Gespräch am 22. Oktober 2017 in Hamburg
Am 22. Oktober fand im Hamburger Centro sociale eine Informations- und Diskussionsveranstaltung zu den im Herbst 1977 in den Knästen Stuttgart-Stammheim und München-Stadelheim tot aufgefundenen Gefangenen aus der RAF statt. [1] Wolfgang Lettow, der zu den Organisatoren und Referenten der Zusammenkunft gehörte, beantwortete dem Schattenblick im Anschluß daran einige vertiefende Fragen.
Schattenblick (SB): Wolfgang, es ging bei der heutigen Veranstaltung um die Frage, was wir aus der Geschichte lernen können. Warum sind die historischen Ereignisse, über die wir gesprochen haben, aus deiner Sicht so wichtig?
Wolfgang Lettow (WL): Die Geschichte der RAF, des bewaffneten Kampfs hier in Deutschland, hat etwas mit der 68er-Bewegung zu tun, die eine bundesweite Erhebung war. Das war sozusagen die Voraussetzung, daß bewaffnete Gruppen auch hier in Deutschland, in Westeuropa, in Nordamerika, sich verbunden gefühlt haben mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Und diese Geschichte, insbesondere aber, was die Ereignisse des 18. Oktober 1977 in Stammheim betrifft, wird von den Herrschenden tabuisiert. Ich habe in meiner Eigenschaft als presserechtlich Verantwortlicher des „Gefangenen Info“ (GI) [2] ausgeführt, daß wir nichts schreiben dürfen, was in Widerspruch zur Selbstmordthese steht, und es deswegen mehrere Verfahren gegen unsere Zeitschrift gab. Wir wollten daher einerseits einen Kontrapunkt setzen, weil die herrschende Meinung nicht unsere Meinung ist. Zum anderen gibt es die RAF seit 1998 nicht mehr, und es fehlt eine gemeinsame Aufarbeitung. Es interessieren sich jedoch viele Leute für die RAF, die aufgrund ihres Alters die damaligen Kämpfe nicht selbst miterlebt haben. Da wir die notwendige gemeinsame Aufarbeitung nicht leisten können, haben wir eine „Kurze Einführung in die Geschichte der RAF“ für jüngere Leute als Buch herausgegeben, damit sie sich damit auseinandersetzen können. Es ist ein Teil unserer Geschichte, und wir haben festgestellt, daß unaufgeklärte Todesfälle im Gefängnis nicht auf die RAF beschränkt sind. So etwas passiert nicht nur politischen Gefangenen, sondern insbesondere auch migrantischen Häftlingen wie Oury Jalloh. Darüber eine Öffentlichkeit zu schaffen ist sehr wichtig. Wir können froh sein, daß es bei G20 keine Toten gab. Bei den Überlegungen im Vorfeld wurde nicht einmal ein möglicher Gebrauch von Schußwaffen völlig ausgeschlossen. Es ist sehr wichtig, den Blick für die Frage zu schärfen, mit was für einem Staat wir es hier zu tun haben. Er ist zwar in der Theorie dem „scheinbar liberalen“ Grundgesetz verpflichtet, doch in der Praxis mutiert er zum Polizeistaat mit Feindstrafrecht, wie Anwältinnen und Anwälte sagen.
SB: Die Geschichte der RAF wurde von Stefan Aust und anderen uminterpretiert und gewissermaßen neu geschrieben. Wie ist sie aus deiner Sicht in der deutschen Öffentlichkeit insgesamt verarbeitet worden?
