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Keine Rechtsgrundlage

Dürftige Anklagekonstruktion, fragwürdige Ermittlungsmethoden: Verteidiger stellen G-20-Verfahren in Hamburg grundsätzlich in Frage

»Angriff auf das Demonstrationsrecht«: Angeklagte, Anwälte und Richter am Dienstag im Hamburger Landgericht
Foto: Daniel Bockwoldt/dpa
Mit Blick auf den Prozess um die G-20-Proteste in Altona am 7. Juli 2017, der am Dienstag vor dem Landgericht Hamburg begann, hat die Strafverteidigerin Gabriele Heinecke scharfe Kritik an Teilen der Justiz geübt. Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft Hamburg und des 1. Senats des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG) in dem Verfahren bezeichnete die Anwältin, die einen der fünf Angeklagten vertritt, am Mittwoch im Gespräch mit jW als »Angriff auf das Demonstrationsrecht«. In dem Prozess stünden Grundrechte auf dem Spiel, die für die Demokratie essentiell seien.

Offenbar versuchten Staatsanwaltschaft und OLG zu vollenden, was ihnen im Prozess gegen den Italiener Fabio V. im Herbst 2017 nicht gelang, mutmaßte Heinecke, die auch V. vertreten hatte. Dem Italiener waren, wie jetzt den fünf Angeklagten, keine konkreten Taten vorgeworfen worden. Er sollte nur für das Mitgehen in einer Demonstration im Industriegebiet Rondenbarg am 7. Juli 2017 verurteilt werden. Der Elbchaussee-Prozess dürfte der zweite Anlauf sein, eine solche Verurteilung nach dem Motto »Mitgegangen, mitgefangen« durchzusetzen.

Im Zentrum steht dabei erneut die Interpretation eines Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH), das im Mai 2017 ein »ostentatives Mitmarschieren« in einer gewaltbereiten Gruppe für strafbar erklärte. Für den OLG-Senat steht fest, dass dieses Urteil auch auf G-20-Gegner anwendbar ist. Aus Heineckes Sicht wird dabei unterschlagen, dass es vor dem BGH um Fußball-Hooligans ging, die sich per Whats-App zu einer Prügelei verabredet hatten. Und dass das Urteil politische Demonstrationen ausnahm, bei denen es zu Gewalt kommt, die aber nicht von allen Teilnehmern unterstützt wird.

Schon am ersten Tag versuchte die Staatsanwaltschaft, den Aufzug an der Elbchaussee als kriminelles Unternehmen darzustellen. Das Ganze habe mit Versammlungsfreiheit so viel zu tun gehabt »wie der HSV mit der Champions League«, witzelte der Staatsanwalt laut Spiegel online vom Dienstag. Heinecke erklärte dagegen vor Gericht, der Aufzug habe »alle Attribute einer Demonstration« gehabt. So sei ein Transparent mit einer politischen Aussage vorangetragen worden. Die Staatsanwaltschaft bediene sich einer »Konstruktion, gegen die der Wortlaut des Anklagesatzes selbst spricht«. Darin sei von rund 220 Beteiligten am Aufzug die Rede, aber nur von »mehreren gewaltbereiten Beteiligten«.

Es sei eine »völlige Überforderung« von jungen Menschen – ihr Mandant war zum Zeitpunkt der Demonstration 17 Jahre alt – eine Einordnung zu verlangen, ob sich eine Kundgebung unfriedlich entwickle und wie sie sich dann zu verhalten hätten. Ein Verbleiben im Aufzug ohne eigene Aktivitäten bedeute nichts, »schon gar keine Zustimmung zu Gewalttaten«, sagte Heinecke. Zudem hätte die Polizei, die mit einem Hubschrauber vor Ort war, die Versammlung auflösen müssen. »Ein Jahr später durch die Hintertür kommen und erklären: Ihr sitzt im Knast, weil das gar keine Demo war – das ist juristisch so grundfalsch, dass man nur den Kopf schütteln kann.«

Kritik am 1. Senat des OLG kam auch vom Hamburger Anwalt Wolf Dieter Reinhard, der einen anderen der fünf Angeklagten vertritt. Der Senat hatte im Vorfeld die Haftverschonung für zwei der Angeklagten mit einer scharf formulierten Begründung kassiert. Darin war etwa von einem »schwarz uniformierten Mob« die Rede. Das sei eine »Sprache der Straße, eine Sprache der AfD«, betonte Reinhard.

Wie gerufen kam der Verteidigung eine Entscheidung des Hamburger Datenschutzbeauftragten Johannes Caspar, die er am Dienstag pünktlich zum Prozessbeginn traf. Caspar ordnete die Löschung der biometrischen Datenbank an, mit deren Hilfe die inzwischen auf eine Ermittlungsgruppe reduzierte Sonderkommission (Soko) »Schwarzer Block« der Polizei nach Randalierern beim G-20-Gipfel im Juli 2017 fahndet. Eine Steilvorlage für die Verteidiger, denn die bestreiten die Rechtmäßigkeit dieser Fahndungsmethode, mit der auch die fünf Angeklagten ermittelt wurden.

Die Anordnung, gegen die Innensenator Andy Grote (SPD) vermutlich klagen wird, ist der Versuch, die Datensammelwut der Polizei zu begrenzen. Rund 32.000 Video- und Bilddateien habe die Polizei bisher gespeichert und mit einer Gesichtserkennungssoftware gescannt, teilte Caspar mit. Davon seien »massenhaft« Bürger betroffen, die nicht tatverdächtig seien. Im Rechtsstaat sei nicht alles zulässig, was technisch möglich sei. Bereits im August hatte der Datenschutzbeauftragte in einem Gutachten festgestellt, für das Vorgehen der Soko fehle jede Rechtsgrundlage.
Von Kristian Stemmler junge Welt 20.12.18