„Wir wollen leben“

„Der Boden, auf dem Sie stehen, brennt.“ August Spies zu seinen Richtern. Immer schon unterdrücken Menschen andere Menschen. Das sind die verfluchten Grundlagen, aus denen diese Zivilisation der Gefängnisse entstanden ist. Herrschaft, sei sie ökonomisch, sexistisch oder moralisch, bestimmt das Verhältnis zwischen den Menschen, so sehr und seit so langer Zeit, dass die alleinige Tatsache, andere Formen von Beziehungen zu suchen und zu leben, sich eine Zukunft ohne Autorität zu wünschen und nach diesen Zielen zu handeln, zu einer Straftat wird.
Freundschaften werden zu ‚kriminellen Vereinigungen‘, freie Zusammenschlüsse ohne Hierarchien werden ‚terroristischen Organisationen‘ samt aller Fantasmen der Herrschenden: Chefs, Handlanger, Theoretiker usw. Von Frankreich bis Chile über Griechenland, Italien und viele andere Orte, wo sich Anarchisten und Anti-Autoritäre organisieren, um die Unterdrückungsverhältnisse zu beenden, organisiert sich auch die Repression mit ihrem militärisch-juristischen Arsenal.
Diese Situation ist an sich nicht sehr erstaunlich, sie ist vielmehr so alt wie unsere Ideen und unsere Lust zu leben. Von den Sondergesetzen gegen Anarchisten im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Straftat der anarchistischen Gesinnung im heutigen Italien, hat der Anarchismus immer als soziale Abschreckung gedient. Ich thematisiere hier den Anarchismus, weil ich selbst Anarchist bin, aber diese Schlussfolgerungen treffen auch auf viele anderen phantasmatischen Kategorien der Mächtigen zu: die „Banden“, die „Randalierer“, die „Anarcho-Autonomen“, die „Roma“ und andere „ethnischen Gangs mit Kaputzenpullis“, von denen in den Medien so gerne gesprochen wird.
Es wird versucht, diesen aus politischen und wahltaktischen Überlegungen erschafften Kategorien Jahrhunderte alte und weitverbreitete Praktiken wie soziale Umverteilung, Sabotage, politische Graffiti und andere Ausdrucksformen zuzuordnen, die in Wahrheit niemandem gehören außer vielleicht denjenigen, die die Gesellschaft dazu bringt gegen sie aktiv zu werden.
Man kann also diese Praktiken einigen ‚Radikalen‘ zuschreiben, um alle anderen vergessen zu lassen, dass es nur in ihren Händen liegt, sich die Kontrolle über ihre Leben wieder zu nehmen. Hier kommen die Gewerkschaften, die Politiker, die Wortführer und andere mythische Figuren ins Spiel, um die Wut der Unterdrückten auszusitzen, um allen ihre persönliche Auflehnung abzusprechen und sie in Macht und Geld für einige wenige umzuwandeln.
Wir sind alle im Gefängnis. Wer kann guten Gewissens behaupten, dass arbeiten oder sich in einem Klassenraum, einer Fabrik oder in einem Supermarkt einsperren zu lassen, etwas anderes ist als sich selbst zum Gefangenen zu machen. Wer spürt nicht in seinem Hühnerkafig zwischen Wohntürmen, die den Horizont versperren, dass sein Leben nur eine Reihe an verschiedenen Freiheitsberaubungen ist? Wer schafft es noch, dem Anblick von Stacheldraht, Zäunen, Sicherheitstüren und Schranken zu entgehen, die immer stärker die Orte bestimmen, an denen wir uns befinden, wenn wir uns von der Arbeit zur Metro, vom 15m²-Zimmer zu den Einkaufshallen schleppen?
Diese Gesellschaft ist ein riesiges Gefängnis, in der sich Gefängnisse befinden, die wiederum weitere Gefängnisse enthalten. Draußen die Angst vorm Gefängnis, drinnen die Angst vorm Bunker. In diesem grauen, kalten Leben entzünden sich trotzdem manchmal Flammen der Wut. Kürzlich haben sie von Tunesien, Algerien und Ägypten aus die Feuer unserer Herzen neu belebt, die sich nicht von Repression löschen lassen werden.
