„Weiß ich nicht mehr.“ „Ich kann mich nicht erinnern.“ – Das Mauern der Polizei setzt sich ungebrochen auch im Revisionsverfahren im Fall Oury Jalloh fort
Es sind nun neun Prozesstage vergangen im Revisionsverfahren Oury Jalloh vor dem Landgericht Magdeburg und die sich abzeichnende Tendenz ist desaströs – wenngleich wenig überraschend. Denn so erinnert dieses Verfahren vielerorts an den zur Farce verkommenen ersten Prozess vor dem Landgericht Dessau-Roßlau: Auch in diesem Prozess präsentieren die vorgeladenen Polizeibeamt/innen neben offenkundig einstudierten und wenig aussagekräftigen Antworten eine fadenscheinige kollektive Amnesie auf detaillierte und offenbar nicht-antizipierte Rückfragen. Es ist die altbekannte Strategie des Mauerns, die sich in Endlosschleifen aus „weiß ich nicht mehr“ und „ich kann mich nicht mehr erinnern“ gebärdet. Es bleibt abzuwarten, ob die vorsitzenden Richter/innen und Schöffinnen sich auf dieses Spiel der Vertuschung und dem demonstrierten Unwillen zur Aufklärung einlassen werden und dann Gefahr laufen, am Ende wie schon Richter Steinhoff des Landgerichts Dessau-Roßlau mit doppelter Zunge sprechen zu müssen: Denn obgleich die Schande des 7. Januars 2005 zum Himmel schreit, bedient sich Unrecht des Rechts, wenn die Verantwortlichen ungestraft davon kommen.
Am siebten Prozesstag, dem 4. März 2011, deutete sich an, dass auch die vorsitzenden Richter/innen die Verhöhnung der Strategie durch die Zeug/innen erkennen. Vernommen wurde der Polizeibeamte Schulze – einer jener, der Oury Jalloh zuletzt lebend gesehen und die Gewahrsamszelle Nummer 5 kontrolliert hatte. Zunächst begann Schulze die Ereignisse des 7. Januar 2005 zu schildern, wobei sich seine Aussagen auffallend mit jenen glichen, die er vor einigen Jahren gemacht hatte. Die detaillierten Rückfragen der Richter/innen und Nebenklagevertreter/innen ließen sich dann nicht mehr mit einstudierten Antworten begegnen, und so wählte Schulze vermehrt das altbekannte „weiß ich nicht mehr“ – bei Fragen der Nebenklagevertreterin sogar oftmals, bevor diese ihre Fragen überhaupt zu Ende stellen konnte. Die Farce der Vernehmung fand dann einen ersten Höhepunkt, als sich der Zeuge Schulze in seinem eigenen Netz aus Lügen verstrickte. Hatte er zunächst der Nebenklagevertreterin verneint, jemals an einem Treffen von Zugehörigen der Polizei in Vorbereitung auf den damaligen Prozess vor dem Landgericht Dessau-Roßlau teilgenommen zu haben, erinnerte er sich dann jedoch bei der Vernehmung durch die Verteidiger des Angeklagten Schuberts doch an ein solches Treffen. Dabei soll den Polizeibeamt/innen gesagt worden sein, bei Gericht das auszusagen, was man wisse. Auf die verwunderte Rückfrage der Nebenklagevertreterin, ob er das vorher nicht gewusst habe, weiß auch Schulze keine Antwort mehr, ersucht das Gericht um eine Pause und blickt hilfesuchend in den Zuschauerraum. Dort sitzt ein Vertreter vom Bezirkspersonalrat der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost. Er nahm bereits an den vorherigen Prozesstagen teil – aus „fürsorgerechtlichen Gründen“, wie er am vierten Prozesstag im Zeugenstand verkündete. Das bedeutet soviel wie Pausengespräche mit dem Angeklagten Schubert, oder, wie am siebten Prozesstag, mit dem Zeugen Schulze. Die von Schulze beantragte Pause wird ihm vom Gericht gewährt, doch im Zuschauerraum kommt es zu Tumulten als kritische Beobachter feststellen, dass jener Vertreter des Bezirkspersonalrat dem Zeugen Schulze auf die separate Wartefläche folgen will, was aber erfolgreich verhindert werden konnte. Befürchtet wurden strategische Absprachen während der Pause – nicht zu Unrecht, wie sich nach der Pause herausstellen soll. Denn so wurde ein Aktivist in den Zeugenstand gerufen, der seinen Unmut während der Pause kundgegeben hatte. Im Zeugenstand kritisierte er zunächst den offenkundig befangenen Staatsanwalt. Dieser mache seine Arbeit nicht – die Anklageschrift ist eine Schande und müsse geändert werden. Und dann teilte er dem Gericht mit, dass er am Morgen des siebten Prozesstages mitbekommen hatte, wie jener Vertreter des Bezirkspersonalrates dem Zeugen Schulze riet, bei Schwierigkeiten eine Pause zu verlangen – einen Rat, den Schulze offenkundig beherzte.
