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Rahel Jaeggi: „Was in der Rigaer 94 passiert ist, war militante Öffentlichkeitsarbeit“

Frau Jaeggi, in Berlin sorgte jüngst eine Auseinandersetzung um ein linksalternatives Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 für bundesweites Aufsehen. Zunächst einmal grundsätzlich: Welche Bedeutung haben solche Projekte für eine Großstadt wie Berlin?

Solche Räume sind fundamental wichtig für diese Stadt, weil sie dafür sorgen, dass sie nicht zu einer Art gentrifiziertem Disneyland degradiert, in dem Urbanität nur noch performt, aber nicht mehr wirklich gelebt wird. Dabei geht es nicht nur um ehemals besetzten Häuser, sondern um den größeren Kontext von Stadt-, Wohn- und Mietenpolitik. Es geht um die Frage, ob es in einer Stadt Freiräume für andere Lebensformen, Spielraum für widerständige Existenzweisen gibt – aber auch darum, wie und ob ganz normale Menschen überhaupt noch in der Stadt leben können. Für eine Stadt sind Projekte wie die Rigaer Straße 94 so etwas wie Luftlöcher, durch die sie atmen kann. Das sind Territorien, in denen anders gelebt werden kann und die Experimentierfelder bieten, die nirgends anders stattfinden könnten, da die Stadt droht, unter einem massiven Kommodifizierungsdruck versiegelt zu werden. In Berlin gibt es ja Überbleibsel aus Häuserkämpfen und Hausbesetzungen ganz verschiedener Dekaden. Und gerade in den Vierteln, in denen das besonders ausgeprägt ist – im hinteren Kreuzberg beispielsweise gibt es faktisch fast in jeder Straße ein ehemals besetztes Haus mit ganz verschiedenen Formen von Verträgen, Genossenschaften etc. – lässt sich gut sehen, dass dadurch die Gentrifizierung nicht ganz so durchregieren kann, wie das anderswo der Fall ist. Das schützt einige der prekären Existenzen durchaus auch vor den schlimmeren Formen von Armut. Natürlich gibt es dafür ganz verschiedene Faktoren. Und natürlich gibt es auch das Phänomen der Aneignung solcher Freiräume durch Bessergestellte.

Das Haus gilt jedoch als teilbesetzt. Muss der Rechtsstaat dann nicht eben schlicht Recht durchsetzen? Andere Menschen müssen schließlich auch Miete zahlen.

Aber was bedeutet hier „Recht durchsetzen“? Im Grunde doch: das Recht auf Eigentum durchsetzen. Aber gerade die Grenzen dieses Rechts auf Eigentum werden ja zurzeit mit Bezug auf bestimmte Güter und Lebensbereiche – und dazu gehört eben Wohnen aber auch Gesundheit oder Bildung – aus guten Gründen gesellschaftlich wieder diskutiert. Mit Recht wird hier die Frage gestellt, was eine vollständige Vermarktlichung dieser Bereiche mit unserer Gesellschaft macht und ob die Verfügung über Güter, die derart massive Konsequenzen für unser gesellschaftliches Leben haben wirklich „privat“ oder „privateigentümlich“ sein darf. Aber konkreter: Es gibt ja aktuell, soweit ich weiß, keine besetzten Häuser in Berlin, sondern lediglich ehemals besetzte Häuser, die in der einen oder anderen Form Verträge bekommen haben. Insofern lebt da niemand kostenlos. Und es ist auch kein „rechtsfreier Raum“. Wirklich interessant an der Rigaer Straße 94 und ähnlichen Häusern im ehemaligen Ostteil der Stadt ist allerdings, dass sie wortwörtlich hausgroße verpasste Chancen sind. Die meisten dieser Immobilien im ehemaligen Ostteil der Stadt waren nämlich mal im Besitz kommunaler Wohngesellschaften. Die Verträge mit den Bewohnern sind Resultat von eigentlich „politischen Verhandlungen“, „Friedensverhandlungen“, wie der Stadtsoziologe Andrej Holm es passend nannte, die nach den Auseinandersetzungen um die Räumung der Mainzer Straße im Jahr 1990 geführt worden sind.

Warum verpasste Chance?

