solidarität

Solidarität mit Nicole und Martin

Konkret wird ihnen zur Last gelegt, Drohbriefe an zahlreiche Politiker:innen geschickt zu haben, da sie „nichts gegen Ausbeutung, Faschismus, Gentrifizierung, Ignoranz gegenüber Klimaprobleme“ unternehmen. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer und Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann erhielten Post. Versuchte feurige Attacken sollen vor der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg und vor der Villa des Fleischfabrikanten Clemens Tönnies verübt worden sein. Ebenso erhielten mehrere Betriebe des Personennahverkehrs Drohungen. Die Verfolgung von „Schwarzfahrern“ solle abgeschafft werden. Außerdem erhielt der Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang Drohungen samt 9mm Gaspatrone.

Tatsächlich waren Martin und Nicole bis zu ihrer Verhaftung in vielen sozialen Kämpfen aktiv. So beteiligten sie sich an den Protesten gegen die Räumung des querfeministischen Hausprojekts Liebigstaße 34 am 9. Oktober 2020 in Berlin-Friedrichshain.

Darüber schrieb Nicole einen Text, der erstmals veröffentlicht wird:

Liebig bleibt! Am Freitag, den 9. Oktober war die Räumung der Liebigstraße 34 in Berlin anberaumt. Im Vorfeld wurde bereits zu massiven Gegenprotesten aufgerufen – hier ging es nicht nur die Räumung einer Hausbesetzung, hier ging es um die bewusste Zerstörung kultureller und sozialer Freiräume für Menschen. Schon am Vorabend war an der Kreuzug Rigaer/Proskauer Straße eine angemeldete Kundgebung, von einem Lauti dröhnte stimmungsmachende Musik und immer wieder Parolen, unter anderem „Liebig bleibt!“ Nach dem Ende der Kundgebung ging es zu der Kreuzung Liebig/Rigaer Straße, auch bekannt als der Dorfplatz. Die komplette Kreuzung war bereits abgesperrt und die Bullen bewachten eifrig die vier Zufahrten. Bis in die frühen Morgenstunden war es dort recht friedlich. Ab 3:00 Uhr waren Kundgebungen in Rigaer und Liebig angemeldet. Nach und nach füllte sich die Rigaer Straße, in der mein Verlobter und ich uns befanden. Die Menschen bauten sich in mehreren Reihen vor den Absperrungen und den Bullen auf und riefen Parolen. Immer wieder regnete es – weinte der Himmel ob der bevorstehenden Räumung des anarchistisch-feministischen Projektes in der Liebigstraße? Von den Protestierenden kamen immer wieder Sprechchöre und Parolen, aufgrund der Situation durchaus in einem aggressiveren Tonfall. Das war jedoch meiner Beobachtung nach, wirklich das einzig Aggressive, dass von den Menschen dort ausging. Rechtfertigt dies, dass die Bullen alle paar Minuten in die Menge reinpreschten, schoben und drückten und sich dann wieder zurückzogen? Ich für meinen Teil habe keine „gewaltbereiten Linksextremisten“ gesehen, dafür aber schlecht gelaunte Uniformiere, die immer wieder einzuschüchtern versuchten. Dennoch war dies erst der Anfang. Die Stunden rückten vor und irgendwann begannen wir aus Zäunen, die um eine Baustelle gestellt waren, eine Barrikade zu bauen. Gewalt? Aggressivität? Nein, Notwendigkeit und Selbstschutz. Die Barrikade sollte lediglich verhindern, dass wir ungebetenen Besuch von den Bullen bekommen, von denen wir schon mitbekommen hatten, dass sie es waren, die auf Krawall aus waren. Nach dem Barrikadenbau versuchten wir die Lage an der Kreuzung Proskauer/Rigaer zu erkunden, da dort jedoch nichts Nennenswertes war, sich dafür aber ein Trupp Bullen in die Rigaer aufgemacht hatten, folgten wir denen unauffällig. Die Bullen mussten unsere Barrikade überqueren, das trug wohl nicht so ganz zu ihrer Stimmung bei. Sie sahen uns, wie wir auf dem Gehweg neben ihnen auch in die Rigaer hineingingen und plötzlich stürmten sie auf uns los. Einer wollte sich auf meinen Verlobten stürzten, was der jedoch nicht mitbekam, nichts ahnend trat er einen Schritt zur Seite, was zur Folge hatte, dass der Bulle erst eine Punktlandung ins Gebüsch machte. Fand er und seine Kollegen auch nicht so witzig, so versuchten sie uns, die schon eine Kehrtwende gemacht hatten und zurück zur Proskauer laufen wollten, weiter zu drängen. Einer versuchte mich ins Gebüsch zu schmeißen, jedoch erfolglos. Sie ließen dann wieder von uns ab und wir kehrten wieder in die Rigaer zurück, wo sich das Polizeiaufgebot massivst verstärkt hatte. Da ich mit meinem Rücken Probleme hatte, setzte ich mich auf einen Stuhl einer Sperrmüllansammlung. Hier