Nach fünfundzwanzig Tagen Hungerstreik von über 4000 palästinensischen Gefangenen musste die israelische Regierung einlenken. Die den Gefangenen entzogenen Rechte werden wiederhergestellt. Eine Solidaritätskampagne in Palästina und weltweit begleitete den Hungerstreik. Er wurde nicht nur für die israelische Regierung zum Verhängnis, sondern auch für die palästinensische Polit-Elite in Ramallah und Gaza.
Elementare Forderungen
Der Streik begann am Tag der palästinensischen Gefangenen, dem 17. April. Fünf der Gefangenen waren Wochen davor in Hungerstreik gegen ihre jahrelangen Verwaltungshaft (ohne Urteil) getreten. Insgesamt dauerte der Streik von Bilal Dhyab und Thaer Halahleh 72 Tage (zum Vergleich: der irische Freiheitskämpfer Boby Sands starb nach 60 Tagen Hungerstreik). Die Gefangenen bildeten erstmals ein Streikkomitee aus Vertretern aller palästinensischen Organisationen, das sowohl als Führung als auch als einziger Ansprechpartner für Verhandlungen fungiert.
Die Forderungen waren:
1. Beendigung der Einzelhaftstrafen.
2. Wiederherstellung der Rechte der Gefangenen, die von den Gefängnisverwaltungen entzogen worden waren.
3. Einstellung der systematischen Demütigungen der Angehörigen an den israelischen Militärsperren auf dem Weg zu Gefängnisbesuchen.
4. Einstellung willkürlicher Besuchsverbote, insbesondere für die Angehörigen aus dem Gazastreifen.
Die elementare Natur der Forderungen deutet auf die menschenunwürdige Lage hin, der die Palästinenser/innen in den israelischen Gefängnissen ausgesetzt sind.
Das Schweigen der Medien brechen
Der Hungerstreik gilt als Fortsetzung des 21-tägigen Hungerstreiks vom Herbst 2011, der im Kontext des damaligen Gefangenenaustauschs zwischen Hamas und Israel (Shalit-Deal) unterbrochen wurde. Damals hätten die Kollektivstrafen aufgehoben werden sollen, die Israel nach der Gefangennahme eines israelischen Soldaten über die palästinensischen Gefangenen verhängt hatte. Sechs Monate nach dem Gefangenenaustausch und der Freilassung des israelischen Soldaten hatte sich nichts an der Situation der Gefangenen geändert. Nun hieß es „Sieg oder Tod“ im Kommunique Nr. 1.
Ähnlich wie im vergangenen November dauerte es mehr al seine Woche, bevor der Streik Medienaufmerksamkeit erlangen konnte. Es war die starke Solidaritätsbewegung in Palästina und weltweit, die den Streik zum Thema machte.
Nicht nur die traditionell pro-israelischen westlichen Medien ignorierten den Streikbeginn. Auch in arabischen Medien, in denen Syrien und die pro-Intervention-Kampagne höchste Priorität haben, blieb der Hungerstreik im Hintergrund.
In den palästinensischen Medien war die Situation nicht viel besser. Sowohl in Ramallah als auch in Gaza bestand kein großes Interesse, den Streik zum Hauptthema zu machen. Dies hing direkt mit den politischen Agenden der beiden Behörden zusammen, die vom Beschluss der Parteimitstreiter in den Gefängnissen offensichtlich überrumpelt worden waren.
Hungerstreik als Verhängnis für politische Elite
Derzeit mangelt es sowohl bei Fatah als auch bei Hamas an politischer Initiative. Beide Behörden in Gaza und Ramallah sind in einem Wartezustand, was die Auswirkungen der regionalen Umwälzungen auf die Situation in Palästina betrifft. Die Autonomiebehörde in Ramallah (PNA) setzt derweil ihre Bemühungen nach einer internationalen Anerkennung eines Palästina-Staates fort, sendet einen Appell nach dem anderen an die internationale Gemeinschaft sowie an Netanjahu. Ihre politische Pleite ist mit der Verstärkung der Repression in den Städten des Westjordanlands offensichtlich geworden, denn ihre Funktion als Kollaborationsbehörde ist nach wie vor das einzige, was sie für Israel und die Geldgebern zum Ansprechpartner macht. Eine Eskalation der Massenproteste ist in diesem Sinne kontraproduktiv. Präsident Abbas selbst äußerte am 10. Mai bei einem Treffen mit jüdischen Friedensaktivisten seine Angst vor einer neuen Intifada und forderte die Zulassung Israels für 3000 neue Gewehre für die PNA-Polizei (New York Times, 12.05.2012).
In Gaza steht die Hamas zwar nicht in politischer und finanzieller Abhängigkeit von Israel und dem Westen, jedoch hat sie eine andere Agenda, die in dieser Phase keine Eskalation vorsieht. Regional ist ihre Mutterpartei, die Moslembruderschaft, im Vormarsch. Dies geschieht im Bündnis mit den pro-westlichen Golfstaaten, deren Prioritäten im Moment der Sturz des Assad-Regimes und die Bildung einer anti-schiitischen Koalition sind. In diesem Zusammenhang erzwang Qatar ein Fatah-Hamas-Versöhnungsabkommen, sobald die Hamas-Führung Damaskus verließ. Das Abkommen stieß zwar auf Widerstand bei der Führung von Hamas in Gaza und scheiterte schließlich am Unwillen der Fatah, die Macht zu teilen, zeigte jedoch die Dominanz der pragmatischen Führung um Khaled Mishal.
