicher in Sinzheim durchs Fenster schaute«, sagt er. Den Glauben, diesen Blick noch einmal in echt genießen zu können, hat er nicht aufgegeben. Darauf hofft auch Mutter Jacqueline. »Wir haben die Jahre gezählt, und als es dann endlich 20 waren, hatten wir große Hoffnungen auf die Verjährung«, erinnert sich die 84-Jährige. »Doch nichts ist passiert, das hat uns sehr enttäuscht.«

Es war vor allem die Sehnsucht nach ihr, dem pflegebedürftigen Vater und den Geschwistern, die ihn bewogen haben, in Venezuela einen Antrag zu stellen, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Gemeinsam mit Peter Krauth entschloss er sich zu diesem Schritt, nachdem ihr Freund Bernhard Heidbreder freigelassen worden war und diesen Status beantragte. Was für eine Erleichterung. Einfach zu Hause anrufen können und sagen: »Hey, ich bin wieder da. Ich bin lebendig, alles in Ordnung. Ich habe mein Leben gelebt, also no big deal.«

No big deal? 22 Jahre auf der Flucht? »Die Furcht vor den Fahndern ist zunehmend in den Hintergrund getreten«, erklärt Walter. »Mit der Angst ist es wie mit der Einsamkeit, man gewöhnt sich daran.« Natürlich waren da diese traurigen Abende. Weihnachten, Silvester, alleine in einer Wohnung, während andere feiern. »Oder die stressigen Situationen, in denen du ohne vertraute Personen weitreichende Entscheidungen treffen musst.« Manchmal treffen sich die Drei und verbringen Jahre zusammen. Dann trennen sich die Wege wieder. Sei es wegen der Freundin oder weil das illegale Leben sie dazu zwingt. Immer wieder beginnt eine neue Odyssee. Spuren verwischen, Papiere verbrennen und weiterziehen. Allein sein, immer funktionieren müssen und nie schwach sein zu dürfen, das verändere einen, sagt Walter. Trotzdem bleibt der kräftige Mittfünfziger offensiv. So wie früher, als er in Berlin Naziaufmärsche blockierte, Parolen gegen »Bullenterror« sprühte und sich auf Demonstrationen mit der Polizei anlegte.

Doch das ist lange her. Auch die Zeiten, in denen er zwei Jahre in einem Land und ein paar Monate im nächsten lebte. Seit er sich wie seine Gefährten in den 2000er Jahren in den venezolanischen Anden niedergelassen hat, ist das Leben übersichtlicher geworden. Hier treffen sich die Drei wieder. Der revolutionäre Prozess der sozialistischen Bewegung des Präsidenten Hugo Chavez bringt sie auf verschiedenen Wegen in das Land. Bernhard Heidbreder arbeitet dort lange als Drucker, Peter Krauth lebt auf einem Bauernhof.

Niemand, der auf dem Hof in den Anden vorbeikommt, würde auffallen, dass Krauth aus Deutschland stammt. Mit seinen schütteren grauen Haaren und dem Schnauzer unterscheidet den 58-Jährigen wenig von den anderen hier ansässigen Bauern. Gerade hat er die Kuh gemolken, nach den Kälbern geschaut und die Milch abgegeben. Nun sitzt er nachdenklich am Tisch, blickt auf die teils grünen, teils kargen Berge, die gegenüber in den Himmel ragen. An diesem Hang in den Bergen hat sich Krauth mit seiner Freundin sein kleines Paradies geschaffen: Gewächshaus, Gemüsegarten, Werkstatt, Hunde, Schafe. Doch vor zwei Jahren ist seine Lebenspartnerin gestorben. Bis zum letzten Moment kämpft er mit ihr. Der schwere Schlag prägt ihn bis heute.

Noch immer beschäftigt ihn auch, dass seine Schwester Beate im Gefängnis gesessen hat, obwohl sie ein Alibi gehabt habe. »Die Ermittler wussten genau, dass sie mit der Sache nichts zu tun hatte«, sagt er. Auch hier in den Bergen der Anden, wo gar nichts an BKA-Fahnder, Sprengstoff oder deutsche Knäste erinnert, redet er sofort von dieser Verhaftung. Er spricht von einer Geiselhaft mit deutlicher Botschaft: »Entweder du kommst zurück oder wir machen deine Familie fertig.«

»Das mit Beate ist etwas, was nie verschwindet«, sagt er. Er müsse sich dafür entschuldigen, sagt er. Er weiß, dass sie ihm bis heute nicht verzeiht. Sie war schwanger, als sie verhaftet wurde. Das Kind kam viel zu früh zur Welt. Nach 26 Wochen. In »Bild« erschien ein Foto von ihr, das sie als Terroristin denunzierte. »Es wäre gut, die Sache zu Ende bringen«, denkt Krauth und meint damit auch, juristisch reinen Tisch zu machen. »Aber die BAW will ja nicht mit uns reden.«

