Über den Tod von Achidi John in Hamburg durch Brechmittel und die Verantwortung der Politiker. Ein Gespräch mit Rainer Schmidt und Christian Arndt
Interview: Markus Bernhardt
Rainer Schmidt war Geschäftsführer von Palette e. V. und im Vorstand von Freiraum Hamburg e. V., beide Vereine engagieren sich in der Arbeit mit Drogengebrauchern und machen sich für eine akzeptierende Drogenpolitik stark.
Am 12. Dezember 2001, also vor gut 20 Jahren, kam Achidi John in Hamburg ums Leben. Der damals 19jährige Nigerianer war zuvor von Zivilpolizisten im Hamburger Stadtteil St. Georg »wegen des Verdachts des Drogenhandels« festgenommen worden. Er wurde umgehend in die Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Eppendorf, UKE, gebracht, wo ihm mittels einer Magensonde das Brechmittel Ipecacuanha zwangsweise durch einen Schlauch in der Nase eingeflößt wurde. Daraufhin kollabierte er und verstarb. Herr Schmidt, Sie waren damals Geschäftsführer von Palette e. V., einem Drogenhilfeträger. Wie erinnern Sie sich an den Fall?
Rainer Schmidt: Da läuft sofort ein ganzer Film ab. Beginnend um 1990, als die Hamburger Polizei Jagd auf vorzugsweise schwarze Kleinstdealer machte. St. Georg und der Hauptbahnhof als Visitenkarte der Stadt sollten »sauber« und von Dealern, Bettlern, Obdachlosen »bereinigt« werden. Besonders betroffen waren dunkelhäutige Menschen. Sie wurden massenhaft von der Polizei aufgegriffen. In der Wache 11 kam es zu schwerwiegenden Übergriffen wie dem Besprühen mit Insektenmitteln und dem zwangsweisen Einflößen von Brechmitteln. Dabei ging es nicht nur darum, lächerlich kleine Mengen verschluckter Drogenmengen als Beweismittel zu sichern, sondern um Abschreckung und Einschüchterung. Von Scheinhinrichtungen war die Rede. Die Menschenrechte der Betroffenen wurden von Polizisten mit Füßen getreten. In der Szene war dies alles bekannt. Aber erst als ein Polizist diese Vorgänge Vorgesetzten und politisch Verantwortlichen vortrug, gab es Reaktionen: Nach Intervention des damaligen Ersten Bürgermeisters Henning Voscherau, (SPD, im Amt von 1988–1997, jW) wurden 27 Polizisten vom Dienst suspendiert und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingerichtet, der die Vorfälle weitgehend bestätigte. Das Ergebnis war, dass Brechmitteleinsatz für die Zukunft ausgeschlossen wurde. Das lag zum Verdruss etlicher Politiker und Medien an den Einlassungen des Leiters der Rechtsmedizin, Klaus Püschel, der eine solche Maßnahme aus medizinischen Gründen als zu gefährlich ansah.
Wie konnte es dann aber 2001 zum Brechmitteleinsatz und Tod von Achidi John kommen ?
R. S.: 2001 saßen der als »Richter Gnadenlos« bekanntgewordene Ronald Barnabas Schill und die CDU mit Ole von Beust der »rot-grünen« Landesregierung im Nacken. Die Debatte wurde von den Themen innere Sicherheit und Wiederbelebung des Brechmitteleinsatzes dominiert. Der damalige Hamburger SPD-Chef Olaf Scholz fürchtete den Machtverlust, beförderte sich selbst auf den Sessel des Innensenators und fragte bei Rechtsmediziner Püschel nach, wie er nun zum Einsatz von Brechmitteln stehe. Er hatte plötzlich keine Bedenken mehr. Damit war der – auch gewaltsame – Einsatz von Brechmitteln beschlossene Sache.
Die SPD und die GAL (Grün-Alternative Liste, damaliger Name des Grünen-Landesverbandes, jW) rechtfertigten dies öffentlich. Sie setzten den Brechmitteleinsatz aus reinem Machtkalkül durch. Was in den 1990er Jahren von den SPD-geführten Regierungen als menschenverachtende Übergriffigkeit von Polizisten betrachtet und verurteilt worden war, wurde nun unter Scholz staatlich angeordnete Folter. Todesfälle waren nicht auszuschließen. So jedenfalls sahen es Kritiker. Und so kam es ja auch am 12. Dezember 2001 im Fall von Achidi John.
Herr Arndt, Sie waren von 1979 bis 2003 als Pastor im Schanzenviertel tätig. Warum lässt Sie der Fall Achidi John bis heute nicht kalt?
