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Polizeigewalt in Brasilien und Kriminalisierung von Armut

Gegenüber der brasilianischen Botschaft in Berlin: „Policia Assassinos“
Am 13. August wurden in der Peripherie São Paulos mindestens 20 Zivilisten von Milizen erschossen, wohl als Rache für den Tod zweier Polizisten in den selben Stadtteilen. Brasilien ist in europäischen Vorstellungen mit jeder Menge exotisierenden Bildern belegt und wird in der jüngeren ökonomischen Literatur als aufstrebendes Schwellenland gefeiert. Für Themen wie die Kriminalisierung von Armut und institutionelle Gewalt gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen ist in dieser Vorstellung nur bedingt Platz. Jüngste Berichte von Menschenrechtorganisationen wie Human Rights Watch oder Amnesty International haben einmal mehr auf die die Gewaltverbrechen hingewiesen, welche von der brasilianischen Polizei an marginalisierten Bevölkerungsgruppen (wichtig zu betonen das diese einen Großteil der Gesamtbevölkerung bilden) verübt werden, ohne dadurch eine größere Diskussion auszulösen, weder in Europa noch in Brasilien selbst.

Die Gefängnisbevölkerung Brasiliens wächst kontinuierlich, so dass Brasilien mit über 600.000 Gefangenen heute den vierten Platz im internationalen Vergleich belegt, überboten nur von den stolzen Vorreitern USA, China und Russland. Den offiziellen Zahlen des Justizministeriums zur Folge sind etwa zwei Drittel dieser Gefängnisbevölkerung schwarz. Tatsächlich bleibt es sehr fragwürdig wann genau eine Person eindeutig als schwarz oder weiß zugeordnet werden kann, klar ist jedoch, dass der größte Teil der Inhaftierten den marginalisierten Bevölkerungsgruppen angehört, welche in den peripheren Viertel der städtischen Ballungsräumen lebt und deren Hautfarbe durchschnittlich deutlich dunkler ist als die der Kongressabgeordneten in Brasília oder Hauptdarsteller*innen der Telenovelas. Die tatsächliche Zahl der Inhaftierten ist allerdings noch weitaus größer, denn minderjährige Gefangene (<18 Jahre) sind in diese noch nicht eingerechnet, weil sie offiziell nicht in Gefängnissen, sondern in „Reabilitationsanstalten“ untergebracht sind. In São Paulo, Brasiliens bevölkerungsreichsten Stadt, tragen diese Anstalten den zynischen Namen „Fundação Casa“ („Stiftung Haus“ oder „Stiftung Zuhause“). Technisch gesehen ist der erzwungene Aufenthalt in diesen keine Strafe, sondern eine vom Gericht verordnete sogenannte „Resozialisierungmaßnahme“. Praktisch erleiden die Jugendlichen dort die gleichen oder gar noch härtere Peinigungen, als erwachsene Gefangene in „richtigen“ Gefängnissen.

Seit Anfang dieses Jahres (2015) sorgte ein Gesetzentwurf im brasilianischen Kongress für Aufsehen, der vorsieht die Strafmündigkeit von achtzehn auf sechzehn Jahre herabzusetzen. Dieser ist Teil eines repressiven Trends – in Medien, in politischem und juridischem Diskurs werden zunehmend Stimmen nach härteren Polizeimaßnahmen und härteren Strafen laut um gegen die vermeintliche „Straflosigkeit“ vorzugehen auf welche die „ausufernde Kriminalität“ zurückzuführen sei. Anfang Juli wurde der Gesetzesentwurf (mit einer Einschränkung auf besonders schwere Verbrechen) im Kongress verabschiedet und muss nun noch den Senat passieren um wirksam zu werden. Aber rechte Politiker*innen kündigen bereits an, dass sie sich mit der Herabsetzung der Strafmündigkeit auf sechzehn nicht begnügen, sondern für eine weitere Herabsetzung auf vierzehn oder gar zwölf Jahre kämpfen werden. Schließlich, so der Kongressabgeordnete Laerte Bessa, werde man sogar in der Lage sein kriminelle Tendenzen schon bei ungeborenen Kindern festzustellen, um den Müttern in diesem Fall zu verbieten das Kind überhaupt erst auf die Welt zu bringen (http://www.theguardian.com/world/2015/jun/29/ brazil-prisons-criminal-responsibility-law-overcrowded).