Für Hamas bedeuten diese regionalen Verschiebungen eine politische und diplomatische Wende. In diesem Zusammenhang wird die Palästina-Frage störend, vor allem wenn es um Bündnisse mit dem Westen geht. Daher ist die Priorität von Hamas in diesem Moment, ihre Kontrolle über Gaza zu festigen.
Aus diesem Grund ist die PNA in Gaza genau so wenig an einer politischen oder gar militärischen Eskalation wie ihre Kollegen in Ramallah interessiert. Geschieht eine Eskalation aufgrund israelischer Übergriffe, so bemüht sich Hamas um die Wiederherstellung des ungeschriebenen, jedoch permanenten Waffenstillstands. Finden Demonstrationen statt, so bemühen sich beide Behörden, diese fern von den israelischen Militärsperren zu halten. Manche Demonstrationen werden im Namen von „Ruhe und Ordnung“ untersagt. Ein Besuch von prominenten Tahrir-Aktivisten, Bloggern und politischen Sängern aus Ägypten wurde von den Sicherheitskräften der Hamas unterbrochen, als die antiautoritären Töne der Besucher Euphorie unter der Jugend in Gaza aulösten.
Solidaritätskundgebungen mit den Gefangenen benötigen die Genehmigung des Innenministeriums, sowohl in Ramallah als auch in Gaza.
Neue politische Bewegung formiert sich
Nicht nur die Eskalationstendenz beunruhigt die palästinensischen Parteien. In diesem politischen Stillstand und der Abwesenheit von politischen Programmen kam der Hungerstreik als ein Lebenszeichen der Bewegung und brachte die Logik des Widerstands erneut auf die Tagesordnung. Bisher hat die spezifische Situation in Palästina dazu geführt, dass es keine palästinensische Version der arabischen Aufstände gab. Die kurze Phase von Demonstrationen, die (von beiden Behörden willkommen) gegen die Spaltung der palästinensischen Bewegung demonstrierten, hatten genau so viel politische Perspektiven wie die wiederholte Versöhnung von Fatah und Hamas. Der Hungerstreik hingegen beinhaltete politische Kritik an der palästinensischen Politik. Die Solidaritätsbewegung bestand meistens aus den aktiven Basiselementen der Organisationen sowie aus parteilosen Jugendlichen.
In allen Teilen Palästinas (Westjordanland, Gaza und im israelischen Staatsgebiet) marschierten diese und zwangen die politischen Parteien, Positionen zu ergreifen. Sowohl Israel als auch die beiden palästinensischen Behörden waren interessiert an einem Ende des Streikes vor dem Jahrestag der Nakba und bevor einer der Streikenden stirbt (einige Gefangene waren bereits seit 70 Tagen gegen ihren langjährige Haft ohne Prozess im Hungerstreik). Die PNA in Ramallah kündigte mehrmals das Ende des Streiks an und behauptete, dass durch ihr Verhandlungsgeschick ein Kompromiss gefunden worden wäre. Die wiederholten Dementi der Gefangenen schreckte die Behörde von Gaza nicht davon ab, eine ähnliche Meldung von sich zu geben: Der Streik wäre bald beendet, nachdem durch ägyptische Vermittlung Israel seinen Anteil am Shalit-Abkommen erfüllen würde. Auch das wurde von den Gefangenen dementiert und es wurde erneut betont, dass der Streik weiter gehe und der einzige Ansprechpartner für Verhandlungen das Komitee der Gefangenen sei.
Siegesstimmung am Tag der Nakba
Der Hungerstreik endete am Abend des 14. Mai, einen Tag vor dem Gedenktag der Nakba. Die Meldung der Medien kam der offiziellen Benachrichtigung durch das Gefangenenkomitee zuvor, nachdem Sprecher der PNA in Ramallah und Gaza das Streikende als ihren Erfolg präsentieren wollten. Auch die israelische Regierung wollte dem Gefangenenkomitee keine offizielle Zuwendung machen und bezog sich auf die ägyptische Vermittlung. Bis heute (16.05.) ist das offizielle Kommunique der Gefangenen nicht herausgegeben worden.
Der Inhalt des Abkommens wurde vom Generalsekretär der PFLP, Ahmad Saadat, den Anwälten mitgeteilt: Ende der Isolationshaft, keine Verlängerung der Verwaltungshaftstrafen und strengere Kriterien für die israelische Sicherheitsapparaten bei künftigen Fällen, Besuchsrecht und bessere Preise in den Kantinen. Die Nachricht des Sieges der Gefangenen übertönte die traurige Stimmung am Gedenktag der Nakba. Die Palästinenser feierten am 15. Mai 2012 einen kleinen Sieg des Widerstands.