Migranten gehören zum „Wir“

Das griechische Netzwerk für politische und soziale Rechte organisiert Solidarität mit politisch Verfolgten
Gefangen und ohne Rechte? Unterstützung für sozial Benachteiligte, von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge oder politische Gefangene organisieren verschiedene Initiativen weltweit und tagtäglich – nicht nur anlässlich des Tags der politischen Gefangenen am 18. März. In Griechenland gehört dazu seit 1987 das Netzwerk für politische und soziale Rechte (Diktyo), das sich im sozialen Zentrum »Steki« im Athener Stadtteil Exarcheia trifft. Auf den experimeND-Seiten werden Projekte, Initiativen und Menschen aus dem In- und Ausland vorgestellt, die versuchen, das Leben der Menschen eine Spur besser zu machen.

Etwa 30 Männer und Frauen aller Altersklassen haben sich im Obergeschoss des »Steki«, zu deutsch »Treffpunkt«, versammelt. Das Steki im Alternativenviertel Exarcheia in Athens Innenstadt wird von vielen Gruppen genutzt; Herz des sozialen Zentrums aber bildet unzweifelhaft das jeden Mittwoch Abend hier versammelte »Netzwerk für politische und soziale Rechte«.

Eigentlich stand eine Diskussion zum Thema Repression auf der Tagesordnung, doch wie so oft wird die Theorie von der Praxis verdrängt. Das Netzwerk für politische und soziale Rechte, kurz »Diktyo« (Netzwerk) genannt, gehört zu den Solidaritätsgruppen, die einen über sechs Wochen dauernden Hungerstreik von etwa 300 Arbeitsmigranten ohne legalen Aufenthaltsstatus unterstützt haben. Der bisher längste und von der Teilnehmerzahl größte Hungerstreik in der Geschichte des Landes konnte mit einem achtbaren Erfolg beendet werden. Allen Beteiligten wurde eine sechsmonatige Duldung mit der Aussicht auf Verlängerung bis zur endgültigen Legalisierung erteilt.

Für die Solidaritätsbewegung ist der Kampf jedoch noch nicht ausgestanden. Nikos Giannopoulos vom Diktyo und fünf weitere Personen werden unter anderem des Hausfriedensbruchs beschuldigt, weil sie die Entscheidung der Migranten unterstützt hatten, den Hungerstreik im griechischen Hochschulasyl zu beginnen. Die Auseinandersetzung mit staatlicher Repression, eines der Schwerpunktthemen der Runde, steht also trotz Aufschub der theoretischen Diskussion praktisch doch auf der Tagesordnung der heutigen Sitzung.

Der Beschuldigte nimmt die Vorwürfe gelassen. 37 Jahre sei er jetzt politisch aktiv, und er bekenne sich der ihm zur Last gelegten Delikte schuldig, erklärt Nikos seinen Genossinnen und Genossen lächelnd. »Denn für mich gehört das Hochschulasyl nicht den Universitätspräsidenten und schon gar nicht der Regierung und der Polizei. Das Hochschulasyl wird nicht für Lehre und Forschung, sondern dann gebraucht, wenn Legalität und Gerechtigkeit sich scheiden und das Recht einen Raum für seine Kämpfe braucht.«

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Solidarisch mit allen Teilen der Linken

Das Diktyo ist dort solidarisch, wo andere sich lieber wegducken, um nicht Position beziehen zu müssen. Während die meisten, auch der linksradikalen Organisationen, ihre Solidarität auf Verfolgte beschränken, die mit offensichtlich konstruierten Anklagen konfrontiert sind, stellt sich das Diktyo auch an die Seite derer, die sich offen beispielsweise zum militanten Widerstand bekennen. »Gegenüber der kapitalistischen Herrschaft und der staatlichen Gewalt gehört jede Bewegung, jedes Kollektiv oder Individuum, das aus der Perspektive gesellschaftlicher Befreiung kämpft, zum ›Lager des Widerstands‹ – auch wenn ihre Ansichten sich grundlegend von unseren unterscheiden«, heißt es in den Grundsätzen des Diktyo. Auch inhaftierte Mitglieder von bewaffnet kämpfenden Organisationen versteht die Gruppe ausdrücklich als politische Gefangene. »Unsere Solidarität mit ihnen zielt neben der notwendigen Verbesserung ihrer Haftbedingungen auf ihre baldmöglichste Freilassung.«

Die Solidarität mit politischen Gefangenen war der Grund für die Entstehung des Diktyo, weiß Giannis Felekis, einer der ganz »Alten« in der Szene, zu berichten. Zusammen mit Nikos und anderen ehemaligen und aktiven Mitgliedern linker Organisationen habe man 1987 die »Bewegung zur Verteidigung politischer und sozialer Rechte« ins Leben gerufen. »In der radikalen Linken hat sich niemand kontinuierlich um politische Gefangene gekümmert. Wir waren es einfach leid, jedes Mal, wenn jemand verhaftet wurde, ein neues Solidaritäts-Komitee zu gründen. Es musste etwas dauerhaftes geschaffen werden.« 1994 erhielt die Bewegung den heutigen Namen.

