G-20-Verfahren: Landgericht Hamburg rügt Ermittlungsarbeit der Polizei. Prozess wird deutlich ausgeweitet
Kein einziger Beamter angeklagt: Polizeiübergriff während des G-20-Gipfels am Millerntor in Hamburg
Nach dem G-20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 hatten Polizei und Justiz nur ein Ziel: der Öffentlichkeit so viele vermeintliche Randalierer wie möglich zu präsentieren, um den desaströsen Polizeieinsatz an den Gipfeltagen vergessen zu machen.
Angesichts dieser Verfolgungswut zählten schnelle Erfolge mehr als Sorgfalt und die Einhaltung fachlicher Grundsätze und rechtlicher Bestimmungen.
In diversen G-20-Prozessen sind bereits Mängel der Polizeiarbeit zu Tage getreten. Im sogenannten Elbchaussee-Verfahren vor der Großen Strafkammer 17 des Landgerichts Hamburg sind sie offenbar so massiv, dass die Kammer schriftlich die Zuverlässigkeit der Ermittlungsakten bezweifelte (jW vom 26. April) – eine schallende Ohrfeige für die Ermittler. Für Staatsanwaltschaft und Polizei, die diesem Verfahren eine große Bedeutung beimessen, bahnt sich eine herbe Niederlage an.
Im »Elbchausee-Prozess« geht es seit Dezember 2018 um Ausschreitungen in Altona am Morgen des 7. Juli 2017, des ersten Gipfeltags. Etwa 220 Vermummte zogen damals über die Elbchaussee und durch die Einkaufsmeile Große Bergstraße, zündeten Autos an und warfen Fensterscheiben von Geschäften ein. Das Verfahren vor dem Landgericht ist das erste, das sich mit dem Komplex beschäftigt.
Angeklagt sind fünf junge Männer, vier Deutsche aus dem Rhein-Main-Gebiet und ein Franzose. Konkrete Straftaten können ihnen nicht zugeordnet werden, die Angeklagten sollen in einer Art Sippenhaftung für die mutmaßliche Teilnahme an dem Aufzug verurteilt werden. Im Januar schloss die Kammer die Öffentlichkeit aus, vorgeblich zum Schutz von zwei Angeklagten, die zum Tatzeitpunkt noch minderjährig waren.
Wer ist hier Verfassungsfeind?
Im Laufe des Prozesses haben die Zweifel der Kammer an der Ermittlungsarbeit der Polizei offenbar immer mehr zugenommen, wie aus einem Bericht des NDR-Ressorts Investigation vom Freitag hervorgeht. Nach Recherchen des Senders hat das Gericht in einem schriftlichen Beschluss vom 1. März vermerkt, auf das in den Ermittlungsakten »geschriebene Wort« sei »wenig Verlass«.
Vor Gericht hätten Zeugen, so wird in dem Beitrag weiter berichtet, Aussagen, die die Polizei in den Ermittlungsakten notiert habe, entschieden bestritten. Polizeivermerke seien gar als »Quatsch« bezeichnet worden. Die Zeugen sollen erklärt haben, sie hätten ihnen zugesprochene Aussagen nie gemacht. Laut NDR wollen sich die Richter darum nicht mehr auf »weitere Polizeivermerke« verlassen und statt dessen deutlich mehr Zeugen vorladen als ursprünglich geplant. Der Prozess werde daher mindestens bis September dauern – bisher wurde ein Urteil noch im Mai erwartet.
Nach der Vernehmung des Ermittlungsführers der Polizei sei die Kammer außerdem zu dem Schluss gekommen, dass sich auf dessen Abschlussbericht »nur wenig gestützt werden kann«. Der Beamte habe demnach bei seiner Aussage vor Gericht selbst angebliche Ermittlungsergebnisse als »Arbeitshypothesen« bezeichnet. Auch die Videos vom Aufmarsch auf der Elbchaussee seien nicht so aussagekräftig, wie es zuerst schien. Das gelte besonders dann, wenn man die Videos ohne die – aus Sicht der Richter – »suggestiven Bearbeitungen« der Polizei anschaue.
Für Hamburgs Staatsanwaltschaft zeichnet sich angesichts der Kritik des Gerichts das zweite Debakel in einem prominenten G-20-Verfahren ab. Bereits im Prozess gegen den Italiener Fabio V. vor dem Amtsgericht Altona konnte sie ihre Auffassung nicht durchsetzen, dass ein Mitgehen in einem Aufzug, aus dem heraus Straftaten begangen wurden, strafbar ist – selbst wenn man nicht direkt an den Taten beteiligt war.
Auch für Hamburgs Polizei wäre ein Freispruch im »Elbchaussee-Prozess« eine herbe Niederlage. Weil sie damals nicht zur Stelle war und die Krawalle in Altona nicht verhindern konnte, war sie scharf kritisiert worden. Um die Scharte auszuwetzen, hatte sie ihren Ehrgeiz darauf gerichtet, Teilnehmer des Aufzugs namhaft zu machen und vor Gericht zu stellen.
Insgesamt hat die Polizei einen gigantischen Aufwand getrieben, um G-20-Straftäter zu ermitteln. Nach eigenen Angaben vom März hat sie bisher mehr als 3.500 Ermittlungsverfahren geführt. Die Staatsanwaltschaft leitete mehr als 850 Ermittlungsverfahren gegen rund 1.150 namentlich bekannte Beschuldigte ein. Hinzu kommen noch rund 1.500 Verfahren gegen unbekannte Beschuldigte. Rund 280 Anklagen hat es bisher gegeben und mehr als 130 Urteile. Trotz einer Vielzahl dokumentierter Fälle von Polizeigewalt während des Gipfels ist aber nach wie vor kein einziger Polizeibeamter angeklagt worden.
Von Kristian Stemmler, junge Welt 29.4.19