Präventive Abtreibungen kamen in Brasilien bisher noch nicht systematisch zur Anwendung (tatsächlich sind es die selben konservativen Abgeordneten die es bis jetzt geschafft haben die Legalisierung der Abtreibung in Brasilien zu verhindern). An institutioneller Gewalt gegen bereits geborene Menschen mit unterstellten „kriminellen Tendenzen“ mangelt es nicht. Wenn man den Mainstreammedien und der gängigen Polizeipraxis glauben möchte erkennt man die kriminellen Tendenzen einer Person anhand einfacher Kriterien wie dunkler Hautfarbe, finanzieller Armut und Wohnsitz in den peripheren Stadtteilen der brasilianischen Metropolen. Besonders jene Teile der brasilianischen Bevölkerung die in dieses Raster fallen, sehen sich alltäglicher Polizeigewalt ausgesetzt. Polizei und Milizen, die oft eng mit den Beamt*innen zusammenarbeiten beleidigen, bedrohen, misshandeln, foltern und töten. Die Opfer dieser Gewalt werden im Zweifelsfall noch im nachhinein zu Kriminellen gemacht. So werden ein Grossteil der durch Polizist*innen im Dienst verübten Morde als „Resistance Killings“, also Tötungen durch während vermeintlicher Gefechte mit bewaffneten „Bandidos“ dargestellt. Selbst die offiziellen, vom Justizministerium veröffentlichen Zahlen sind erschreckend. So wird die Zahl der „Resistance Killings“ allein in den Staaten Rio und São Paulo von 2003 bis 2008 auf 11.000 angegeben. Human Rights Watch vermutet, dass ein guter Teil dieser Tötungen tatsächlich nicht während bewaffneter Auseinandersetzungen, sondern als außerjuridische Exekutionen vollstreckt wurden (http://www.hrw.org/sites/default/files/reports/brazil1209webwcover.pdf). Die tatsächliche Zahl von der Polizei getöteter Personen, sei es durch Hinrichtungen, während Feuergefechte, durch oder durch wahlloses Erschießen auf den Straßen bestimmter Stadtteile kann als wesentlich höher eingeschätzt werden.

Am Abend des 13. August 2015 verübten schwerbewaffnete Gruppen mehrere Anschläge auf die Zivilbevölkerung der westlichen Peripherie der Metropolregion São Paulo. In den Städten Osasco und Barueri waren in den letzten Wochen zwei Polizisten bei Raubüberfällen erschossen worden. Am Donnerstag Abend (13.8.2015) drangen Gruppen maskierter Bewaffneter in Bars, kleine Geschäfte und Bäckereien in Osasco ein, zwangen die Anwesenden sich mit erhobenen Händen in Reihen zu stellen und begannen zu schießen. Sie feuerten aus Autos auf Passanten in Barueri und Osasco und töteten so mindesten 20 Personen (http://g1.globo.com/São-paulo/noticia/2015/08/criminosos-em-carro-deixam-mortos-e-feridos-em-osasco-dizem-bombeiros.html). Dies war nur das blutigste der insgesamt sechs Massaker, die seit Anfang 2015 im Staat São Paulo verübt wurden. Für viele dieser Massaker, bei denen wahllos Menschen in bestimmten Stadtteilen getötet werden, sind die der Militärpolizei nahestehenden Milizen verantwortlich, welche den Tod einzelner Beamter durch das Abschlachten unbeteiligter Menschen rächen, die sich allein dadurch schuldig gemacht haben, dass sie zu arm sind um in den schicken, weißen, mit Elektrozäunen und von Sicherheitsdiensten bewachten Vierteln der Mittel- und Oberschicht zu leben.

Trotz Filmen wie City of God (2002) oder Tropa de Elite (2007) ist das vorherschende Bild von Brasilien meist jenes von Strand, Samba, Caipirinhas und natürlich der Vorstellungen von der brasilienischen Frau als ideales Sexobjekt. Großevents wie der Weltmeisterschaft 2014 oder die kommende Olympiade 2016 in Rio ändern daran kaum etwas. Im Gespräch über Brasilien stößt Mensch oft auf Verwunderung oder sogar Enttäuschung wenn sie/er unangenehme Themen wie Polizeigewalt anbringt. In einigen mitteleuropäischen Städten tauchten in den letzten Monaten Sprüche auf Wänden im öffentlichen Raum auf welche die diesen Themen Sichtbarkeit verleihen, allerding meist nur kurz. Besonders jene unliebsamen Interventionen in direkter Nähe zu brasilianischen Diplomatischen Vertretungen wurden teils schon nach einigen Stunden wieder entfernt und die wenigen Stunden ihres Bestehens sogar polizeilich „bewacht“.