Christian Arndt: Es ist nicht nur das grausame Sterben des jungen Mannes in der Gerichtsmedizin. Ein Mensch wurde durch staatliches Handeln um sein Leben gebracht, und gegen die Verantwortlichen wurde nicht einmal ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Auch nicht gegen die direkt Beteiligten – Polizisten und das medizinische Personal.
Sie sagten: Es ist nicht nur das grausame Sterben …
C. A.: … sondern auch das, was die »rot-grüne« Koalition erreichen wollte: die Wahlen im Herbst 2001 gewinnen, an der Macht bleiben und nicht – Rainer Schmidt erwähnte es bereits –, »Beweissicherung« zu ermöglichen. Diese hätte auch auf anderem Weg erfolgen können.
Verstehe ich Sie richtig, dass dieser Fall ein gewichtiger Grund für Ihr langjähriges und immer noch anhaltendes politisches Engagement ist?
C. A.: Das fing schon wesentlich früher an. In den 1970er Jahren engagierte ich mich gegen die Isolationsfolter von politischen Gefangenen, etwa aus der RAF, gegen die 1976 vom damaligen niedersächsischen CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht angefachte Diskussion über die Einführung der Folter für Terrorverdächtige, was viel Zustimmung fand. Die Menschenrechte waren immer Thema in meinem Konfirmandenunterricht und in Predigten sowie auch das Recht auf ein würdiges, freies Leben.
Sie sprechen beide von Folter. Ist das nicht zu dick aufgetragen? Folter ist schließlich nicht nur in der Bundesrepublik verboten.
C. A.: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, hat die gegen Achidi John angewandte Zwangsmaßnahme als »inhumane, erniedrigende Behandlung« und damit als Verstoß gegen das Folterverbot qualifiziert.
R. S.: Außerdem haben wir bereits erwähnt, dass wir die polizeilichen Maßnahmen gegen die Kleinstdealer als willkürlich, übergriffig, menschenverachtend und rassistisch wahrgenommen haben. Damals ging uns das Wort Folter in diesen Zusammenhängen nicht so recht über die Lippen. Folter verorteten wir in Diktaturen wie Pinochets Chile und anderen Ländern weltweit, aber nicht in Deutschland. Hier gab es durchaus brutale »Übergriffe«, die wir aber nicht als Folter verstanden.
C. A.: Für uns können wir zumindest sagen, dass das Urteil des EGMR die Einschätzung von Übergriff und Folter verändert hat. In der Vergangenheit waren nicht nur wir viel zu nachsichtig mit dem Treiben der Repressionsorgane. In vielen, vielen Fällen wäre das Wort Folter angemessener gewesen. Wir können allein beim Brechmitteleinsatz bundesweit von Hunderten, wenn nicht Tausenden Foltermaßnahmen an Kleinstdealern ausgehen. Das sind ungeheuerliche Zahlen.
Wie konnte ein so gravierender Vorgang wie der Tod von Achidi John damals nicht das Karriereende für Olaf Scholz bedeuten?
R. S.: Im Kern haben die meisten politisch Verantwortlichen, die Medien und auch die Bevölkerung die Brechmitteleinsätze gebilligt und gerechtfertigt. Viele erhofften sich eine abschreckende Wirkung. Andere sahen darin ein probates Mittel der Beweiserhebung, um Drogendealer verurteilen zu können. Die kritischen Stimmen waren deutlich in der Minderheit. Die Stimmung zumindest in Hamburg war nicht danach, Verantwortliche abzustrafen. Scholz selbst stand nicht mehr in unmittelbarer Verantwortung, und die mittlerweile regierende Koalition aus CDU und Schill-Partei fand das EGMR-Urteil unverständlich. Die Hamburger Staatsanwaltschaft agierte in diesem Sinne und verhinderte die Strafverfolgung der an dem Tod von Achidi John beteiligten Personen unter anderem mit der Begründung, sie hätten kein Unrechtsbewusstsein gehabt. Anders dagegen in Bremen, wo 2005 Laye-Alama Condé nach einem Brechmitteleinsatz starb: Gegen Zahlung einer Geldstrafe von 20.000 Euro an die Eltern des Opfers wurde das Verfahren gegen den damaligen Polizeiarzt eingestellt, zudem entschuldigte sich das Bremer Parlament.
Erklärt sich das Problem nicht dadurch, dass in der bundesdeutschen Realität Angehörigen von Gruppen wie Drogengebrauchenden oder Geflüchteten ihre eigentlich gesetzlich verbrieften Rechte nicht zugestanden werden?
