KLASSENJUSTIZ Ruf aus dem Knast

Terrorparagraphen gegen Antifaschisten aus der Türkei. Anwalt beklagt politisches Verfahren

Seit Mai befindet sich die Journalistin und politische Aktivistin Özgül Emre in der rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt Rohrbach unter Terrorismusvorwürfen in Untersuchungshaft. Vor wenigen Tagen wurde ein Brief bekannt, mit dem sich die politische Gefangene an die Öffentlichkeit gewandt hat, um über die Umstände ihrer Festnahme und ihre Haftumstände zu berichten. Zudem bereitet ein Solidaritätsbündnis eine Kundgebung vor dem Justizministerium vor.

Einen Tag nach Emre waren am 17. Mai auch Serkan Küpeli und Ihsan Cibelik – Musiker der bekannten linken Formation Grup Yorum – in ihren Wohnungen in Hamburg und Bochum festgenommen worden. Alle drei Inhaftierten werden verdächtigt, führende Mitglieder der in der BRD verbotenen Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) aus der Türkei zu sein. Emre soll laut Bundesanwaltschaft die Deutschland-Verantwortliche der antiimperialistischen Organisation gewesen sein. Die Ermittlungen werden auf Grundlage des Paragraphen 129 b Strafgesetzbuch geführt, der sich gegen vermeintlich terroristische Vereinigungen im Ausland richtet.

Laut Emres Rechtsanwalt Frank Jasenski hat sich die Generalbundesanwaltschaft noch nicht dazu geäußert, wann Anklage erhoben wird. Jedenfalls müsse über die Verlängerung der Untersuchungshaft nach einem halben Jahr entschieden werden. Das Verfahren sei generell merkwürdig, weil der angebliche Tatzeitraum schon Jahre zurückliege, erklärte Jasenski am Freitag im Gespräch mit jW. Die Ermittlungen liefen demnach schon seit Mitte des letzten Jahrzehntes. »Eine einleuchtende juristische Begründung gibt es dafür nicht, es handelt sich eindeutig um ein politisch motiviertes Verfahren«, so der Anwalt. Freiheitskampf und Revolution sei kein Terror, erst recht nicht im Zusammenhang mit der Türkei, die alles andere als demokratisch sei. Der Anwalt fordert die Einstellung der Verfahren.

Nach ihrer Festnahme war Emre in einen unbefristeten Hungerstreik getreten, weil sie Haftkleidung tragen sollte. Dies lehnte sie als Unterwerfungsgeste grundsätzlich ab. Nach 44 Tagen – als sie sich aufgrund schlechten Gesundheitszustandes bereits in einem Justizkrankenhaus befand – war ihrer Forderung nachgekommen worden, und sie durfte zivile Kleidung anziehen.

Ihr gehe es aufgrund der Gewissheit, im Recht zu sein, trotz der politischen und juristischen Belagerung sehr gut, versichert die Inhaftierte in ihrem Brief. Sie sei aber auf Grundlage von Lügen auf offener Straße entführt worden, beschrieb sie ihre Festnahme am Heidelberger Bahnhof. Obwohl ihr Wohnort bekannt war, sei so getan worden, als wäre sie nicht auffindbar. Damit sei bezweckt worden, sie als Schuldige darzustellen, denn anders hätten Verhaftung und Untersuchungshaft nicht begründen werden können. Ziel sei es, ein Exempel zu statuieren an denjenigen, die sich am antifaschistischen und antiimperialistischen Kampf beteiligen.

Detailliert schildert Emre in ihrem Brief, wie ihr der Hofgang verwehrt wurde und männliche Wärter täglich neue Teller mit Essen gebracht hätten, während sie ihren Hungerstreik in Unterwäsche und Bettlaken fortführte. Am Ende habe sie am Tag kaum noch zwei Tassen Flüssigkeit aufnehmen können, die sie später unter Schmerzen erbrochen habe. Auch dabei sei sie auf der Krankenstation von Kameras gefilmt worden. »Ich habe verstanden, dass kein juristisches, sondern ein politisches Verfahren auf mich wartet. Von Dir, von Euch möchte ich, dass Ihr mich in meinem Kampf für Freiheit nicht alleine lasst«, forderte die Gefangene am Ende ihres Schreibens Solidarität.

Ein Bündnis – bestehend aus der Solidaritätsorganisation Rote Hilfe, dem Palestinian Prisoners Solidarity Network, dem Komitee für antiimperialistischen Kampf (AEMK) und dem Stadtteilverein Wedding United – ruft für den 27. November zu einer Kundgebung vor dem Bundesjustizministerium auf. Gefordert werden die Abschaffung des Paragraphen und die Freilassung aller deswegen inhaftierten Antifaschistinnen und Antifaschisten.

Von Henning von Stoltzenberg junge Welt 12.11.22