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Iran: Der Aufstand von November 2019, ein Rückblick

Seit Jahren befindet sich die iranische Gesellschaft in einem explosiven Zustand. Die schweren und unerträglichen wirtschaftlichen Bedingungen, steigende und unaufhaltsame Inflation, weit verbreitete Arbeitslosigkeit, zunehmende Probleme des Lebensunterhalts, Armut, Elend und Hunger, betreffen die Mehrheit der hart arbeitenden Menschen.

Diese Umstände sind einfach nicht zu ertragen. Während Millionen Arbeiter*Innen und Werktätigen sowie arbeitslose Jugendliche in Armut und Hunger getrieben werden, wird eine Minderheit von Schmarotzern immer reicher und steigert ihr Vermögen, bewohnt luxuriöse Paläste und lebt im grenzenlosen Luxus. Der gesamte Staatsapparat ist korrupt. Tagtäglich verschwinden Milliarden US Dollar, die durch die harte Arbeit der iranischen Arbeiter*Innen erwirtschaftet worden sind. Milliarden Dollar werden in Libanon, Irak, Jemen und Syrien für islamistische, schiitische Gruppen und / oder religiöse Einrichtungen
und für die Verbreitung von religiösen Aberglauben verschwendet. Das Leid der Menschen ist so groß, dass es keinen Zweifel an der Notwendigkeit des Sturzes dieses Regimes gibt.

Währenddessen ist die politische Situation schwieriger und die Repression verschärft worden. Arbeiter*Innen, Lehrende, Studierende, Frauen, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Sozial- und Umwelt-AktivistInnen usw. werden wegen jeglicher Aktivität und Protestes verfolgt, festgenommen, inhaftiert, gefoltert und zu langen Haftstrafen verurteilt. Der Widerspruch zwischen der herrschenden Klasse und dem sie vertretenden politischen Regime und Arbeiter*Innen und Werktätigen hat sich derart verschärft, dass jedes Ereignis, klein oder groß, zu einer Explosion führen kann. Die November-Proteste waren der Ausdruck vom aufgestauten Zorn und Unzufriedenheit, die lange verborgen waren. Deshalb entwickelten sie sich prompt zu Protesten gegen alle Führer des Regimes und die gesamte bestehende Ordnung. Die Verdreifachung des Benzinpreises in der Nacht vom 15. November 2019 löste am Freitagmorgen sofort eine Protestwelle aus, die sich im ganzen Land ausgebreitet hat. Die Massen wussten aus Erfahrung, dass es dadurch alle
anderen Preise steigen werden. Die iranische Gesellschaft befindet sich in einer revolutionären Epoche. Nach der Protestbewegung von Januar 2018 kam es zu Streiks und umfassenden Protesten, wie Demonstrationen und Kundgebungen, durch die Arbeiter*Innen von Haft Tapeh [1] und Foulad Ahwaz [2]. Im laufenden Jahr gab es außerdem große Streiks und Proteste von Arbeiter*Innen von HEPCO[3] und AzarAb [4]. Der Aufstand von November ist zwar die Fortsetzung der bisherigen Proteste, weist jedoch besondere Merkmale auf, die sie von den bisherigen Aufstände unterscheidet. Eine wichtige Gemeinsamkeit der Proteste von Januar 2018 und November 2019 ist ihre völlige Unabhängigkeit von den Fraktionen der Regierenden. Beide Protestbewegungen umfassten unmittelbar das ganze Land. Sie richteten sich gegen die Führer des Regimes, gegen Khamenei und Rouhani und gegen das gesamte diktatorische Regime. Dadurch entwickelten sie sich unmittelbar zu einem direkten und umfassenden politischen Kampf. Eine weitere Gemeinsamkeit dieser Aufstände ist ihre Klassenzusammensetzung und die Forderungen der Protestierenden. Städtische Werktätigen, Jugendliche, Arbeitslose
und Arbeitssuchende, Frauen, Arbeiter*Innen, Arme und am Stadtrand lebende Werktätigen waren die dominierenden Kräfte dieser Aufstände, die für Arbeit, Brot und Freiheit aufgestanden sind. Die Unterschicht und Mittelschicht war deutlicher präsenter als im Januar 2018. Das ist ein Zeichen dafür, dass unter dem Druck der wirtschaftlichen Lage und durch die Politik des Regimes immer mehr Menschen in Armut und Elend getrieben werden. Die Besonderheiten der November – Protestbewegung sind u. a. : Die November-Proteste waren wesentlich größer. Es nahmen viel mehr Menschen daran teil als 2018. Die Proteste fanden in mehr als 100 Städten und in 22 Provinzen statt und umfasste auch Teheran. Es kamen einige Städte dazu, die 2018 nicht dabei waren. Die Proteste fanden diesmal außerdem in mehreren Stadtteilen statt. Auf zahlreichen Autobahnen und Straßen stoppten die Menschen ihre Autos und führten große Blockaden herbei.