Heute sind Bernhard Heidbreder und Thomas Walter bei ihm zu Besuch. Zusammen kommen sie mit dem Bus aus der Stadt und laufen eine Viertelstunde von der Haltestelle den Waldweg hinauf zum Hof. Ihr alter Freund erwartet sie schon am Tor. Draußen verschwindet die Sonne langsam hinter den Bergen, im Haus gibt es frische Milch, selbst angebautes Gemüse, Eier von glücklichen Hühnern und Bier. Obwohl alle drei in Mérida oder dem Umland leben, ist es nicht alltäglich, dass sie sich treffen. Also gibt es viel zu erzählen. Etwa über die katastrophale Lage in Venezuela: die ständig steigenden Preise, die Eskalation der Gewalt, die Kriminalität. Walter ist gerade im Bus komplett ausgeraubt worden, Heidbreder verliert seine Arbeitsstelle, nachdem die Opposition in Mérida die Wahlen gewinnt. »Wir brauchen in Venezuela zivilisierte Konfliktlösungsstrategien, sonst haben wir hier bald syrische Verhältnisse«, befürchtet Walter. Die zwischen Regimegegnern und Regierung polarisierte Gesellschaft spielt auch bei den deutschen Exilanten eine große Rolle.

An Deutschland erinnern am Tisch nur die T-Shirts aus Berlin. »Allez« ist darauf in roten Buchstaben auf schwarzem Grund zu lesen, Werbeklamotten der Politband Irie Revolté, die Krauth und Walter gleich mal anziehen. Als die Band ihre ersten Erfolge feiert, sind die Drei längst über alle Berge. So what. Fernab der ehemaligen Heimat fühlen sie sich immer noch den linken Bewegungen auf der anderen Seite des Atlantiks verbunden. Auch das T-Shirt, das Heidbreder trägt, erinnert an das alte Zuhause. »Refugees welcome« steht drauf.

Die europäische Flüchtlingspolitik? Nein, geändert hat sich daran gar nichts, alles sei noch schlimmer geworden. Auch für die Kurden. »Wenn es eine Bevölkerungsgruppe in dieser Region gibt, die wirklich mal das Recht darauf hätte, einfach ein normales Leben zu führen, sind es die Kurden«, ist Walter überzeugt. Gründe, sich in Deutschland einzumischen, gebe es weiterhin genug. »Klar, man ist älter und hoffentlich ein bisschen klüger geworden«, sagt er. Aber was sollte angesichts der aktuellen Abschottungspolitik und der Repression gegen die kurdische Bevölkerung wirklich schlecht gewesen sein an dem, was man ihnen seit 22 Jahren vorwirft?

Ob es die richtige Entscheidung gewesen sei, damals das Weite zu suchen? Eine schwierige Frage, findet Peter Krauth. »Wer weiß schon, was sonst in diesen 22 Jahren passiert wäre.« Er habe ein ausgefülltes, spannendes und an Erfahrungen sehr reichhaltiges Leben genossen. »Man bleibt nicht so lange weg, wenn es einem dabei schlecht geht«, sagt er. »Ich hätte mir nicht gerade gewünscht, abzutauchen«, betont Walter, »aber wenn ich mir anschaue, wie es anderen Freunden ging und was ich an Leid und Glück erfahren habe, bin ich nicht unzufrieden.«

Bernhard Heidbreder erinnert an die Hilfe, die ihnen entgegengebracht worden sei: »Ich habe sehr viele Leute kennengelernt, die solidarisch reagiert haben.« Menschen, die sie unterstützen, weil die ihnen vorgeworfene Aktion Flüchtlingen helfen sollte. So gibt es in diesen 22 Jahren immer welche, bei denen sie vorübergehend wohnen können, die ihnen Arbeit verschaffen, mit Geld aushelfen oder ein Bankkonto für sie eröffnen. »Eine globale Wärme« nennt das Thomas Walter.

Auch als Heidbreder 2014 verhaftet wird, kann er auf Unterstützung zählen. In Berlin treffen sich sofort alte Freundinnen und Freunde, um ihm zu helfen. Er hat gar nicht mehr damit gerechnet, dass ihn die deutsche Polizei noch aufspürt. Alles war gut gelaufen: Mitte der 2000er Jahre kommt er mit seiner kolumbianischen Frau nach Mérida, um in der Nähe seiner Mitstreiter zu leben. »Und weil wir uns in das chavistische Projekt verliebt haben«, ergänzt er. Schon in Kolumbien ist er als Drucker tätig, nebenbei übersetzt er dort Kafkas »Prozess« ins Spanische und macht das Abitur unter seinem damaligen Namen John Jairo Londño Smith. In Venezuela absolviert er neben seiner Arbeit in einer staatlichen Druckerei einen Kurs als Buchhaltergehilfe. Er will weg von giftigen Farben sowie Waschbenzinnebel und findet tatsächlich Arbeit in einem Tourismusunternehmen.

