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REPRESSION IN DER TÜRKEI Gestern Bassist, heute Terrorist

Musiker der türkischen Band Grup Yorum kämpft mit Hungerstreik gegen Auftrittsverbot. In einem Brief schildert er seine Motive
Von Nick Brauns junge Welt 25.4.2020

Offener Brief auf jungewelt.de
»In einem Barackenviertel Istanbuls schaue ich durch ein Fenster mit Blick in den Garten nach draußen. Wenn ich rausginge, könnte ich von etwas weiter den Bosporus sehen. Aber ich liege in einem Bett. Ich wiege nun 40 Kilogramm. In meinen Beinen ist nicht mehr genug Kraft, um meinen Körper zu tragen …« – so beginnt ein Brief des Musikers Ibrahim Gökcek, der junge Welt über den im Berliner Exil lebenden Journalisten Can Dündar erreicht hat.

Gökcek, der seit 15 Jahren Bassgitarre in der populären linken Band Grup Yorum spielt, musste diese Zeilen diktieren. Denn zum Schreiben fehlt dem Musiker, der sichtbar an der Schwelle zum Tod steht, nach fast einem Jahr im Hungerstreik die Kraft. »Die Geschichte hat uns zu diesen Tagen gebracht, an denen wir den Tod riskieren, um Konzerte geben zu können«, erklärt der Bassist, der ein Ende des Konzertverbots und die Freilassung inhaftierter Bandmitglieder fordert.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1985 hat Grup Yorum 23 Alben in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren produziert, zu kostenlosen »Volkskonzerten« strömten zuletzt 2015 bis zu einer Million Besucher. In ihren Liedern verbindet die Band die anatolische Volkskultur mit sozialistischen Gedanken. »Wir haben die Lieder der Unterdrückten in Anatolien und in der Welt gesungen«, schreibt Gökcek. Dies gelte in der Türkei bereits als »Terrorismus«. Unter dem Ausnahmezustand, den die AKP-Regierung im Sommer 2016 ausrief, fanden sich die Namen der Bandmitglieder auf einer Terrorliste. Sie werden der Mitgliedschaft in der militanten »Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front« (DHKP-C) beschuldigt. »Der Gitarrist, der vor fünf Jahren einer Million Menschen ein Konzert gab, verwandelte sich plötzlich in einen ›gesuchten Terroristen, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt‹ war«, schreibt Gökcek, der im Februar 2019 zusammen mit der Sängerin Helin Bölek bei einer Razzia im Idil-Kulturzentrum in Istanbul festgenommen wurde. Ihren im Gefängnis begonnenen Hungerstreik wandelten die beiden Musiker nach ihrer Haftentlassung im Februar 2020 in ein »Todesfasten« um, dem die 28jährige Bölek am 4. April erlag. Beim sogenannten Todesfasten (türkisch: Ölüm Orucu) nehmen die Beteiligten nur noch Wasser mit darin gelöstem Zucker und Salz zu sich sowie in manchen Fällen Vitamin-B-Präparate, um weiter klar denken zu können. »Ich habe die Fahne übernommen«, schreibt Gökcek weiter. Er werde »am Leben festhaltend meinen Marsch in den Tod fortführen, bis unsere Forderungen angenommen werden«.

Unterstützung dafür kommt von Abgeordneten der linken HDP sowie dem Jugendverband der kemalistischen CHP. Doch außerhalb einiger alevitisch geprägter Istanbuler Armenviertel finden politische Hungerstreiks derzeit wenig Aufmerksamkeit der durch die grassierende Coronapandemie im Bann gehaltenen Bevölkerung. So verstarb am Freitag der politische Gefangene Mustafa Kocak nach 296 Tagen im Hungerstreik im Sakran-Gefängnis in Izmir. Der 28jährige, der allein aufgrund der Aussage eines Kronzeugen zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden war, weil er als vermeintliches Mitglied der DHKP-C Waffen für eine Geiselnahme beschafft haben soll, hatte vergeblich für einen neuen Prozess gekämpft.

Doch derartige Appelle stoßen bei einer Regierung, die politische Gefangene von ihrer in der vergangenen Woche aufgrund der Pandemie beschlossenen Amnestie ausdrücklich ausgenommen hat, auf taube Ohren.