Einen zweiten Höhepunkt der Farce – dargeboten durch den Zeugen Schulze – ergab sich daraus, dass erneut kritische Beobachter im Zuschauerraum gesehen hatten, wie Schulze während der Vernehmung des Aktivisten im Warteraum telefonierte. Zwar sagte die Richterin, dass dieser das auch dürfe, allerdings leugnete Schulze dies, als seine Vernehmung fortgesetzt wurde. Die Nebenklagevertreterin fragte Schulze, ob man sein Handy anschauen könne, was er bejahte. Als er dann aber sein Handy herausholte, begann er wirr auf dem Handy herumzudrücken. Obgleich alle Anwesenden im Saal dies sahen, leugnete er, Tasten gedrückt zu haben. Wie sich am achten Prozesstag herausstellte, hat das Gericht einen Durchsuchungsbefehl beantragt, um alle Handys Schulzes zu prüfen. Das Ergebnis der Auswertung wird bestätigen, dass er gelogen hat.
In der weiteren Vernehmung Schulzes ging es dann erneut um ein polizeiinternes Treffen in Bezug auf die Vernehmung während des ersten Prozesses. Da er sich nicht erinnern konnte – oder besser wollte –, wann es stattfand, wer daran teilnahm und was besprochen wurde, zog nun auch das Gericht seine Glaubwürdigkeit in Frage und wies ihn darauf hin, dass das Gericht Beugehaft anordnen könne. Eine Drohung, die jedoch erst dann Wirkung zeigen kann, wenn sie auch in die Tat umgesetzt wird. Werden es leere Worte bleiben?
Wie wichtig es ist, dem Rechtssystem Deutschlands gegenüber misstrauisch zu sein, belegte dann auch die Vernehmung des Zeugen durch den Staatsanwalt. Die Aussagen Schulzes haben eindeutig gezeigt, dass es ein polizeiinternes Treffen vor(!) dem Prozess in Dessau gab, und somit interne Absprachen nahe legt. Mit seiner Vernehmung lenkte der Staatsanwalt jedoch die Aufmerksamkeit auf ein von ihm selbst anberaumtes Treffen von Mitgliedern der Polizei während(!) des laufenden Prozesses, was angeblich dazu dienen sollte, das Mauern der Polizeibeamt/innen zu beenden. Nicht nur versuchte er damit den Zeugen zu schützen, sondern auch davon abzulenken, dass es offenkundig mehrere Bemühungen gab, die Wahrheit zu vertuschen und Absprachen zu treffen. Das Sprechen des Staatsanwaltes von einem „Unglück“, das am 7. Januar 2005 passiert sein soll, gibt der Verhöhnung, wie sie die Polizeibeamt/innen demonstrieren, den Rest. Denn das, was an jenem Tag passierte, war nichts weniger als institutionell gedeckter rassistischer Mord.
Aber auch das Gericht füttert unser Misstrauen weiter, wenn es zum Ende der Befragung Schulzes zwar sagt, dass es sich nicht zufrieden damit gäbe, wenn sich der Zeuge schlichtweg nicht erinnern kann, dem Zeugen für die weitere Vernehmung in naher Zukunft „der Fairness halber“ jedoch einen Zeugenbeistand geben will. Wenn also Schulze innerhalb von zwei Wochen nicht selbst einen Rechtsanwalt seiner Wahl bestimmt, würde ihm ein solcher bestellt. Auch solle er sich bei Fragen an die Gewerkschaft der Polizei oder den Seelsorger der Polizei wenden, wie die Richterin unerklärlich fürsorglich dem Zeugen riet. Dass eine solche Aufforderung einer strategischen Absprache und besseren Vorbereitung für Schulzes Schauspiel Tür und Tor öffnet, ist offenkundig.