WL: Von Anfang an war eine authentische Vermittlung der Geschichte der RAF und der Haftbedingungen der Gefangenen stets sehr schwierig. Die ersten Schriften wurden zum Teil bei Wagenbach verlegt, das war zunächst das Konzept Stadtguerilla. Wenn ich mich recht erinnere, wurde bereits die zweite Schrift beschlagnahmt. Es war zum einen nicht möglich, öffentlich darüber zu reden. So gibt es Zitate entsprechender Aussagen von offizieller Seite, daß nichts Authentisches publiziert werden darf. Geduldet wurde nur eine Umdeutung, beispielsweise in Gestalt der Personalisierung, daß Andreas Baader ein Macho war und Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin ihm hörig gewesen seien. Eine authentische Vermittlung über die RAF und wofür sie steht, wurde von Beginn an verhindert und kriminalisiert. In dieses Vakuum sind Leute wie Stefan Aust gestoßen, der von so etwas gut leben kann und ganz offen mit der Polizei zusammenarbeitet. Auch Gerd Koenen oder Wolfgang Kraushaar versuchen, die Geschichte umzuschreiben, um den Aufbruch, der damals stattfand und zum bewaffneten Kampf führte, zu verfälschen.
SB: Menschen, die damals verurteilt wurden und ihre Haftstrafe verbüßt haben, sind im Zuge neuer Verfahren erneut der Strafverfolgung unterworfen worden. Die Frage der Täterschaft soll neu aufgerollt und bis ins Detail ermittelt werden. Müssen diese Menschen bis ans Ende ihrer Tage unter dem Damoklesschwert leben?
WL: Ich kann nicht für sie sprechen, weiß aber, daß es für sie klar war, als Kollektiv gehandelt zu haben. Für sie war es sekundär, wer was gemacht hat. Sie stehen für eine gewisse Etappe, in der sie in der RAF organisiert waren. Sie bekennen sich zu ihrer Verantwortung, unabhängig davon, wie genau ihre Beteiligung war. Nach dem Verständnis, das sie vermittelt haben, wurden die Aktionen gemeinsam beschlossen und dann durchgeführt. In diesem Sinne ist jeder und jede dafür verantwortlich gewesen. Wie sie später erpreßt wurden, zeigt unter anderem das Beispiel von Christa Eckes, die an Blutkrebs erkrankt war und im Sterben lag, als sie dennoch von der Bundesanwaltschaft verhört wurde. Sie hat die Aussage verweigert. Für die Gefangenen aus der RAF, die erhobenen Hauptes durchs Leben gehen, war von Anfang an klar, wenn sie sich in der Gruppe organisieren, werden sie entweder den Knast nicht überleben oder ihr Leben lang verfolgt. Das war ihre politische Entscheidung, das wissen sie. Insofern war das eine Entscheidung, die sie auch 20 Jahre später nach Auflösung der RAF beibehalten, soweit ich das mitkriege.
SB: Die ARD hat in Dominik Grafs Stuttgarter „Tatort: Der rote Schatten“ die Todesnacht von Stammheim für ein breites Fernsehpublikum thematisiert. Wie bewertest du diese Verarbeitung in Gestalt eines zeitgenössischen Krimi-Szenarios?
WL: Zur Sprache kam im Tatort die Selbstmordvariante, aber andererseits auch die Möglichkeit, daß die Gefangenen von einem Spezialkommando liquidiert worden sein könnten. Daß diese Frage überhaupt in dieser Form thematisiert wird, ist auf jeden Fall zu begrüßen. Andererseits entspricht die Darstellung der Leute, die der RAF auch nach deren Auflösung zugerechnet werden, natürlich nicht der Realität. Es wurde sehr viel mit Sex & Crime gearbeitet, was nach meiner Erfahrung, die ich mit ehemaligen Gefangenen der RAF gemacht habe, nicht der Wahrheit entspricht. Es wurde wieder ein grob verzerrtes Bild gezeichnet, aber trotz alledem ist es ein erster Schritt. Die Reaktion von höchster Stelle, von Steinmeier und dann auch von Aust, der ja öffentlicher Meinungskommissar ist, zeigte, daß im Tatort etwas Richtiges angesprochen wurde. Wir haben in der Diskussion über Helge Lehmann [3] gesprochen, der Mitte der 1960er Jahre geboren wurde und daher die Ereignisse erst in ihrer späteren Darstellung mitbekommen hat. Seine Zweifel an der Version des Staates, auf welche Weise sich die Gefangenen umgebracht haben sollen, veranlaßten ihn, die offiziellen Angaben unter anderem mit Hilfe praktischer physikalischer Versuche nachzustellen. Er kam nach gründlicher Untersuchung zu dem Schluß, daß es so nicht gewesen sein kann, was er dann in Form eines Buches publiziert hat. Insofern war der Tatort überraschend, denn er hat etwas zur Sprache gebracht, was lange versiegelt schien, aber weiter verfolgt werden sollte.
