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NACHRICHT VON MUMIA AN ALL DIEJENIGEN, DIE ER IM TODESTRAKT HINTER SICH ZURÜCKLASSEN MUSSTE

Es ist nicht ganz eine Woche her, dass ich aus dem Todestrakt entlassen wurde. Zwar kann ich nicht helfen, aber zurückblicken auf die Vielen von euch, die Ihr in meinem Herzen seid.
Ich werde nicht länger in der Todeszelle sein, aber durch euch ist der Todestrakt weiterhin gegenwärtig bei mir. Wie kann es auch anders sein, wo ich doch mehr Jahre meines Lebens im Todestrakt verbrachte als in „Freiheit“? Oder mehr Zeit in der Todeszelle verbrachte als mit meiner Familie?

Ich schreibe, um euch allen  – auch denen, die ich niemals persönlich traf – zu sagen, dass ich euch liebe, weil wir etwas außerordentlich Seltenes miteinander teilen. Ich habe Tränen und Gelächter mit euch geteilt, die niemand außer euch in der Welt jemals kennen oder sehen wird. Ich habe eure Seelenqualen mit euch geteilt, wenn irgendein Richter eure Hoffnungen zerstört und ein weiteres Mal eine Enttäuschung bereitet hat. Oder wenn Politiker euch missbrauchten, um die Karriereleiter hochzuklettern.
Wir haben erlebt, wie Zeit und Krankheit einige von uns aus unserer Mitte rissen. Wir haben einige gekannt, die selbst den Zeitpunkt ihres Todes bestimmt und den Henker mit ihrem Suizid überlistet haben (William „Billy“ Tilley, Jose „June“ Pagan). Aber, Brüder und Schwestern im Todestrakt, ich schreibe nicht vom Tod, sondern vom Leben.
Wenn ich der Todeszelle entkommen konnte, könnt ihr das auch. Macht weiter Lärm, kämpft weiter, bringt die Wände zum wackeln. Prüft alle Möglichkeiten, mit Mills euer Urteil anzufechten. [Mills issue: Entscheidung des Supreme Court von 1988 im Fall Mills, das Todesurteil aufzuheben, weil die Juryinstruktionen nicht eindeutig waren.]

Aber da ist noch mehr. Lebt jeden Tag, jede Stunde, als wäre es die einzige Zeit, die Ihr habt. Lebt heftig. Lernt Neues. Eine Sprache, Kunst, Wissenschaft. Haltet Euren Geist wach. Haltet euer Herz am Leben. Lacht.
Seht euch gegenseitig nicht als Konkurrenten, sondern als Reisegefährten auf derselben roten Lebenslinie. Unabhängig davon, was die Welt über euch sagt, seht das Beste im jeweils anderen und strahlt gegenseitige Liebe aus.

Seid gut zu euch selbst.
Wenn Ihr das Glück habt, eine Familie oder Angehörige zu haben, lasst sie eure Liebe spüren, komme, was da mag. Wenn ihr einer spirituellen Familie oder einem Glauben angehört, praktiziert das aus vollem Herzen, weil dies euch mit etwas Größerem als euch selbst verbindet. Egal was, Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus, Buddhismus oder Santeria oder Move. Das erweitert euren Horizont und festigt euch.
Ich hatte das Glück, viele von euch als meine Lehrer zu haben, oder als meine Schüler. Einige waren meine Söhne, andere meine Brüder. Ja, ich sehe euch alle als einen Teil meiner Familie.

Habt Mut, denn die Todesstrafe ist selber dabei zu sterben. Die Staaten und Bezirke des Landes können sie sich schlicht nicht mehr leisten, und Politiker, die darauf setzen, finden immer weniger Anhänger. Geschworenen-Jurys (vor allem in Orten wie Philadelphia) werden zunehmend zurückhaltender bei der Verhängung der Todesstrafe, sogar in Fällen, in denen sie unvermeidlich scheint.
Schwestern in den Todeszellen, obwohl wir uns nie begegnet sind, hat mein Herz eure Tränen gespürt, weil ihr gezwungenermaßen von euren Kindern getrennt wurdet, ohne die Möglichkeit, sie im Arm zu halten und zu küssen. Schwestern, auf vielfältige Weise sind Eure Seelenqualen die schlimmsten, weil eure Liebe und Gefühle die tiefsten sind. Meine Worte an meine Brüder sind auch an euch gerichtet: Haltet Euren Geist wach. Haltet eure Herzen am Leben. Lebt. Liebt. Lernt. Lacht!
Ich kenne euch alle so, wie es wenige Außenstehende tun. Ich habe Künstler, Musiker, Mathematiker, Manager, Knastanwälte und Aktienhändler gesehen. Ich habe gesehen, wie Jungs, die keine gerade Linie zeichnen konnten, die sich zu meisterhaften Malern entwickelten (Cush, Young Buck); ich habe Jungs gesehen, die sozusagen Analphabeten waren und später fließend Fremdsprachen sprechen konnten; ich habe Lehrer getroffen, die Werke von überragender Schönheit und Kunstfertigkeit erschufen (Big Tony).
Ihr alle seid viel mehr, als andere über euch sagen, und der Funke des Unendlichen glüht in jedem von Euch. Ihr seid im Todestrakt, aber was schließlich in euch steckt ist größer als die Todeszelle.
Also gebt Acht aufeinander. Nicht in Worten, sondern im Herzen.
Denkt mit Freundschaft und Sympathie aneinander.
Und schließlich, verpfeift einander nicht. (Wenn Verpfeifen so angesagt wäre, hätten sie mich aus dem Trakt herausgeprügelt.)
Schlagt weiter Lärm, denn euer Tag wird kommen.

—Mumia Abu-Jamal, M.A.
Death Row (1983–2011)