Weil man durch die Verträge zwar eine rechtliche Form für diese Situation gefunden hat, man es dennoch versäumte, die Eigentumsverhältnisse in staatlicher Hand zu belassen. Zu diesem Zeitpunkt verscherbelte die Stadt ihr Tafelsilber, das sie später teils teuer zurückkaufen musste. Das wäre nicht nötig gewesen. Stattdessen hätte man auch über einen staatlichen Fonds nachdenken können, der die Häuser hätte kaufen, verwalten oder in die Selbstverwaltung der Bewohnerinnen und Bewohner geben können. Hätte man sich so entschieden, hätte es viele zähe Auseinandersetzungen rund um die Verträge sowie die hoch spekulative Eigentümerwechsel in den letzten Dekaden nicht geben müssen. Anstatt sie dem Profitstreben und der Spekulationsdynamik des internationalen Immobilienmarktes auszusetzen, hätte man diese innerstädtischen Immobilien also dem Wohnungsmarkt entziehen können und damit gewissermaßen Pflöcke für eine gemeinwohlorientierte Wohnungs- und Stadtpolitik – eine solidarische Stadt, wie sie jetzt gerade zu zerbröseln droht – einschlagen können.

Und warum ist das nicht passiert?

Kapitalismus? Dummheit? Seitens der Politik gab es jedenfalls auch viel Blindheit, denn dieses drängende Problem der Wohnungsfrage in einer Stadt wie Berlin wurde ganz offensichtlich nicht erkannt. Dabei hätte man durch den internationalen Vergleich erahnen können, dass ein Schicksal wie jenes von London, Paris oder New York auch Berlin droht. Aktuell dominiert leider die Logik der Gewinnmaximierung, die aus jeder Immobilie rausholen will, was geht. Die ist aber keinesfalls alternativlos, weil man auch eine Politik machen könnte, die hier politisch gestaltet und reguliert und die sagt: Wir wollen Wohn- und Lebensmöglichkeiten für möglichst viele Menschen in der Stadt und wir wollen aktiv die soziale Segregation in unterschiedliche Viertel und Wohnlagen verhindern. Wenn man eine solche Logik sozialer Solidarität gegen die des Marktes verteidigt, also eine Stadt, die für alle bewohnbar ist, müsste man vielleicht nicht so hektisch über die Quellen des „sozialen Zusammenhalts“ nachdenken. Diese werden zurzeit gerne beforscht und politisch beschworen – aber gleichzeitig untergraben, weil man gewissermaßen die Infrastrukturen sozialer Solidarität zerstört. Solch eine Logik sozialer Solidarität, die zu einer Stadt führt, die für alle bewohnbar ist, wäre mir jedenfalls wesentlich lieber.

Sie selbst zogen mit 14 Jahren aus dem Haus Ihrer Eltern aus und schlossen sich später der ersten Welle Hausbesetzungsbewegung in Berlin an. Ging es Ihnen auch damals schon um eine solidarische, lebenswertere Stadt?

Nee, damals ging es um die Revolution … natürlich. Zeitschrift für Freiheit und Abenteuer nannte sich eine der damals wichtigen Publikationen im Untertitel. Aber Quatsch beiseite: Wie heute auch gab es da ganz unterschiedliche Motive bei ganz unterschiedlichen Leuten und Strömungen. Das war damals Teil einer ganzen Welle von Protestbewegungen, die sich in Europa von Zürich über Amsterdam nach Berlin erstreckte und das Ganze hatte nicht nur im engeren Sinne wohnungs- oder stadtpolitische, sondern durchaus weitreichendere Ziele. Bei der Welle der Hausbesetzungen im Berlin der frühen 80er Jahre, in deren Zuge es dann rund 160 besetzte Häuser gab, wollte man zum einen andere Lebensformen ausprobieren – das Konzept der „Freiräume“ und der damit verbundenen Entwicklung gesellschaftlicher Veränderungen wurde ja in dieser Zeit gerade erst, nun ja, nicht erfunden, aber proklamiert. Zum anderen wollte man politischen Widerstand gegen eine Stadt- und Wohnungspolitik leisten, die damals schon als falsch empfunden wurde. Wir zum Beispiel haben in unser erstes Besetzungsflugblatt gleich schon mal großspurig reingeschrieben: „Die Häuser sind nur der Anfang. Der nächste Schritt sind Stadtteile und Städte, Schulen und Fabriken.“ Es gab also ganz unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Ansätzen und politischen Hintergründen und entsprechend auch Konflikte – wie etwa der zwischen Verhandlern und Nichtverhandlern – die nicht immer produktiv waren. Und vielleicht wurde gerade von denen, die das Ganze mit weiterreichenden Vorstellungen gesellschaftlicher Umgestaltung – im Grunde ja ein ganz grundsätzlicher wenn auch diffuser Widerstand gegen die als disziplinierend und normierend empfundene Gesellschaft – verbunden haben, das Potential der eigentlichen „Wohnungsfrage“, des Kampfes um die Stadt, manchmal unterschätzt.