SB: Du verfügst über eine langjährige Praxis, diese Thematik nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Was sind deine Erfahrungen mit solchen Veranstaltungen wie der heutigen? Wie hat sich das Interesse an diesen Inhalten über die Jahre verändert?
WL: Ich denke, wenn nach 40 Jahren immer noch mehr als 40 Leute kommen – trotz der ganzen Desinformation -, ist es auf jeden Fall wichtig, weiterhin solche Veranstaltungen zu machen. Wir haben eine entsprechende Veranstaltung in Bremen gehabt, wo insbesondere die Frage, was diese Geschichte mit heute zu tun hat, auf großes Interesse innerhalb der Linken gestoßen ist. Die Rote Hilfe Zeitung hat wegen unserer Intention bei uns einen Artikel angefragt. Es ist wichtig, den Staat so zu bezeichnen, wie er tatsächlich ist. Er konstruiert ja ein Bild von sich, das so nicht stimmt. Ich kann in diesem Zusammenhang noch eine Sache erzählen: Ich arbeite bei einem freien Radio in Hannover mit. Dabei hatte ich eine Erklärung zu den dreien verlesen, die der RAF zugerechnet und noch gesucht werden. [4] Daraufhin gab es einen heftigen Angriff gegen dieses Radio, das natürlich eine viel größere Reichweite als eine Veranstaltung hat. Die Sendung wurde als Podcast bei freien Radios veröffentlicht und erreichte dadurch Menschen im deutschsprachigen Raum von Hamburg bis Zürich und Wien. Der Sender wurde in einer ersten Reaktion unter Druck gesetzt, obgleich der gesendete Text schon beim „Gefangenen Info“ durch die staatliche Zensur gegangen war. Der NDR-Journalist Stefan Schölermann, der sich rühmt, gute Kontakte zum Staatsschutz zu haben – natürlich rein professionell – hat eine Anfrage an das freie Radio gestellt, um den Sender unter Druck zu setzen. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß unsere Öffentlichkeit, die bei Veranstaltungen natürlich nur auf bestimmte Bereiche wie hier in linken Zentren im Schanzenviertel oder Karoviertel beschränkt ist, beim freien Radio über diese Szene hinausgeht. Das heißt mit anderen Worten, daß es sehr wichtig ist, solche Veranstaltungen wie die heutige durchzuführen und die Informationen im freien Radio für breitere Kreise zu senden.
Die Geschichte wird nicht nur um ihrer selbst willen bewahrt, denn es geht ja um einen neuen Aufbruch, dessen Inhalte von denen bestimmt werden, die sagen, wir halten es nicht mehr aus. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Geschichte der RAF kritisch, aber auch solidarisch aufzuarbeiten. Wir haben in unserer Zeitung „Gefangenen Info“ verschiedene Gefangene und Gruppen angesprochen, worauf es in nur einem Monat sechs Beiträge gab, vier von Gefangenen: Yusuf Tas, ein türkischer Gefangener, ein Beitrag von Thomas Meyer-Falk, einer von einer Frau, Lisa, die wegen Bankraub festgenommen wurde, und einer von Manfred Peter, der sich seit über 20 Jahren in der Forensik befindet. Die Rote Hilfe Italien hat sich ebenfalls beteiligt. Dort war nach dem 18. Oktober klar, daß es Mord war, und es hat sehr viel Solidarität gegeben. In zehn italienischen Städten wurden damals binnen kurzer Zeit Demonstrationen und militante Aktionen organisiert. Geschrieben hat auch die Gruppe Siempre Antifa aus Frankfurt, das ist eine etwas jüngere Organisation, deren Mitglieder 1977 noch gar nicht geboren waren, und die sich nun mit den Texten sehr konstruktiv, solidarisch und auch kritisch auseinandergesetzt haben. Um etwas Neues zu beginnen, muß man auch die alte Geschichte kennen und aufarbeiten.
