ITALIEN :110 Tage im Hungerstreik

Kritik an verschärften Haftbedingungen für Alfredo Cospito. Linke Parteien gehen gegen Gesetz »41-bis« vor
Von Gerhard Feldbauer JUNGE Welt 8.2.23

Ein Ende ist nicht in Sicht. Vor 110 Tagen trat der 55jährige Anarchist Alfredo Cospito in den Hungerstreik, um gegen die Bedingungen seiner Inhaftierung zu protestieren. Wie die linke Zeitung Il Manifesto berichtete, will Cospito, der mittlerweile in das Klinikzentrum des Mailänder Operngefängnisses verlegt wurde, den Streik fortsetzen, auch wenn er bewusstlos werden sollte. Er nehme nur Salz oder Zucker zu sich und trinke viel, um seinen Geist aktiv zu halten, berichtete die »grüne« Abgeordnete Ilaria Cucchi, die ihn am Wochenende dort besuchte. Sein Zustand werde »von Stunde zu Stunde schlimmer«. Il Manifesto verwies auf Artikel 32 der Verfassung, der erzwungene Ernährung und medizinische Behandlung ohne Zustimmung verbietet.
Die staatliche Nachrichtenagentur ANSA stellt die Lage anders dar. Der Zustand des Gefangenen sei nicht »alarmierend« und »vorerst stabil«, meldete die Agentur am Dienstag. »Sollte sich die Situation jedoch zuspitzen, wird Cospito in die Abteilung für Strafvollzugsmedizin des Krankenhauses San Paolo in Mailand verlegt.«
Cospito war 2012 verhaftet und zu lebenslanger Haft bei verschärften Bedingungen verurteilt worden. Zur Last gelegt wurde ihm, einem Manager des Atom- und Rüstungsunternehmens Ansaldo Nucleare ins Bein geschossen und einen Anschlag auf eine Carabinieri-Kaserne verübt zu haben, bei dem es keine Verletzten gab.

Die faschistische Ministerpräsidentin Georgia Meloni rief zwar gegenüber dem Mailänder Corriere della Sera »zur Besonnenheit« auf, lehnt eine Aufhebung des Gesetzes »41-bis«, das die verschärfte Isolationshaft regelt, allerdings nach wie vor ab. Parlamentarier des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD), die die Aufhebung des Gesetzes fordern, bezichtigten Meloni, Terroristen und der Mafia in die Hände zu spielen. Der PD versucht das Gesetz mit rechtlichen Schritten zu kippen. Vertreter des sozialistischen Partito Socialista Italiano (PSI), die »41-bis« ein »verfassungswidriges Monster« nennen, kündigten an, am 13. Februar beim Verfassungsgericht einen Streithilfeantrag zu stellen.
Offensichtlich haben »einige in der Regierung entschieden, dass Alfredo Cospito sterben soll«, vermerkte das linke Journal Contropiano auf seinem Onlineportal. Man lasse eine »politische Agenda« erkennen, die jede positive Intervention der Gefängnisverwaltung gegenüber dem Anarchisten ausschließt. Wer sich fortan für eine wie auch immer geartete humanitäre Maßnahme einsetzen sollte, werde wahrscheinlich der Unterstützung von Terrorismus und Mafia bezichtigt werden.

Am Wochenende protestierten Anarchisten vor der Universität La Sapienza in Rom sowie vor dem Gefängnis in Mailand gegen die Behandlung des Gefangenen. In Mailand warf eine Gruppe von Demonstranten Steine und Rauchbomben über den Gefängniszaun. Am Montag forderten über 150 Organisationen bzw. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – Schriftsteller, Künstler, Journalisten, Gewerkschafter, Rechtsanwälte, Verfassungsrechtler und Politiker – in einem Appell die Annullierung der Freiheitsstrafe. Der Fall Cospito zeige die »Unverhältnismäßigkeit« der im Einzelfall verhängten Strafe und die »Notwendigkeit, zwei unmenschliche Institutionen wie lebenslange Haft und ›41-bis‹ sowie das gesamte System der Sonderhaft zu überwinden«, heißt es in dem Papier. »41-bis« habe sich »als ein Instrument der Erpressung erwiesen, um Gefangene auf der Grundlage tatsächlicher Folterpraktiken zur Zusammenarbeit mit der Justiz zu drängen.«