Da sich das Diktyo im Gegensatz zu linken Parteien nicht als Avantgarde versteht, können auch Mitglieder anderer Gruppen beitreten – eine für die griechische Linke einzigartige Möglichkeit einer Doppelmitgliedschaft. Giannis zum Beispiel gehört zum trotzkistischen OKDE-Spartakus. »Der Ansatz vieler traditioneller Parteien und Organisationen, die Bewegung immer nur für die Stärkung der eigenen Formation nutzen zu wollen, ist falsch«, erklärt er die Bedeutung, die das Diktyo für ihn hat. »Viele von uns haben schon lange die Schnauze voll vom Sektierertum.«

Bündnisse über politische Differenzen hinweg gehören zum Alltag des Netzwerks. Besonders deutlich wird dies bei der Solidarität mit den Rechtlosesten der griechischen Gesellschaft. Viele Mitglieder des Diktyo engagieren sich auch im »Netzwerk zur sozialen Unterstützung von Flüchtlingen und Migranten«, vor allem im Kampf um gleiche Rechte für alle – wie im Hungerstreik der Migranten. Oder vor zwei Jahren, als Aktivisten aus ganz Europa im Rahmen der antirassistischen »No Border«-Kampagne die Schließung von Pagani, eines der skandalträchtigsten Sammellager für Flüchtlinge auf der griechischen Insel Lesbos, durchsetzen konnten.

Andere im Netzwerk für Flüchtlinge und Migranten leisten vor allem ganz praktische Lebenshilfe. Zum Beispiel Irini, eine der zahlreichen Freiwilligen, die seit mehr als zehn Jahren Sprachkurse für Eingewanderte anbietet. »Wir haben täglich drei bis vier Klassen, die von zwei Lehrern und Lehrerinnen abends von 18 bis 20 Uhr unterrichtet werden«, erzählt die junge Frau. Ihre Schülerinnen und Schüler kommen aus ganz verschiedenen Ländern. »Dieses Jahr haben wir viele Menschen aus Asien, letztes Jahr waren es mehr aus Afrika«, sagt Irini und erläutert die Konzeption der Kurse. »Wir versuchen den Unterricht auf die Probleme unserer Schüler auszurichten. Deswegen gibt es verschiedene Lernmodule, beispielsweise zu den Themen Arbeit, Wohnen, Fortbewegung oder Bürokratie.«

Der Einsatz für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten sowie der Kampf gegen die staatliche Repression sind für das Diktyo zwei Seiten derselben Medaille. Nicht umsonst werde staatlicherseits der »Kampf gegen den inneren Feind« stets mit der Abschottung der Landesgrenzen gegen »unter Flüchtlingsstatus einsickernde Terroristen« begründet.

Soziale Kämpfe werden wichtiger

In letzter Zeit aber haben neben dem unbestrittenen Schwerpunkt der Antirepressionsarbeit die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um soziale Rechte an Bedeutung gewonnen. »Soziale Kämpfe waren schon immer ein Thema in der Gruppe, doch durch die Krise sind sie einfach nötiger geworden«, erläutert Mania Barsefski, die auch gewerkschaftlich organisiert ist. »Wir waren früher schon bei Gewerkschaftsdemos präsent oder haben Streikwachen mitorganisiert.« Mittlerweile aber seien mehr Diktyo-Mitglieder auch in Gewerkschaften aktiv.

Die Beratungen im Steki sind fast abgeschlossen, die Luft verraucht, die Aktivistinnen und Aktivisten müde. Viele von ihnen haben sich in den letzten Wochen neben ihrer Lohnarbeit mit Tag- und Nachtwachen am Schutz der Hungerstreikenden beteiligt. Bevor man auseinandergeht, wird noch ein Resümee der migrantischen Kämpfe gezogen: »Hungerstreik und Migranten sind für uns keine humanitäre Angelegenheit«, fasst Nikos Giannopoulos die Kernaussage zusammen. »Im Zuge der allgemeinen Krise werden die Fronten immer härter. Es geht, kurz gesagt, um ›wir oder sie‹. Und die Migranten gehören zum ›Wir‹.«