Wie verhält sich die damalige Lage zur heutigen?

Die Situation zu dieser Zeit war eine andere, weil es zum einen tatsächlich viele leerstehende Häuser gab, und zum anderen – im Verhältnis zu heute – Wohnraum noch bezahlbar war. In den damaligen Auseinandersetzungen stand deshalb nicht die Wohnungsfrage als soziale Frage im Vordergrund, sondern die Frage, wie Berlin künftig aussehen soll. Es wurde beispielsweise hart und teils sehr erfolgreich für den Erhalt von Altbauvierteln gekämpft. Wäre das nicht geschehen, hätte die Stadt heute ein wesentlich anderes Gesicht. Vieles von dem, was jetzt so wohlklingend als Urbanität, als kulturell vielfältiger und „bunter, lebendiger Kiez“ vermarktet und dann zu hohen Preisen angeboten wird, geht auf diese Kämpfe zurück. All das ist damals auch durch Hausbesetzungen geschützt worden oder überhaupt erst entstanden, zusammen mit vielen anderen Formen künstlerischer und subkultureller Aneignung. Im Grunde ist das was da jetzt passiert – also die Vermarktung eben jener ehemaligen Szeneviertel – eine Form der Ausbeutung.

Wie man letzte Woche sehen konnte, ist Hausbesetzung nun aber nicht gleich Hausbesetzung. Bei einer Brandschutz-Begehung in der bereits angesprochenen Rigaer Straße 94 kam es zu teils massiven Ausschreitungen. Es flogen Steine, 61 Polizisten wurden verletzt und eine Schule in der Nachbarschaft musste geschlossen werden, weil das Risiko für die Schülerinnen und Schüler als zu groß eingestuft wurde. Es scheint, als ob die Bewohnerinnen und Bewohnern keinen ausgeprägteren Sinn für die Öffentlichkeitswahrnehmung des eigenen Tuns hätten.

Ich würde eher die Gegenthese vertreten und sagen, die Bewohnerinnen und Bewohner wissen sehr genau, wie sie wirken. Sie haben Erfahrungen mit der Öffentlichkeit gemacht und eine Antwort auf die Frage gefunden, wie man auf deren Radar gelangen kann. Im Grunde handelt es sich hier doch um eine Art von militanter Öffentlichkeitsarbeit. Kein Mensch kann doch ernsthaft glauben, dass sich hier quasi militärisch Siege erringen lassen. Und auf der anderen Seite glaubt doch auch kein Mensch ernsthaft, dass der Rechtsstaat durch so etwas bedroht ist. Aber der Kampf um die Aufmerksamkeitsschwelle von Medien und Politik lässt sich so gewinnen. Ich würde deshalb das, was in der Rigaer 94 passiert ist, als militante Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen. Da wurde politischer Druck erzeugt, das ist alles. Und auch wenn man sich vielleicht wünschen würde, dass dieser Druck auch mit weniger Schaden und weniger Risiko für alle Beteiligten herzustellen wäre, die Erfahrung zeigt, dass man auf den verschiedensten Ebenen sehr lange sehr aktiv sein kann und dennoch passiert erst etwas, wenn man den politischen Preis hochtreibt. Nebenbei: es war schon wirklich absurd, dass mitten in der Corona-Pandemie und während der Stay-at-Home-Kampagne dieses Fass überhaupt aufgemacht worden ist, ebenso wie es absurd ist, dass mitten in dieser Zeit Wagenburgen bedroht und Räume für Wohnungslose wie in Berlin die Rummelsburger Bucht geräumt worden sind. Man sieht also, dass es dringend nötig ist, zu solchen Fragen Öffentlichkeit herzustellen.