Dort, im Hotel Venetur, wird er verhaftet. Zunächst sitzt er in Polizeigewahrsam. Zwei Meter Platz, kein Fenster, kein Hofgang, Pinkeln in die Flasche, berichtet er. Dann folgen Wochen des Wartens, angekettet auf dem Flur einer Polizeistation. Später landet er im Geheimdienstgefängnis »Helicoide«, das sich wie ein unförmiges Gewinde auf einem Hügel der Hauptstadt erhebt. Viele Oppositionelle sitzen dort ein, Menschen, die in den Händen von Sicherheitskräften verschwunden sind, tauchen dort wieder auf. Obwohl sich in Helicoide fast nur Regimegegner befinden, während er sich zur sozialistischen Regierung bekennt, kommt er mit seinen Mitinsassen gut klar. Den einen gibt er Deutschunterricht, mit anderen tauscht er die Dinge des alltäglichen Lebens.

Selbst nachdem ein venezolanisches Gericht beschließt, ihn nicht den deutschen Strafverfolgern auszuliefern, muss er weitere acht Monate in dem Gefängnis verbringen. Trotz der Gitter, der verschlossenen Türen und den Wächtern fühlt er sich in diesen Tagen freier als in den Jahren zuvor. Denn als die Fahnder ihn festnehmen, wird ihm klar, dass sich von nun an alles ändern wird: »Ich bin Bernd, ich bin nicht John Jairo.« Eine seltsame Erfahrung sei das gewesen, erinnert sich der schlaksige Mittfünfziger heute: »Plötzlich fällt dir eine Last vom Rücken.« Vorbei seien die Lügen, die man netten Menschen erzählen müsse und die Angst, an einer Kontrolle aufzufliegen.

Auch Jacqueline Walter trifft neben ihrem Sohn auch seine beiden Mitstreiter. Zurück in Sinzheim, steckt der 84-Jährigen die Reise noch lange in den Knochen. Zufrieden ist sie trotzdem. »Er war der gleiche Thomas wie immer. Das Leben bejahend, sehr offen. Ein Typ wie du«, sagt sie zu ihrem Mann. Heribert sitzt mit am Küchentisch, spricht aber wegen seiner Altersdemenz kaum ein Wort. Die gebürtige Französin hat Hase mit Esskastanien gekocht, dazu gedünstetes Gemüse, zum Nachtisch gibt es Apfelstrudel nach französischem Rezept. Sie holt einen selbstgebastelten Fotoband aus dem Regal, das über den zahlreichen Fotos der fünf Kinder hängt. Der Titel: »Das Venezuela-Projekt«. Das Buch, das die wohl wichtigste Reisen ihres Lebens dokumentiert.

Lange hätten sie nicht verstanden, was passiert sei, erzählt Jacqueline Walter von der ersten Zeit nach dem Abtauchen ihres Sohnes. Sie erinnert daran, dass auch ihre Familie die Konsequenzen zu spüren bekam: Polizisten durchsuchen das Haus, das Telefon wird überwacht und ein Bruder von Thomas zu Unrecht wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verfolgt. »Als wir erfahren haben, dass sie geflohen sind, haben wir uns nach außen geschlossen wie eine Auster.« Zu den Vorwürfen hat sie eine eindeutige Meinung. »Die Mittel können wir nicht befürworten.« Dann aber verweist sie auf den alltäglichen Rassismus – ein Thema, das heute aktueller als sei als je zuvor. »Es ist normal, dass man dagegen etwas unternimmt.« Sie erinnert daran, dass später auch der Europäische Menschenrechtsgerichtshof beschlossen hat, dass das Einsperren von Asylsuchenden in Gefängnissen illegal ist. Wer auch immer für den versuchten Anschlag verantwortlich sei, betont sie, »die Zukunft hat ihnen recht gegeben«.

Bevor wir uns verabschieden, packt sie ein paar Esskastanien ein und geht in den Garten. Dort, über dem Hühnerkäfig, liegen frisch geerntete Quitten, die zu Marmelade verarbeitet werden müssen. Jacqueline Walter hofft, dass die Bundesanwälte doch noch zur Vernunft kommen und ihr Sohn diesen wundervollen Garten noch einmal sehen wird. Dann zeigt sie auf ihren kranken Mann und betont: »Heribert wartet hier, bis Thomas wiederkommt.«