Die Notstandsgesetze vor 50 Jahren legalisierten eine autoritäre Transformation. Von Dirk Farke
Nicht nur der Krieg der USA gegen Vietnam, auch die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze trieben die akademische und arbeitende Jugend vor 50 Jahren auf die Straße. Auch die Gewerkschaften und Liberale befürchteten ein neues Ermächtigungsgesetz, das die bürgerlich parlamentarische Demokratie kastrieren würde, wie sie im Grundgesetz (GG) von 1949 fixiert ist.
Bereits in den 1950er Jahren, als unter der Regierung Adenauer der Antikommunismus zur Staatsdoktrin erhoben wurde, verabschiedete der Bundestag zahlreiche sogenannte Verfassungsergänzungen mit gravierenden Auswirkungen auf die sogenannten bürgerlichen Freiheiten: 1951 trat das 1. Strafrechtsänderungsgesetz in Kraft mit dem unter anderem der von den Alliierten außer Kraft gesetzte Hoch- und Landesverrat wieder in das Strafgesetzbuch eingeführt wurde. 1955 beschloss die Regierung die Remilitarisierung und, unter Wiedereinstellung von NS-Offizieren, den Aufbau der Bundeswehr. Ein Jahr später galt wieder die allgemeine Wehrpflicht. 1956 erließ das Bundesverfassungsgericht das KPD-Verbot. Zwei Jahre darauf stimmte die CDU/CSU-Mehrheit im Parlament für die Stationierung von Atomwaffen in der Bundesrepublik.
Flankiert wurde diese Restauration durch entsprechende Maßnahmen im Bereich der politischen Ökonomie: 1952 verabschiedete der Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz, das die Betriebsräte verpflichtete, »vertrauensvoll« mit den Arbeitgebern zusammenzuarbeiten. Da in der Bundesrepublik Arbeitskampf nicht vom Gesetzgeber geregelt werden soll, schuf das Bundesarbeitsgericht (BAG) mittels seiner Rechtsprechung faktisch ein »Arbeitskampfsystem«, das sich an der obrigkeitsstaatlichen Mentalität orientiert und eine Strategie der autoritären Pazifizierung verfolgt. 1955 erfand es mit dem Rechtsgrundsatz der »Sozialadequanz« im Streikrecht ein Primat der Volkswirtschaft vor dem Recht »individueller« Interessen. Bis heute dürfen Lohnabhängige in der Bundesrepublik im Gegensatz zu Frankreich und Italien, in deren Verfassungen es ein explizites und individuelles Streikrecht gibt, ihr Recht auf politökonomischen Widerstand nur im Rahmen des Korporatismus wahrnehmen.
Trotz dieser für autokratische Kräfte paradiesischen Großwetterlage dauerte es mehr als zehn Jahre, bis es den Konservativen gelang, mit den sogenannten Notstandsgesetzen – von den Demonstranten mit dem Kürzel »NS-Gesetze« versehen –, die bis dahin einschneidendste »Verfassungsergänzung« seit 1949 durchzusetzen. Und dies ausgerechnet im Jahr der Rebellion. Bis dahin waren alle Entwürfe immer am Widerstand der SPD gescheitert, die nunmehr allerdings, seit 1966, mit an der Regierung war. Eine Grundgesetzänderung setzt eine Zweidrittelmehrheit im Parlament voraus. Diese rückte mit der Konstituierung der ersten Großen Koalition in greifbare Nähe.
Dabei war das Grundgesetz auch bis dahin keinesfalls potenziellen und eingebildeten Gegnern der bürgerlich-parlamentarischen Grundordnung hilflos ausgeliefert. Das GG beinhaltete mehrere Notstandsvorbeugungs- und Notstandsbehebungsmittel, zum Beispiel ein mögliches Verbot von verfassungswidrigen Organisationen und Parteien, die Verwirkung von Grundrechten und Gesetzesnotstand. Aber bis 1968 vermied das Grundgesetz eine gefährliche Machtkonzentration in den Händen der Exekutive.
Die Notstandsgesetzgebung ermöglichte nunmehr, dass bei inneren Unruhen, Naturkatastrophen oder im Verteidigungsfall die bürgerlichen Abwehrrechte gegenüber dem Staat erheblich eingeschränkt oder ganz abgeschafft werden können, zum Beispiel das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis und die Freizügigkeit. Möglich wurden Dienstverpflichtungen für Männer und Frauen, ein Streikverbot, der Einsatz der Bundeswehr im Innern und die Übertragungen der Funktionen von Bundestag und Bundesrat auf einen kleinen, intimen Ausschuss sowie eine generelle Stärkung der Exekutive auf Kosten des Parlaments.
