Augenzeugenberichte über Polizeigewalt beim G-20-Gipfel im Hamburger DGB-Haus
Gut vier Jahrzehnte sei sie politisch aktiv, habe bei vielen Demos mitgemacht, berichtet die Frau auf dem Podium. Aber was sie am 6. Juli, am Vortag des G-20-Gipfels in Hamburg, bei der »Welcome to Hell«-Demo an Polizeibrutalität erlebt habe, das habe sie »zuletzt in Genua gesehen, beim G-8-Gipfel im Juli 2001«. Der Beitrag der nicht namentlich vorgestellten Aktivistin war einer von vielen so eindringlichen wie erschreckenden Berichten von Augenzeugen und Beteiligten der Gipfelproteste am Freitag im Musiksaal des Hamburger DGB-Hauses.
Unter dem Titel »G 20 – das war der Gipfel« hatte ein Zusammenschluss von Vertretern und Aktiven aus der G-20-Plattform, G-20-Protestbündnissen und Initiativen zu der Veranstaltung eingeladen. Sie sollte Anstoß für eine Aufarbeitung der Ereignisse sein, etwa durch einen unabhängigen Untersuchungsausschuss. Rund 200 Zuhörer verfolgten rund vier Stunden lang Schilderungen, die deutlich machten, wie brutal und menschenverachtend die Polizei vorgegangen ist.
So berichtete die Aktivistin vom »Welcome to Hell«-Bündnis, wie die Polizei die Demo am Hafenrand angegriffen habe, »prügelnd und mit Pfefferspray um sich sprühend«. Es sei nicht um Festnahmen gegangen, »es ging darum, die Leute zusammenzuschlagen, sie schwerstmöglich zu verletzen und zu traumatisieren, ihnen zu sagen: ›Das passiert euch, wenn ihr auf eine linksradikale Demo geht‹«.
Erschreckend auch der Beitrag von Christoph Barta von Berlins Linksjugend Solid. Auf der Rückfahrt vom Gipfel habe die Berliner Bereitschaftspolizei ihren Bus mit 40 Aktivisten von Jugendverbänden auf der Raststätte Stolpe gestoppt – ohne jede Begründung. Mit Ausrufen wie »Jetzt haben wir euch, ihr linkes Dreckspack, ihr Viehzeug!« hätten die äußerst aggressiv auftretenden Beamten sie eingekesselt. Eine junge Frau sei in den Kessel geschleift worden, er selbst geschlagen worden. Nach einer halben Stunde »Angst, Schrecken und Einschüchterung« habe man sie weiterfahren lassen.
MLPD – Wahlwerbung Flucht
Nils Jansen vom Verdi-Bezirk NRW-Süd berichtete vom brutalen Angriff der Bundespolizei auf einen Aufzug im Industriegebiet Rondenbarg. Grundlos hätten die Beamten auf die rund 200 Demonstranten eingeprügelt, er sei mit 72 Festgenommenen in die Gefangenensammelstelle (Gesa) gebracht worden. Eindringlich schilderte Jansen den Psychoterror dort. Sie seien in neun Quadratmeter große Zellen gesperrt worden. »Die waren fensterlos, hatten weiße Wände, eine Holzbank und 24 Stunden perverses, grelles Neonlicht«, so Jansen, »draußen hörte man das Knallen von Schritten. Das war total psycho!«
Der politisch aktive Schauspieler Rolf Becker kritisierte die harten Urteile der Hamburger Amtsgerichte gegen Gipfelgegner, das sei »tendenziell Gesinnungsjustiz«. Er hob auch den Fall des Italieners Fabio V. (18) hervor, der am Rondenbarg festgenommen wurde und seither ohne konkreten Vorwurf im Knast sitzt. Der italienische Philosoph und Aktivist Beppe Caccia forderte unter dem Beifall der Zuhörer: »Fabio muss sofort freigelassen werden – und alle anderen G-20-Gefangenen auch!«
In der abschließenden Podiumsdiskussion waren sich alle einig, dass der Gipfel nach Hamburg gelegt wurde, damit die Sicherheitsbehörden ihr Zusammenspiel in einer Großstadt üben können. Dass da »etwas ausprobiert worden ist«, meinte Werner Rätz von ATTAC. Yavuz Fersoglu vom kurdischen Verband Nav-Dem sprach von einer »bewussten Inszenierung«, bei der die Rahmenbedingungen für ein bundesweites Vorgehen gegen Linke gesetzt worden seien.
Dem schloss sich Michael Ramminger vom Institut für Theologie und Politik in Münster an. Er warnte vor Strafrechtsverschärfungen, die es Polizei und Justiz erleichtern sollten, gegen Demonstranten vorzugehen. »Hamburg war vielleicht eine der letzten Massenkundgebungen, aus der wir heil herausgekommen sind«, sagte er. Schon bald könne die Frage sein: »Wie kriegen wir 1.000 Leute aus den Knästen raus?«
Von Kristian Stemmler, junge Welt 18.7.17