SB: Bei der Veranstaltung im Centro sociale war einerseits natürlich die ältere Generation sehr präsent, es waren aber auch etliche jüngere Leute da. Entspricht diese Zusammensetzung deinen Erfahrungen in Bremen und bei früheren Veranstaltungen?
WL: Das Interesse ist auch bei jüngeren Leuten durchaus vorhanden. Sie äußeren sich allerdings zu diesem Thema zunächst wenig, weil sie es nicht so genau kennen. Wir hatten jedoch die Verbindung zu den G20-Protesten, an denen sie sich beteiligt haben. Aus diesem Zusammenhang sind heute jüngere Leute gekommen, die uns von dorther kennen. Es ist zwar nicht ihre eigene Geschichte, sie wollen aber etwas darüber wissen.
SB: Gibt es angesichts der G20-Gefangenen einen Anknüpfungspunkt, die Frage der Haft und insbesondere der politischen Häftlinge aufzugreifen und umfassender zu thematisieren?
WL: Wie mensch sich bei politischen Prozessen verhält, ist stets die Entscheidung der Betroffenen selbst. Es gibt Broschüren zum Thema, wie mensch sich bei solchen Prozessen verhält, inwieweit mensch Einlassungen macht und wie es damals gewesen ist. Daran besteht auf jeden Fall Interesse, und darüber hinaus muß man sich weiter auseinandersetzen.
Es ist schon hart, wenn AktivistInnen für einen Flaschenwurf auf einen gepanzerten Polizisten ein halbes Jahr in U-Haft sitzen oder eine Bewährungsstrafe kriegen. Das ist auf jeden Fall politisch anzugreifen. Der heutige Bezug ist jedenfalls in Hamburg und Bremen da, und wir müssen sehen, wie es weitergeht.
SB: Wie gehst mit deinem Informationsvorsprung hinsichtlich der Geschichte der politischen Gefangenen um, ohne belehrend rüberzukommen?
WL: Wir haben durch unsere Veranstaltungen Leute angesprochen, die unsere Idee gut fanden und sich mit Beiträgen an der Diskussion beteiligen wollen. Es ging uns eben nicht nur um die damalige Geschichte, sondern auch darum, eine Verbindung zu heute zu ziehen. Bei G20 haben die Leute gesehen, daß wir gewisse Erfahrungen haben. Auch wenn mensch nicht in politischer Hinsicht in allem übereinstimmt – ich drücke mich jetzt etwas vorsichtig aus – würde ich dort etwas sagen wollen, wo ich auch involviert bin. Dabei akzeptiere ich durchaus Positionen, die ich nicht unbedingt teile. Ich glaube, ich kann nur etwas sagen, wenn ich auch als älterer Mensch an heutigen Kämpfen beteiligt bin. Das ist dann auch nicht aufgesetzt oder vom Sessel aus.
SB: Hast du schon Pläne für die Zukunft, was Themen, Publikationen oder Veranstaltungen betrifft?
WL: Dieses Jahr wird es noch eine Veranstaltung in Leipzig geben. Im „Gefangenen-Info“ wird ein Beitrag der heutigen Veranstaltung „Haben die Aussagen der Gefangenen aus der RAF heute noch Gültigkeit?“ veröffentlicht. Zusätzlich werden wir von weiteren türkischen Gefangenen aus dem Münchener ATIK-Prozeß Beiträge publizieren. Auch gibt es erfreulicherweise noch zwei Texte von jüngeren Menschen.
SB: Wolfgang, vielen Dank für dieses Gespräch.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0295.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0296.html
[2] Zu beziehen über kontakt@political-prisoners.net (Kostet 5 EUR.)
[3] Zur „Todesnacht in Stammheim“ (Helge Lehmann) siehe:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0126.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0139.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0141.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0143.html
[4] Bei den dreien soll es sich um Burkhard Garweg, Daniela Klette und Ernst-Volker Staub handeln.
29. November 2017