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»Frauen im Widerstand mußten Kämpfe radikaler führen«

Gespräch mit Anne Urtubia. Über die Unterstützung des spanischen Widerstands gegen die Franco-Diktatur, den feministischen Aufbruch im Mai 1968 in Paris und Heiraten unter Anarchisten

Die 70jährige Französin Anne Urtubia hat im Mai 1968 in Paris in der Frauenbewegung mitgewirkt, um die Gesellschaft im feministischen Sinn zu verändern. Später hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem spanischen Anarchisten Lucio Urtubia, und anderen europäischen Rebellen den Widerstand gegen die Franco-Diktatur gestärkt. Sie hat mitgeholfen, die spanische anarchistische Bewegung im Exil mit Geld, falschen Dokumenten, Wohnungen etc. zu versorgen.

Anarchistinnen, die Widerstand gegen autoritäre Regime geleistet haben, verschwinden in der öffentlichen Wahrnehmung oft hinter männlichen Vorbildern. Sie selbst haben sehr präzise Vorstellungen, wie Sie die Gesellschaft verändern wollen. Was hat Sie damals, 1968 in Paris, bewegt, bevor Sie den spanischen Anarchisten, Geldfälscher und Rebellen Lucio Urtubia, Ihren späteren Ehemann, kennengelernt und sich dem anarchistischen Widerstand gegen Franco angeschlossen haben?

Es war eine Zeit, in der alles im Aufbruch war, um eine gesellschaftliche und politische Veränderung zu schaffen. Wir haben damals alle geglaubt, eine Revolution beginnen zu können, um die verstaubten Werte der Vergangenheit aufzuweichen. Die Gesellschaft war von einem traditionell rechten Establishment geprägt und organisiert, das wir ablehnten. Das fing in der Schule an: Mädchen auf der einen Seite im Klassenraum, Jungs auf der anderen. Alles restriktiv geregelt! Wir wollten den Esprit und die Lebensweise grundsätzlich ändern. Zwar müssen wir im Rückblick eingestehen: Die Revolutionäre der 68er Zeit waren nicht wirklich einflußreich. Aber wir haben darauf gedrängt, unsere Träume die wir in diesem Moment hatten, in die Realität zu übertragen. 1968, Paris im Mai, war die Gelegenheit, unsere Utopien zu verteidigen. Die Frauen haben sich als Bewegung formiert; vor allem mit dem Ziel, das Recht auf Abtreibung durchzusetzen – auch um eine aufgezwungene Rolle des Heimchens am Herd loszuwerden. Wir hatten Lust, all die alten Traditionen, die uns in unserem persönlichen Leben einengten, einfach über Bord zu werfen. In dieser Zeit, im Mai 1968, hatte ich Lucio kennengelernt. Er war vom spanischen Militär desertiert, begann im Pariser Exil Kontakt zu anarchistischen Gruppen aufzubauen, um von hier aus den Widerstand gegen die Franco-Diktatur zu organisieren.

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War Ihre Rebellion in Ihrer Familie schon angelegt?

Eher nicht! Mein Vater hatte ein mittelständisches Unternehmen in Troyes, einem Dorf 150 Kilometer von Paris entfernt. Er war Gaullist, also ein Konservativer. Wir waren sechs Kinder. Ich bin am 2. Dezember 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg geboren. Ich und meine Schwestern haben Berufe gelernt: Eine ist Krankenschwester, die andere Professorin, ich bin Biologin geworden. Ich hatte ein fast zweijähriges Praktikum von Anfang 1965 bis 1967 in Kambodscha absolviert, als die USA militärisch in Vietnam intervenierten. Weil ich dort in einer historisch turbulenten Periode war, wurde ich früh politisiert. Ich las Schriftsteller wie Albert Camus und Jean Paul Sartre, hörte Chansons von politisch linken Liedermachern. Ich interessierte mich für Philosophie. Wir waren alle dabei, uns auf diese Weise zu bilden und zu reflektieren; ohne jedoch ein wirkliches Konzept zu haben, wie wir die Gesellschaft haben wollten.

Wie haben Sie Lucio Urtubia kennengelernt?