R. S.: Im Kern sind Betäubungsmittelgesetz, BtMG, und Ausländerrecht Instrumente, um Menschen auszugrenzen. Diejenigen, die vom Gesetz – aus welchem Grund auch immer – an den Rand gedrängt werden, haben es dann naturgemäß schwer in dieser Gesellschaft. Sie sind Minderheiten, die um Anerkennung und ihre Rechte kämpfen müssen. Bleiben wir beim Thema Drogen: Deren Gebraucher sollen vom Konsum durch einen »Trick« des BtMG abgehalten werden.
Was für ein Trick soll sie am Konsum hindern?
R. S.: Nicht der Konsum ist verboten, sondern der Besitz, der Vertrieb und die Herstellung der Drogen. Der Gesetzgeber verbietet also alles, was Voraussetzung für einen Konsum ist. In der Folge sind in der BRD seit der Verabschiedung des BtMG im Jahr 1972 durch die SPD geführte Koalition Zigtausende Menschen gestorben, begleitet von unglaublichem Elend gesundheitlicher, sozialer und psychischer Art. Konsumenten und deren Dealer werden diskriminiert, stigmatisiert, verfolgt und – wie beschrieben – gefoltert. Die Lobby der Cannabis-Konsumenten hat jetzt vielleicht einen Erfolg erreicht (die Ampelregierung plant die »kontrollierte Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften«, jW). Die Konsumenten sogenannter harter Drogen bleiben aber auf der Strecke. Gerade sie hätten eine Legalisierung bitter nötig. Das »Recht auf Rausch«, wie es Richter Wolfgang Neskovic vor Jahren forderte, bleibt dieser Personengruppe weiterhin verwehrt.
Herr Arndt, Sie waren als Pastor auf St. Pauli tätig – also in einem Stadtteil, in dem es viele soziale Probleme gibt. Welche Rolle spielt das Thema Armut in Ihrer Arbeit?
C. A.: Die Einhaltung der Menschenrechte schloss für mich Folter, das Verschwindenlassen von Menschen und das Vorhandensein politischer Gefangener usw. aus. Dass dazu auch die Einhaltung der sozialen, kulturellen und ökonomischen Menschenrechte gehört, war an mir zunächst vorbeigegangen. So richtig klar wurde mir das 2010, als der UN-Sozialrat Deutschland vorhielt, diese Rechte gezielt zu verletzen. Zum Beispiel durch die »rot-grünen« Hartz-Gesetze – um nur ein Beispiel von vielen aus der UN-Liste zu nennen. Der Theologe und Sozialwissenschaftler Franz Segbers spricht davon, dass Armut aus der Perspektive der Menschenrechte verrechtlichtes Unrecht ist. Die Geburtshelfer dieser Gesetze wie die SPD-Politiker Olaf Scholz und Frank-Walter Steinmeier waren Organisatoren einer sich weiter verstärkenden Armut. So betrachtet, müssen wir dafür kämpfen, dass diese gesellschaftliche und ökonomische Ordnung, die permanent Menschenrechte verletzt, überwunden und in eine menschengerechte überführt wird. Karl Marx lässt grüßen!
Würden Sie auch im Fall Oury Jalloh, der 2005 in einer Gewahrsamszelle im Keller eines Polizeireviers verbrannte, von Folter sprechen?
R. S.: Wegen der ganzen Umstände, die im Fall Oury Jalloh bekannt sind, zweifelt kaum jemand an der Annahme, dass es sich um Mord handelt – auch wenn das gerichtlich nicht bestätigt ist. Oury Jalloh reiht sich ein in eine lange Kette von Todesfällen in Gewahrsam und durch Polizeigewalt. So hat die Initiative »Death in Custody« für den Zeitraum von 1990 bis November 2021 insgesamt 203 Todesfälle von People of Color und von Rassismus Betroffenen recherchiert. Bei denen mag es unterschiedliche Ursachen geben, aber sie sind alle unter den Augen der Polizei geschehen. Dies lässt erahnen, was unerkannt im Gewahrsam der Polizei alles geschieht.
Gibt es in der Bundesrepublik ein strukturelles Problem mit Folter?
C. A.: Ein erhebliches Problem sogar. Das möchte ich an zwei zwingenden Vorschriften der UN-Antifolterkonvention erklären. Bei der Verfolgung von Verstößen ist eine »unparteiische« Untersuchung gefordert. Die kann meines Erachtens nur von einer von der Exekutive unabhängigen Institution geleistet werden, ausgestattet mit allen erforderlichen Rechten. Eine solche Institution ist aber bislang nicht gewollt. Ebenfalls nicht gewollt ist die strafrechtliche Verfolgung von Verstößen durch fremde Staaten auf deutschen Boden. Nach 2001 nutzten die USA ihren Militärstützpunkt Ramstein zur Verteilung von aus vielen Ländern entführten Terrorverdächtigen in geheime US-Foltergefängnisse. Das hätten die bisherigen Bundesregierungen unterbinden und strafrechtlich verfolgen müssen. So machten sie sich jedoch zu Komplizen schwerer US-Regierungsverbrechen, was wiederum ein eigenes Regierungsverbrechen ist. Als Bundeskanzleramtschef war der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier maßgeblich daran beteiligt. Später ging ein Untersuchungsausschuss des EU-Parlaments 2007 den Vorwürfen nach, Deutschland und andere EU-Mitgliedsländer hätten diese Verbrechen geduldet oder unterstützt. Im Fall des Bremers Murat Kurnaz wurde die Verletzung der Menschenrechtskonvention durch Deutschland festgestellt.