Trotz der seit 1966 sukzessive zunehmenden Proteste und der wachsenden Zahl von Demonstrationen, Universitätsbesetzungen und Vorlesungsstreiks vor allem im Frühjahr 1968 verabschiedete der Bundestag am 30. Mai die Notstandsgesetze nach dritter Lesung. Quasi bis zuletzt hatten die Außerparlamentarische Opposition (APO), Kirchen und Gewerkschaften sowie prominente Persönlichkeiten wie Heinrich Böll versucht, die Aushöhlung der bürgerlichen Verfassung zu verhindern. Erstmals seit 1945 hatte sich im Westen Deutschland eine breite Gegenöffentlichkeit formiert. Der Opposition zufolge handelte es sich bei den »NS-Gesetzen« um einen schleichenden Staatsstreich mit legaler Frisierung, kam die 17. »Verfassungsergänzung« einem Putsch gleich. Der Publizist Hans Magnus Enzensberger spottete mit »Bundeskanzler Friedrich Wilhelm IV.«: »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten.« Sogar »Spiegel«-Herausgeber Rudolf Augstein stellte die Frage: »Warum findet kein Generalstreik statt bei uns?« Nicht nur der unbequeme Rechtsanwalt Heinrich Hannover war der Ansicht, gegen die »NS-Gesetze« müsste vor allem die ökonomisch abhängige Bevölkerungsmehrheit rebellieren. Carl Schmitt hingegen, Kronjurist des »Dritten Reiches« und ein Vordenker eben jenes Ausnahmezustandes, dem die Notstandsgesetze avisierten, frohlockte in einem Brief an seinen »Stahlgewitter«-Freund Ernst Jünger: »Die radikale Linke ist drauf und dran einen Umschwung zu provozieren.« Keine zehn Jahre später wurde es ernst.
Nach der Entführung des früheren SS-Untersturmführers und damaligen Vorsitzenden des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hanns Martin Schleyer, im Herbst 1977 wurde in kleinen und großen Krisenstäben offen darüber diskutiert, ob man nicht die politischen Gefangenen, zum Beispiel RAF-Angehörige, als Geiseln nehmen und der Reihe nach an die Wand stellen und exekutieren sollte. Franz Josef Strauß äußerte dies sogar unverblümt gegenüber den Medien.
Schon vor der 17. »Verfassungsergänzung« hatte es ähnliche Überlegungen gegeben. So titelte die »Bild« im Februar 1962 während der Hamburger Flutkatastrophe unter Bezugnahme auf angebliche Informationen aus der Innenbehörde unter Helmut Schmidt: »Auf Plünderer wird geschossen«. Auch wenn sich diese Meldung später als Zeitungsente herausstellte, so war der tatsächliche Einsatz der Bundeswehr in Hamburg nach damaliger Rechtslage verfassungswidrig. Noch im Jahr 2009 rechtfertigte Schmidt in der »Zeit« die Zustimmung der SPD zu den Notstandsgesetzen 1968 mit dem Bekenntnis: »Ich selbst hatte 1962 während der norddeutschen Flutkatastrophe einen Notstand erlebt, in dem man aus mitmenschlicher Hilfspflicht gezwungen war, sich mangels gesetzlicher Notstandsregeln über geltende Gesetze und über das Grundgesetz hinwegzusetzen.«
Nun mag sich mancher fragen: Wenn es so einfach ist, die Verfassung in einer bestimmten Situation außer Kraft zu setzen, wozu bedarf es dann noch der Notstandsgesetze? In einer noch heute lesenswerten Kritik legte der Staatsrechtler und Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth Mitte der 1960er Jahre dar, dass es der privilegierten Oberschicht, wenn sie es für nötig oder auch nur für aussichtsreich hält, die Rechtsordnung umzugestalten oder zu vernichten, möglich ist, dies zu tun, ohne gegen die Verfassung selbst zu verstoßen – ja sogar unter Berufung auf diese. Das System kann auf scheinbar legale Art in ein ganz anderes, auch konträres umgemodelt werden. Dies lässt sich gut am Beispiel der Weimarer Republik studieren. Die Bürger erkannten mehrheitlich nicht die Tragweite der einzelnen Schritte gesetzlicher und somit gesellschaftlicher Transformation und geboten dem daher nicht rechtzeitig Einhalt.
Bei dem zwei Wochen vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze organisierten Großen Sternmarsch auf Bonn – die Veranstalter sprachen von 60 000 Teilnehmern – marschierten ehemalige KZ-Häftlinge in ihren einstigen Drillichen voran. Nach Aussagen von Augen- und Ohrenzeugen wurden sie von Passanten und Beobachtern aus Fenstern und von Balkonen wüst beschimpft: »Die hätte man damals als erste vergasen sollen.« Auch diesen (Un)Geist gab es noch 1968. Jenen wie die Autoritätsgläubigkeit vieler Westdeutscher damals konterkarierten die Demonstranten wiederum mit Slogans wie »Schnauze halten und malochen!«
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