Ich wohnte in dieser Zeit im Studentenviertel Quartier Latin. Über Freunde haben wir uns kennengelernt und – wie damals üblich – viel diskutiert. Er hat alles getan, um mich wiederzusehen; aber wir haben uns sowieso ständig gesehen, bei Polit-Meetings an der Universität. Wir haben uns freilich auch gestritten; vor allem nach einer Demonstration. Wie die meisten der Leute haben wir dabei ständig Probleme mit der Polizei bekommen. An diesem Tag hatten wir uns in ein Kino geflüchtet; ich war am Fuß verletzt. Die Polizei hatte uns verfolgt. Lucio und ich hatten es ins Auto geschafft, fuhren aber auf eine Polizeisperre zu. Ich war damals jung, exaltiert und etwas verrückt: Insofern habe ich ihn gedrängt, geradezu malträtiert, er solle schneller fahren und die Sperre durchbrechen: »Gib Gas, gib Gas.« Lucio war zu dieser Zeit ein spanischer Flüchtling; froh, es ins Exil nach Frankreich geschafft zu haben. Er hatte deshalb verständlicherweise wegen so einer Banalität nicht die geringste Lust, sich Ärger mit der Polizei einzuhandeln. Er hatte natürlich recht – aber ich wollte es nicht einsehen. Er war damals erfahrener und viel pragmatischer: Wenn man ein Risiko auf sich nimmt, muß es sich für die Bewegung lohnen. Er war sauer und hat mich aus dem Auto geschmissen. Ich bin die ganze Nacht zurückgelaufen. Später haben wir uns versöhnt. Klar.

Wie ist denn all das in Ihrem familiären Umfeld angekommen – auch, daß Sie im November 1969 einen Anarchisten geheiratet haben?

Meine Eltern waren sauer, daß ich diese Beziehung eingegangen bin. Mir war das aber völlig egal. Davor war ich mit einem wohlerzogenen Mediziner zusammen, dann plötzlich mit diesem Anarchisten. Das war damals, in dieser Epoche gar nicht einfach.

Wie sind Sie in Kontakt mit der libertären Bewegung gekommen?

Vor dem Kennenlernen mit Lucio hatte ich keinen Kontakt mit radikalen Anarchisten. Wir waren an der Pariser Universität Sorbonne eher bürgerlich, haben mit Kommunisten sympathisiert. Daniel Cohn Bendit war dort der große Sprecher. Ich war sehr interessiert, als mir Freunde einen der Köpfe der Libertären vorstellen wollten. Wir hatten dann Aktionskomitees gegründet. In Nanterre gründete eine Gruppe von 142 linken Studenten verschiedenster politischer Herkunft an der philosophischen Fakultät die radikale »Bewegung 22. März«. Wir besetzten damals das Verwaltungsgebäude, um etliche hochschulpolitische Ziele durchzusetzen, unter anderem die Aufhebung der Geschlechtertrennung in den Studentenheimen. Das waren unsere Aktivitäten. Lucio hat mir den Eintritt in die libertäre Bewegung geebnet. Ich hatte eine ganz andere Sozialisation als er: Er war arm, ich hatte studieren können. Die Anarchisten in Spanien hatten mehr Routine, sozialen Widerstand zu üben. Wir hatten dies als Modell für uns angesehen – ohne wahrzunehmen, daß es sich um den Kampf der Anarchisten gegen ein totalitäres Regime handelte. Wir hatten jedoch Faszinierendes über den Kampf der Anarchistinnen für ihre Emanzipation gehört. Das paßte bei uns alles rein: freie Liebe etc. Was die spanische Geschichte des Diktators Franco und den Widerstand gegen ihn betraf, waren wir eher naiv. Auswirkungen des Franquismus hatte ich mir gar nicht vorstellen können – somit auch nicht die radikalen Formen der Gegenwehr.

Es heißt, die spanischen Anarchisten waren Machos?

Na klar, sie kamen aus einer Gesellschaft, die katholischer, restriktiver und autoritärer geprägt war als unsere: patriarchalisch bis zur Tyrannei. Mädchen erhielten kaum Bildung. Die Frauen im Widerstand mußten ihre Kämpfe insofern radikaler führen, sich ganz anders behaupten – nicht nur gegen die Staatsgewalt. Bei den Internationalen Brigaden im Bürgerkrieg haben viele von ihnen wie die Männer gekämpft. Priorität war aber, hauptsächlich das Regime und den Kapitalismus zu bekämpfen. Für die Emanzipation der Frauen blieb keine Zeit. In Frankreich waren wir hingegen stark in feministischen Fragen engagiert. Wir wollten den Frauen endlich mehr Rechte verschaffen. Auch in sozialistischen und linken Kreisen war die allgemeine Stellung der Frau nicht gleichberechtigt. Männer bestimmten diese Bewegungen und führten das große Wort.

Welche Aufgaben hatten Sie in der anarchistischen Bewegung, die auch von Frankreich aus den Kampf gegen das Franco-Regime führte?