Einen letzten traurigen Höhepunkt erreichte dieser siebte Prozesstag dann noch, als die vorgeladene Zeugin Höpfner, damalige Hauptbelastungszeugin gegen den Angeklagten Schubert, ihr Auskunftsverweigerungsrecht in Anspruch nahm und somit keinerlei Fragen ermöglichte. Dieses Recht steht ihr angeblich zu, weil sie bereits ein Verfahren wegen Falschaussage anhängig hatte und sich selbst belasten könnte. Warum ein Mensch dieses Recht bekommt und somit das Privileg, sich der Verantwortung zu entziehen, ist himmelschreiendes Unrecht, das unerklärlich bleibt.
Allerdings konnte bereits in dieser Anfangsphase des Prozesses durch gezielte Fragen klar und deutlich herausgestellt werden, dass der Umgang der einzelnen Polizisten/innen mit Oury Jalloh in allen Aspekten rechtswidrig war. Das bedeutet, dass es keinerlei Rechtsgrundlage gab, Oury Jalloh in Gewahrsam zu nehmen, ihn an Händen und Füssen zu fixieren und ihn über mehrere Stunden gefangen zu halten. Die Polizisten haben sich zudem an keinerlei Gewahrsamsordnung gehalten, haben nach eigenem Gutdünken schlampige Kontrollen durchgeführt und scheinbar zu keinem Zeitpunkt irgendetwas in Frage gestellt.
Dies alles erscheint umso absurder, wenn man sich vor Augen führt, dass gut zwei Jahre vor dem Tod von Oury Jalloh bereits eine andere Person, der obdachlose Mario Bichtemann, in der gleichen Zelle aus ungeklärten Umständen ums Leben kam. Auch an diesem Tag war der Angeklagte Schubert der agierende Dienstgruppenleiter, Polizeibeamtin Höpfner seine „rechte Hand“ und entsprechende Kontrollgänge wurden unter anderem auch von Jürgen Semmler durchgeführt, der nun am achten Prozesstag im Zeugenstand anwesend war und mit seiner Aussage den Angeklagten weiter belastete: Als nämlich der zweite Vorsitzende Caspari den Zeugen Semmler mit dem Fall Mario Bichtemann konfrontierte, sagte dieser aus, dass ihm bei der Kontrolle des Mannes u.a. aufgefallen war, dass er nicht mehr zu wecken gewesen sei und er an dem Gesundheitszustand des Gefangenen stark zweifelte. Als er seinen Vorgesetzten Schubert darüber informierte, hielt dieser es nicht für nötig, sich direkt in die Gewahrsamszelle zu begeben, um sich vom Zustand des Mannes selbst ein Bild zu machen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. An dieser Stelle endete der achte Prozesstag. Eine Fortsetzung der Vernehmung des Zeugen Semmler erfolgt voraussichtlich am Dienstag, den 15.03.2011 und lässt auf weitere aufschlussreiche Aussagen über die Grundeinstellung Schuberts zu den unter seiner Verantwortung in Gewahrsam genommenen Menschen hoffen.
Darüber hinaus wird am Montag, den 14.03.2011 ab 11.00 Uhr eine Mahnwache bzw. Kundgebung vor dem Polizeirevier in Dessau abgehalten. An diesem Tag sollte eigentlich die Begehung der Polizeidienststelle Dessau durch die Prozessbeteiligten stattfinden. Der Termin wurde jedoch aufgrund einer vermeintlichen Grippe des Angeklagten Schubert kurzfristig abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben. Trotzdem wollen wir vor Ort anwesend sein und den Beamt/innen zeigen, dass wir ihr Schweigen und ihre Lügen nicht akzeptieren. Deshalb kommt am 14.03.2011 nach Dessau!
Oury Jalloh – Das war Mord!
Berlin/Magdeburg 11.03.2011