Worum ging es in diesem Fall?
C. A.: In Pakistan 2001 festgenommen und an die USA für Tausende Euro verkauft, wurde Murat Kurnaz von einem US-Geheimdienst in Afghanistan und Guantanamo gefoltert. Als festgestellt wurde, dass er mit Dschihadisten nichts zu tun gehabt hatte, wollten die USA ihn loswerden. Aber Bremer Behörden und das Bundeskanzleramt unter Steinmeier hintertrieben fünf Jahre lang seine Überstellung nach Deutschland.
Auch das Schicksal des Syrers Muhammad Haidar Zammar muss hier genannt werden. Zammar lebte in Hamburg und stand unter ständiger Beobachtung deutscher Dienste wegen des Verdachts einer Nähe zu dschihadistischen Kreisen. Die USA wollten seine Auslieferung, die aber mangels konkreter Beweise nicht erfolgte. Als Zammar von einem Besuch in Marokko nach Deutschland zurückfliegen wollte, teilten deutsche Dienste den USA den Tag und den Ort des Rückflugs mit. Dort festgenommen, wurde er nach Damaskus in ein Foltergefängnis des syrischen Geheimdienstes verschleppt. Steinmeier ließ Beamte deutscher Dienste nach Damaskus schicken, die Zammar in Anwesenheit des örtlich Geheimdienstes ebenfalls verhörten. Übrigens: Deutsche Regierungsvertreter haben eine Aussage zu diesen Fällen verweigert.
Und trotzdem haben alle von Ihnen angeführten Fälle für die Verantwortlichen keinerlei Konsequenzen gehabt?
C. A.: Keine! Im Gegenteil: Steinmeier wurde Außenminister und Bundespräsident, Scholz Bürgermeister in Hamburg und jetzt Bundeskanzler. Nun haben wir zwei SPD-Politiker an der Spitze der Bundesrepublik, die ein – um es vorsichtig auszudrücken – sehr elastisches Verhältnis zu Menschenrechten haben. Das erinnert mich an den für das Massaker nahe der afghanischen Stadt Kundus 2009 verantwortlichen Oberst Georg Klein, der später zum General befördert wurde.
Herr Arndt, erhalten Sie für Ihre Forderung nach einer menschengerechten Gesellschaft Unterstützung durch die Evangelische Kirche?
C. A.: (lacht)
Sie lachen?
C. A.: Das ist ein verbittertes Lachen.
Warum?
C. A.: Weil das kirchenleitende Personal nicht nur entsprechend der christlichen Glaubenspraxis handelt, sondern eher nach dem Bundeswehr-Motto: »Wir. Dienen. Deutschland.«
Das sollten Sie erläutern.
C. A.: Ich erinnere an den Beginn des Afghanistankriegs 2001. Nach wochenlangen Bombardierungen wurden die lutherischen Bischöfinnen und Bischöfe gebeten, sich der weltweiten Initiative für einen Bombenstopp anzuschließen. Kurz vor Weihnachten teilten sie dann mit: »Wir können einem Bombenstopp nicht das Wort reden.«
Dann 2016: Die Evangelische Akademie Tutzing zeichnet Frank-Walter Steinmeier mit ihrem Toleranzpreis aus, und zwar für seinen »unermüdlichen Einsatz, Menschenrechten, Freiheit und Gerechtigkeit weltweit Geltung zu verschaffen«. Die Laudatio hielt sein Parteifreund, der damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Heinrich Bedford-Strohm. Er würdigte ihn als »toleranten, gesprächsbereiten, geduldigen Menschen«. Weißwäscherei vom Feinsten!
Und: Der Präsident des Evangelischen Kirchtages 2023 wird der ehemalige Innen- und Kriegsminister Thomas de Maizière, CDU, sein. Ich erwarte, dass sich viele Menschen aus Flüchtlings- und Friedensinitiativen zusammen mit vielen anderen aufmachen, um ihn für sein Wirken als Minister zu »würdigen«. Vielleicht verstehe Sie jetzt mein Lachen!