Ich war der Draht der Bewegung in die bürgerliche Gesellschaft hinein. Ich hatte den Gestus eines Bildungsbürgers; konnte mit einem Lächeln Wohnungen für geflüchtete Anarchisten mit falschen Papieren anmieten. Ich konnte Bankkonten eröffnen, auf denen Gelder für die Bewegung geparkt wurden, aus Banküberfällen oder Scheckfälschungen – zur Umverteilung von Reich nach Arm. Ich konnte Autos mieten oder Maschinen leihen; chemische Lösungen besorgen, um falsche Pässe zu fertigen. Bei mir schöpfte niemand Verdacht, man hat mir schnell Vertrauen geschenkt. Ich hatte auch im Labor gearbeitet, gelernt, sehr präzise zu arbeiten und die dort gefertigten falschen Pässe und Schecks dann verteilt.

Umverteilung im Robin-Hood-Stil ist eine feine Sache. Aber angesichts dessen, daß da große Summen in die anarchistische Bewegung umverteilt wurden: Wie konnten Sie sicher sein, daß das Geld stets in die richtigen Hände von politischen Freunden gelangt?

Das ist eine Frage, die ich mir selbst häufig gestellt habe. Das Geld sollte in die spanische Widerstandsbewegung gegen Franco fließen, aber auch nach Chile, um dort den Widerstand gegen die Diktatur Augusto José Ramón Pinochets zu stärken. Wir waren sicherlich überfordert, alles wirklich zu kontrollieren. Es ging natürlich immer an Organisationen und Gruppen. Einerseits ist es eine Stärke, daß der Anarchismus auch sehr individuell verankert ist, weil es freiheitlicher ist – andererseits eine Schwäche, weil sich vieles der Kontrolle entzieht. Es ist schwer, über die Bewegung den Überblick zu bekommen – auch intern. Sie arbeitet im Vertrauen aufeinander. Doch das Problem gibt es auch bei Benefiz.

Waren Sie im Gefängnis?

Einmal, als der Direktor der Banco de Bilbao in Frankreich, Baltasar Suarez, 1974 entführt wurde, hatte man mich festgenommen und im Gefängnis Fleury-Merogis mehrere Wochen festgehalten.

Anarchisten haben die Idee: Es müssen zunächst alle Institutionen der jetzigen bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft zerstört, Polizei, Justiz, Gefängnisse abgeschafft werden und so weiter, um danach Neues aufbauen zu können…

Diese Ideen, das ganze System zu zerstören, gelten mir gegenwärtig als Utopie. Heute ist das ökonomische System global verankert. Einzelne Nationalstaaten können nichts mehr ausrichten. Wir können deshalb sowieso keine Transformation in dieser Form erreichen. Ich finde, daß Anarchisten heutzutage zu sehr in ihrem eigenen Saft schmoren. Es geht darum, eine Massenbewegung zu erreichen, nicht in einzelnen Gruppen zu agieren. Sinnvoll ist, sich mit anderen Bewegungen zusammenzutun – zum Beispiel mit den Flughafenausbaugegnern oder der Ökobewegung. 1970 konnten wir sehr radikal sein, weil eine Massenbewegung hinter uns stand. Möglicherweise kann »Occupy« einen solchen Prozeß mit Aktionen des zivilen Ungehorsams in Gang setzen. Wir müssen das System verunsichern, um einen humanitären Weg gehen zu können.

Im Gespräch mit junge Welt am 1. Juni des Jahres, meinte Lucio Urtubia man müsse naiv sein, um zu verändern: Mit intellektuellem Räsonieren würden die Dinge zu kompliziert, um überhaupt etwas erreichen zu können. Wie sehen Sie das?

Mag sein, aber die Gefahr ist, sich zu stark zu individualisieren. Wir müssen diesen Weg kollektiv gehen, gemeinsam mit internationalen Bewegungen; beispielsweise auch die afrikanischen Länder integrieren.

Wie war das Konzept des Zusammenlebens mit Ihrem Mann Lucio und Ihrer im Februar 1970 geborenen Tochter Julieta?

Wir hatten zwar traditionell geheiratet – für Anarchisten unüblich, aber eine freiheitliche Verbindung miteinander praktiziert. Erstaunlicherweise war es Lucio, der heiraten wollte. Ich hielt die bürgerliche Ehe für ein eher bourgoises Konzept. Mein Interesse war vorrangig, Lucios Aufenthalt in Frankreich abzusichern. Er war Flüchtling; eine Auslieferung nach Spanien hätte schlimme Folgen haben können. Nachdem wir ein Kind zusammen hatten, gab es diesen Grund zu heiraten, nicht mehr – er hätte dann nicht mehr abgeschoben werden können. Wir haben kurz vor ihrer Geburt, November 1969, geheiratet.