befand ich mich weitestgehend sicher, sah man von den Wespen ab, die mich umschwirrten, weil neben mir auf dem Tisch Lebensmittel lagerten. Doch von hier aus konnte ich beobachten, wie sich die Situation in der Rigaer unglaublich verschärft hatte. Mittlerweile lief die Räumung der Liebig bereits und die Polizei in der Rigaer ging nun unverhohlen auf die Demonstrierenden los. Sie drängelten, schubsten, drückten – und nahmen fest. Es war einfach grauenhaft anzusehen, wie immer wieder eine Gruppe Bullen an mir vorbeiging, in der Mitte trugen sie einen Menschen, den sie gefangengenommen hatten. Diese Menschen durften nicht mehr selbst gehen, sie wurden jeglicher, minimaler Bewegungsfreiheit und damit auch Würde beraubt. Ein Bild werde ich nie vergessen: Eine Gruppe Bullen und vorne hing nur ein Haarschopf eines Gefangenen heraus. Ich frage mich, was für Dinge diese Menschen getan haben sollen, um so eine entwürdigende Behandlung zu verdienen? Parolen rufen? Für die Freiheit mit anderen auf der Straße zu stehen und sich von Bullen schubsen und drücken lassen, vielleicht deshalb ein wenig emotional zu werden (eine menschliche Reaktion, oh wie schlimm) und dann an Händen und Füßen wie ein Paket weggetragen zu werden? Für uns war es zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr möglich, die Rigaer zu verlassen, wir wurden von den Bullen von einer Bullenkette zur anderen gedrängt. Ein Bulle stand neben mir und verkündete stolz in sein Funkgerät, dass sie „die Lage stabilisiert“ hätten. Ja, es ist eine tolle Leistung, wenn man mit Einschüchterung, Gewalt und Gefangennahme „die Lage stabilisieren“ kann. Kannst echt stolz sein – nicht! Irgendwie kamen wir, durch eine Lücke in der Kette, dann doch aus der Rigaer und an der Kreuzung Proskauer ließ man uns sogar freiwillig durch. Nach einer kurzen Kaffeepause sahen wir, dass sich das Gerangel nun komplett auf die Kreuzung Proskauer verlagert hatte und wir gingen hin, um Solidarität zu zeigen. Wieder wurden wir von einer Bullenkette zur anderen gedrängt, man achtete nicht mal darauf, dass man uns in ein Gebüsch drückte, nur weil man uns los haben wollte. Dann trieb man uns wie Vieh vor sich hier, zur nächsten Bullenkette, die sich an einem angemeldeten Kundgebungsort befand. Doch dort durften wir nicht verweilen, sondern man trieb uns einfach weiter. Mit dem Recht und Gesetz nehmen es die Bullen wirklich überhaupt nicht genau, aber es sind ja die „bösen, gewaltbereiten Linksextremisten“, die an allem schuld sind – vor allem wenn zu dem Ort einer angemeldeten Kundgebung gehen wollen. Und von Umweltschutz halten sie auch nichts. Es wurde eine Barrikade gebaut, die Bullen kamen an und räumten sie weg. Warfen dabei eine Europalette und einen Wäscheständer rücksichtslos in eine von Anwohnern liebevoll hergerichtete Pflanzenwanne am Straßenrand. Bin ich jetzt „gewaltbereit“, wenn ich die Sachen da wieder raushole und sie ihrer ursprünglichen Bestimmung, der Barrikade auf der Straße zuführe? Aus der Sicht der Bullen sicherlich, aber darauf geben wir ja nichts, denn wir wissen, wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Die Gewalt geht tatsächlich von den Bullen aus, sie sind es die provozieren, einschüchtern und Menschen durch die Gegend drücken. Alles was dann folgen mag, ist lediglich eine Reaktion auf die Aktionen der Bullen. Was hat das nun mit mir gemacht? Ich habe erstmal den Beweis, dass die Linksextremisten nicht einfach so „gewaltbereit“ sind, sondern sie es maximal notwendigerweise sind, wenn sie es als sinnvoll erachten. Barrikaden dienen zum Schutz und haben daher nichts mit Gewalt zu tun. Gewalt zu sehen und zu erfahren, ist grauenhaft und hat Auswirkungen auf den Menschen – zwei Tage später kamen im Fernsehen Bilder von den Auseinandersetzungen in Belarus. Ich musste den Raum verlassen, zu frisch waren die Bilder der Liebig-Räumung noch. Dennoch, das ist kein Grund für mich aufzugeben, ganz im Gegenteil. Ich werde weiterhin auf die Straße gehen, mich weiterhin den Bullen stellen, denn ich möchte die Grundlage für eine Welt legen, in der die Bullen nicht mehr notwendig sind und damit auch nie wieder Menschen ihrer Würde und Bewegungsfreiheit beraubt werden, wenn sie festgenommen werden. Weil sie nicht mehr festgenommen werden müssen! Nicole Grahlow

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