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»Ihnen wird Wahrnehmung der Anwaltspflicht vorgeworfen«

Istanbul: Prozess gegen 20 Juristen wegen angeblicher Mitgliedschaft in terroristischer Organisation. Gespräch mit Nurgül Tosun
Interview: Eleonora Roldán Mendívil, junge Welt 18.9.18

Nurgül Tosun ist Rechtsanwältin in Bochum. Sie war Teil einer deutschen Delegation, die zur Beobachtung des Prozessauftaktes gegen 20 Anwältinnen und Anwälte am 10. September nach Istanbul reiste.

Am Montag, dem 10. September, hat der Prozess gegen 20 linke Anwältinnen und Anwälte in Istanbul begonnen. 17 von ihnen befanden sich bis kurz vor der Eröffnung seit über einem Jahr in Haft. Zusammen mit einer deutschen Delegation sind Sie zur Prozessbeobachtung angereist. Was wird Ihren Kolleginnen und Kollegen vorgeworfen?

Ihnen wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Dabei geht es in den meisten Fällen um die DHKP, die Revolutionäre Volksbefreiungspartei.

Wie lautet die Begründung?

Als Begründung werden Tätigkeiten vorgeworfen, die im Rahmen ihrer Berufsausübung als Anwälte teilweise sogar verpflichtend vorgeschrieben sind. Es gibt nationale und internationale Vorschriften bezüglich unseres Jobs. Dazu zählen auch die Havanna-Prinzipien der Vereinten Nationen von 1990. Die sehen unter anderem vor, dass Anwälte das Recht ihrer Mandanten wahrnehmen, sie zu verteidigen. Hierzu sagt Punkt 13 der Havanna-Prinzipien, dass es zu den Pflichten des Rechtsanwalts gegenüber seinen Mandanten gehört, diesen über die Funktionsweise des Rechtssystems aufzuklären, ihm in angemessener Weise Beistand zu leisten und seine Interessen zu schützen. Damit ist beispielsweise gemeint, dass er seinen Mandanten über sein Schweigerecht aufzuklären hat.

Allerdings wird den Kolleginnen und Kollegen in der Türkei genau dieses Verhalten jetzt vorgeworfen. Letztlich wird ihnen die Wahrnehmung der Anwaltspflicht vorgeworfen und als Beihilfehandlung ausgelegt.

Ein Staat muss laut den Havanna-Prinzipien sicherstellen, dass der Rechtsanwalt in der Lage ist, alle seine beruflichen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung wahrzunehmen. Zudem muss er in der Lage sein, zu reisen und sich mit seinen Mandanten frei zu beraten, sowohl im eigenen Land als auch anderenorts. Und er darf nicht Verfolgung oder Sanktionen wegen Handlungen erleiden, die mit anerkannten beruflichen Pflichten im Einklang stehen. Diese Regel ist durch die Verhaftung und Einleitung des Strafverfahrens offensichtlich verletzt worden.

Den Anwältinnen und Anwälten wird eine Art Komplizenschaft mit ihren Mandanten vorgeworfen. Wie wird dies begründet?

Ihnen wird vorgeworfen, dass sie in politischen Strafverfahren die Rechte von Opfern bzw. ihrer Angehörigen wahrnehmen. Damit ist Punkt 18 der Grundprinzipien verletzt, wonach der Rechtsanwalt nicht mit den Angelegenheiten seiner Mandanten identifiziert werden darf.

Da sind zum Beispiel die Opfer des Minenunglücks von Soma (dabei starben im Mai 2014 mehr als 300 Menschen, jW) oder die von der türkischen Polizei erschossenen Berkin Elvan und Dilek Dogan (starben 2014 beziehungsweise 2015 in Istanbul, jW). Auf Grund der Tatsache, dass die Kolleginnen und Kollegen die Vertretung der Opfer beziehungsweise ihrer Hinterbliebenen in diesen Verfahren übernommen haben – und damit verhinderten, dass die Verantwortlichen entweder gar nicht oder in Pseudoprozessen halbherzig zur Rechenschaft gezogen werden –, wurden sie selbst zur Zielscheibe der Ermittlungsbehörden.

Am vergangenen Freitag wurden alle inhaftierten Anwältinnen und Anwälte aus dem Gefängnis entlassen. Keine 24 Stunden später wurden jedoch für zwölf von ihnen erneut Haftbefehle ausgestellt. Auf welche Vorwürfe sich diese beziehen, ist bislang unklar. Bis jetzt sind fünf von ihnen wieder verhaftet. Bei all dem Hin und Her: Wie kann Unterstützung aus Deutschland für diese Juristinnen und Juristen aussehen?

Das Verfahren wird noch dauern. Die nächste Sitzung ist für den 19. und 20. Februar 2019 in Istanbul geplant. Der Prozess sollte durch aktive Teilnahme sowie Berichterstattung begleitet werden. Dieses widerrechtliche Verfahren muss als genau das bezeichnet werden, was es ist: nämlich eine Beschneidung der Rechte der Kolleginnen und Kollegen und ein Armutszeugnis für den türkischen Rechtsstaat, der angeblich noch besteht.