Hatten Sie Befürchtungen, als verheiratete Frau in alte Rollenmuster zu fallen?

Nein, wenn man einen unabhängigen Esprit und ständig mit militanten Aktivisten Umgang hat, existiert diese Gefahr nicht wirklich. Wir hatten radikale Freunde, die eine Heirat stark kritisierten; ich war alles andere als stolz darauf. Ökonomisch war ich immer unabhängig: Wie Lucio als Mauerer, so habe ich mein ganzes Leben lang als Biologin gearbeitet. Lucio hatte später einen kollektiven Betrieb gegründet, Verantwortung für ein Unternehmen gehabt. Natürlich hatte sich in bezug auf unsere illegalen Aktivitäten als verheiratetes Paar vieles einfacher gestaltet: Wir waren unauffällig.

Hatten Sie nie ein schlechtes Gewissen, weil Sie illegale Dinge gemacht haben, die anderen als kriminell gelten?

Ich habe meiner Familie vieles nicht erzählt. Das war nicht schwer, weil wir augenscheinlich ein ganz normales Leben führten. Als ich im Gefängnis war, hat aber meine Mutter unseren Widerstand gegen Franco gegenüber anderen gerechtfertigt. Daß dabei auch Banken um ihr Geld erleichtert worden waren, kam allerdings eher nicht zur Sprache. Gegen die Franco-Diktatur waren viele – kein Thema! Wenn damals Banken ausgeraubt oder Schecks gefälscht wurden, gab es dafür einen gewichtigen Grund. Es traf auf breite Zustimmung, auch bei Konservativen: Ein Regime, das foltert und die Bevölkerung unterdrückt, muß weg!

Leben Anarchisten eine grundsätzliche andere Form der Beziehung – und wie sieht das in Ihrem persönlichen Fall heute aus?

Ich wohne in direkter Nachbarschaft von Lucio. Wir sind schon lange getrennt, haben aber eine sehr innige Beziehung. Wir haben es nicht für notwendig gehalten, uns vor einem Richter scheiden zu lassen. Wir müssen das nicht legalisieren lassen, es ist unsere Entscheidung. Wir brauchen kein Papier darüber, und es uns qua staatlicher Autorität bescheinigen lassen: wozu? Viele sagen, es kann doch gar nicht funktionieren, daß Du Tür an Tür mit Deinem Ex lebst. Wirst Du nicht in alte Muster und Abhängigkeiten zurückfallen? Aber Lucio und ich verstehen einander gut; auch wenn wir nicht mehr in der herkömmlichen Form miteinander verbunden sind. Wenn einer von uns der spontanen Solidarität des anderen bedarf, wird er sie erhalten. Aber wir sind beide sehr unabhängig voneinander. Für uns ist eine große persönliche Freiheit wichtig, wie sich auch immer unsere Beziehung gestaltet. Natürlich ist es für mich schwierig, weil Lucio eine faszinierende und bekannte Persönlichkeit ist. Ich bin distanzierter und diskreter; Medien gegenüber weniger offen; demzufolge weniger gefragt. Für ihn ist Öffentlichkeit wichtig, um seine Ziele zu verwirklichen. Wenn es wichtig ist, über eine Dokumentation im Fernsehen etwas für die Bewegung zu erreichen – und es dafür wichtig ist, daß auch ich gemeinsam mit ihm auftrete, entscheide ich das jedes Mal neu. Feminismus und Anarchismus sind jedoch am eigenen Beispiel gut zu vermitteln.

Was denken Sie über den französischen Präsidenten Francois Hollande?

Es war ein Erfolg, daß der Kandidat der Parti socialiste (PS) Hollande sich gegen Nicolas Sarkozy von der konservativen gaullistischen Union pour un mouvement populaire (UMP) durchsetzen konnte. Als Sarkozy 2012 die Präsidentschaftswahl verlor, wurde gefeiert. Aber letztlich ist er wie Jean-Luc Mélenchon, der die Parti de Gauche, anführt, von persönlichem Karrierestreben beherrscht. Sie alle sind Populisten, werden keine international weiterführende Projekte angehen. Das können nur Aktivisten an der Basis erreichen, keine Vertreter im Parlament.

Interview: Das Gespräch führte Gitta Düperthal

Über Anne Urtubias Geschichte ist im Buch »Lucio Urtubia – Baustelle Revolution« (Verlag Assoziation A) ein Kapitel veröffentlicht