Glauben Sie dennoch, dass die Einbettung derartiger Aktionen in größere Anliegen wie beispielsweise „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ möglich und produktiver wäre?

Sie sagen „dennoch“. Ich sehe hier keinen Widerspruch. Das ist ja faktisch eingebettet, weil es im Effekt dasselbe Thema anspricht: Man kann ja sagen, dass der Konflikt, den die Bewohnerinnen und Bewohner von Häusern wie der Rigaer 94 und ähnlichen Orten hier ausfechten, egal was sie im Einzelnen politisch damit noch verbinden, jedenfalls eines auch tut: Die Frage um das Eigentum an Wohnraum oder so etwas wie das „Recht auf Stadt“ wenigstens symbolisch zu stellen und offenzuhalten. Und die Initiatorinnen und Initiatoren von „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ haben in Bezug auf dieselben Fragen eine sehr ausgeklügelte und erstaunlich erfolgreiche konkrete Forderung und auch eine längerfristige und auf die gesamte Gesellschaft bezogene Strategie. Diese ist – und das halte ich für einen entschiedenen Fortschritt gegenüber dem Verharren in der Idee der Verteidigung von „Freiräumen“ – eben tatsächlich auf ein gesellschaftliches Problem bezogen und formuliert verallgemeinerbare Lösungsvorschläge für alle Menschen in dieser und anderen Städten (und nicht nur für Aktivist:innen). Aber letztlich sollte man das beides nicht gegeneinander ausspielen: Beides zusammen führt dazu, dass es eine heftige politische Debatte zur Stadtpolitik gibt. Beides ist wichtig, damit wir anfangen, darüber zu sprechen, ob Wohnen überhaupt Eigentum sein sollte, ob mit dem Eigentum an Wohnraum nicht auch eine soziale Verpflichtung einhergeht und man dort, wo diese hintertrieben wird, auch über Enteignung nachzudenken wäre. Und um die Grundfrage, ob Wohnen auf einem unregulierten Markt gut aufgehoben ist. All diese Leute wollen in einer Stadt leben, die nicht vollständig zur Ware wird und in der die Gewinn- und Spekulationssteigerungsdynamik nicht das letzte Wort hat. Das sind alles Teile einer Thematik, Obschon die die jeweiligen Stoßrichtungen natürlich andere sind.

Inwiefern?

Wo sich beispielsweise die Rigaer 94 auf experimentelle Formen des Lebens richtet, geht es „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ grundsätzlicher um das Leben an sich. Es soll verhindert werden, dass Menschen verarmen, weil die Mieten einfach zu hoch und Menschen vertrieben werden. Dieses Problem ist in den letzten Jahren deutlich größer geworden. Deshalb fand ich „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ von Anfang an auch wichtig: Hier gibt es einen Blick für Lebensformen, die nicht die eigenen sind. Man hat verstanden, dass eine Auseinandersetzung um emanzipative Lebensformen nur zu gewinnen ist, wenn man auch die Lebensverhältnisse derjenigen verändern will, die sich gerade nicht zusammentun und ein Haus besetzen können. Hier wird also eine gesamtgesellschaftliche Forderung gestellt, die nicht im Verdacht steht, es gehe einfach nur darum, dem eigenen Kollektiv oder der eigenen WG eine hübschere Behausung zu geben. Dennoch würde ich sagen, dass sich die Anliegen der Rigaer 94 und „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ keinesfalls widersprechen, weshalb es mich auch immer skeptisch macht, wenn versucht wird das so auseinanderzudividieren, indem man sagt, die einen sind die Guten, weil sie eine politisch ausklügelte Strategie haben, und die anderen sind kontraproduktive Wirrköpfe, die alles kaputt machen, weil sie diese Straßenschlachten inszenieren. In Wirklichkeit besteht hier ein sehr deutlicher Zusammenhang, der dafür sorgt, dass es überhaupt zu einer Veränderungsdynamik kommen kann. •

Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin und leitet seit 2018 das dortige Center for Humanities and Social Change. Sie veröffentlichte u.a. „Kritik von Lebensformen“ (Suhrkamp, 2013) und „Kapitalismus – Ein Gespräch über kritische Theorie“ – zus. mit Nancy Fraser (Suhrkamp 2020) .

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