Diese Taktik der Dezentralisierung der Proteste stärkte die Protestbewegung und erschwerte die Mobilität und Kontrollfähigkeit der Repressionsorgane. Während 2018 die Proteste hauptsächlich nachts stattfanden, um auch die Erkennung der Protestierenden zu erschweren, fanden sie nun ganztägig statt. In einigen Städten wurden die Überwachungskameras in den Stadtzentren ausser Betrieb gesetzt. In Ahwaz und Teheran wurden die Flaggen des Regimes eingeholt. Die angewendeten vielfältigen Taktiken führten Mancherorts praktisch zur Schließung von Schulen, Universitäten und Behörden. Der Hauptunterschied besteht jedoch in den angewendeten Formen und Methoden des Kampfes. Obwohl Demonstrationen die hauptsächliche Protestform bildeten, wurden sie von Angriffen auf Zentren der Unterdrückung und Ausbeutung des Regimes begleitet. Mehrere Stützpunkte der Revolutionsgarden,
Polizei, Basij usw., religiöse Einrichtungen, Fahrzeuge der Polizei…, Banken, Tankstellen usw. wurden in Brand gesetzt. Damit drückten die Protestierenden ihren tiefen Hass gegen das religiöse Regime und seine Zentren der Unterdrückung und Ausbeutung. Das spricht für die Fähigkeit und das Bewusstsein der Massen, die enge Verbindung dieser Zentren mit den Repressionsorganen des Regimes zu erkennen. Die Massen drückten damit auch ihren Hass und Abneigung gegen die kapitalistische Ordnung und ihre Finanzzentren aus. Es herrschte eine offensive Mentalität. Die Konfrontation mit den Repressionsorganen und ihre Zurückdrängung in einigen Fällen sind weitere Merkmale der jüngsten Proteste. Das vom Aufstand der Massen zutiefst erschrockene, reaktionäre Regime der islamischen Republik, unterdrückte diese Proteste brutal. Khamenei bezeichnete die Protestierenden als „Schurken“ und rief einen „Sicherheitskrieg“ aus. Um die Protestbewegung ungehindert und intensiver unterdrücken zu können, wurde sie als vom Ausland gesteuert bezeichnet und dem berüchtigsten Teil der Opposition der islamischen Republik zugeordnet. Mehr als 300 Demonstrant*Innen kamen in den ersten Tagen ums Leben. Es wurde gezielt auf den Kopf oder Brust der Protestierenden geschossen. Es gibt sehr viele Verletzte. Krankenhäuser sind aufgefordert, „verdächtige Fälle“ zu melden. Es wird berichtet, dass Leichen nur gegen eine hohe Summe an die betroffenen Familien weitergegeben werden. Trauerfeiern sind untersagt worden. Es soll landesweit über 10000 Festnahmen geben. Das ist zweimal so viel wie nach den Protesten vom Januar 2018. Alle Banden der Regierenden, vom Führer der islamischen Republik bis zur Justiz, der Exekutive, dem Parlament, Leitern religiöser Institutionen, Revolutionsgarden…. drohen einstimmig die Festgenommenen mit der
Höchststrafe und Hinrichtung. Die Internetverbindungen wurden gekappt, damit keine Informationen über die Protestbewegung sowie ihre Unterdrückung ins Ausland durchsickern.

Nach diesem Schritt und der Verschärfung der Unterdrückung und Ermordung von DemonstrantInnen verkündete die Regierung das Ende der Proteste. Die islamische Republik mag es geschafft haben, durch maßlose Gewalt und Brutalität, durch Ermordung von Hunderten, durch Festnahmen und Inhaftierung, einen Massenaufstand zu unterdrücken. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass es neue und umfangreichere Proteste und Aufstände geben wird. Der Aufstand von Januar 2018 wurde brutal unterdrückt, wir waren Zeugen der aktuellen Proteste. Der Grund dafür liegt darin, dass die Ursachen dieser Proteste bestehen geblieben sind. Solange die anfangs beschriebenen Umstände existieren, sind Massenproteste und – aufstände unvermeidbar. Protestbewegungen, die sich stets einen Schritt weiterentwickeln. Wir stellen seit Januar 2018 fest, dass sich das politische Bewusstsein der Protestierenden gesteigert hat. Es nehmen viel mehr Menschen daran teil und es radikalisiert sich weiter. Für die islamische Republik gibt es kein
Entkommen. Sie kann sich weder vor dem Zorn der Arbeiter*Innen und Werktätigen, noch vor der Gefahr retten, von ihnen gestürzt zu werden.
Artikel aus KAR; Nummer 848; Nov. 2019

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Haft Tapeh: Agroindustrieller Rohzucker Komplex in Provinz Khuzistan. Sie besteht seit 1961 und hat über 5000 Beschäftigte. Seit mehr als 13 Jahren kämft die Belegschaft stets für ausstehende Löhne, Klarheit über ihre Altersversorgung und dauerhafte Arbeitsverträge. Während ihres Streiks wählte die Belegschaft den „Unabhängigen Rst der Arbeiter*Innen von Haft Tapeh“ in den die Vertreter einzelner Abteilungen gewählt 6.
Foulad Ahwaz: Iran National Steel Industrial Group ist der größte Stahlhersteller im Iran. Das Unternehmen wurde 1973 gegründet und verfügt über 4000 Beschäftigte. Sie wurde zuletzt 2017 privatisiert. Seitdem kämpft die Belegschaft für ausstehende Löhne und gegen unsichere Arbeitsverhältnisse.
HEPCO: Heavy Equipment Production Company ist das größte Baumaschinenhersteller im Iran. Es beschäftigt derzeit ca. 1500 Mitarbeiter*Innen. Es wurde gegründet im Jahre 1972. Die Belegschaft kämpft für ausstehende Löhne und dauerhafte Arbeitsverträge.
AzarAb Industries: besteht seit 1989 und hat über 2000 Beschäftigte. Die Belegschaft kämpft andauernd für ihre ausstehenden Löhne und sichere Arbeitsverhältnisse.

INTERNATIONAL KAAR (LABOUR)

Auslandskomitee der Organisation der Fadaian (Aghaliyat) Dezember 2019