Wir wollen unsere Solidarität mit allen Aufständigen ausdrücken, die sich ungeachtet der Drohungen und der Gewehrkugeln gegen die Ordnung wenden, weil auch wir mit dieser Welt des Geldes und der Macht Schluss machen wollen, weil auch wir leben wollen. Als winzige Beteiligung an den Wutschreien, die in den letzten Monaten das Mittelmeer überquert haben, haben wir einige Parolen an die traurigen Mauern unserer Viertel geschrieben, gegen die demokratische und die diktatorische Herrschaft und gegen die Macht des Geldes.
Festgenommen wurden wir um drei Uhr morgens im 20. Arrondissement in der Rue de Tourtille von Zivilbullen, die uns schon einige Zeit beobachtet hatten. Nach einer kurzen Nacht in der Polizeiwache des 20. Arrondissments, übernimmt die Anti-Terrorismus-Sektion der Kriminalitätsbrigarde und bringt uns in ihre Räume am Quai des Orfèvres, nachdem sie unsere Wohnungen durchsucht haben, um ihre Datensammlungen zu aktualisieren. Wir erfahren, dass sie uns für eine Reihe von Graffiti gegen das Rote Kreuz und seine allgegenwärtige und internationale Beteiligung an der Abschiebemaschinerie und der fortschreitenden Internierung von Besitzlosen verantwortlich machen. Wir sind außerdem für die Verweigerung der Entnahme unserer DNA und der Abgabe unserer Fingerabdrücke angeklagt und für die Nicht-Beachtung der richterlichen Auflagen, die Olivier und ich schon hatten. Im Februar 2010 waren wir wegen unserer Beteiligung an Kämpfen gegen die Abschiebemaschinerie festgenommen worden. Wir waren damals mit einigen anderen Genossen wegen angeblichen Sabotageakten an Geldautomaten angeklagt. Es ging damals wie heute darum, einige Einzelpersonen für die Kämpfe und Wünsche zu bestrafen und zu isolieren, die von so vielen anderen geteilt werden.
Bei unserer Hafteinweisung war der Staatsanwalt sehr klar: „Der der anarcho-autonomen Bewegung muss ein definitives Ende gesetzt werden und M. Sayag muss eine Lektion erteilt werden bevor er zu einer noch gewalttätigeren Form des Protests übergeht.“
Der Staat konzentriert sich heute auf uns, weil wir nie aufgehört haben, unsere anarchistischen Ideen auf die Straße zu tragen und denjenigen zu vermitteln, die davon noch nie etwas gehört hatten, und unserer Solidarität mit den Aufständigen auf der ganzen Welt Ausdruck zu verleihen. Das alles ist kein Geheimnis. Ich bin weder ‚unschuldig‘ noch ’schuldig‘ in den Dingen, die mir vorgeworfen werden. Ich bin Anarchist und gehört meine Solidarität allen Handlungen, die darauf abzielen, sich von Herrschaftsverhältnissen zu befreien ohne sie zu reproduzieren, ob sie von mir oder von anderen stammen.
An alle, die nicht über diese armseeligen Mauern weinen, die wir zum Sprechen gebracht haben, an alle, die sich gefesselt fühlen, wenn andere es sind, sende ich meine revolutionären Grüße und rufe euch auf, euren Kampf für die Freiheit, der auch meiner ist, nicht ruhen zu lassen.
An alle, die diesen Verhältnissen dienen: eure Gefängnisstrafen werden weder meine Tränen trocknen noch unsere Freude unterdrücken, mit der wir an der Veränderung der Verhältnisse arbeiten.
Meine Solidarität gehört den Aufständigen, die aktiv werden ohne davon zu träumen, die Diktaturen durch eine demokratische Herrschaft zu ersetzen. Sie gehört auch allen Gefangenen auf diesem Planeten, die nicht aufgeben und die sich nicht von anderen abgrenzen, indem sie sich Kategorien wie die des ‚politischen Gefangenen‘ erfinden. Von Sidi Bouzid nach Athen, von Bal-el-oued nach Santiago, von Villiers-le-bel in die Vorstädte von Rio – lasst unsere Revolten unsere Solidarität stärken, und umgekehrt.

Freiheit.

Am 6.2.2011, Dan.

PS: Ihr könnt mir auf englisch und auf französisch schreiben.

Maison d‘arrêt de la Santé
Daniel SAYAG
N° d‘écrou : 293 350
42,rue de la Santé
75 674 Paris cedex 14
France