rawa

Stim­men der afghanis­chen Linken I „Wir sind ganz oben auf der Abschus­sliste“

Ein Inter­view mit der ältesten Frauenor­gan­i­sa­tion in Afghanistan

Die Rev­o­lu­tion­ary Asso­ci­a­tion of the Women of Afghanistan (RAWA) ist die älteste linke Frauenor­gan­i­sa­tion in Afghanistan. Sie arbeit­ete sowohl im Wider­stand gegen die Sowjet-gestützten DVPA Regierun­gen der 70er und 80er Jahre, als auch unter den Bürg­erkriegswirren der 90er, der Taliban-Herrschaft ab 1996 und nun seit 14 Jahren unter der west­lichen Besatzung. Grund genug für Jan Ron­ahi sich anlässlich der kür­zlichen Ein­nahme von Kun­duz durch die Tal­iban mit einer Aktivistin von RAWA zu unterhalten.

 

Jan [LCM]: Hallo Heela, kannst du dich und deine Organ­i­sa­tion kurz vorstellen? Wie sieht eure Arbeit konkret aus, in welchen Teilen von Afghanistan seid ihr aktiv und mit welchen Prob­le­men seid ihr im All­tag konfrontiert?

RAWA wurde 1977 in Kabul von Meena Kesh­war Kar­mal gegrün­det. Die Organ­i­sa­tion set­zte sich vor allem für die Rechte von Frauen, demokratis­che Rechte und Säku­lar­is­mus ein, war jedoch auch von maois­tis­chen Ideen bee­in­flusst. Kar­mal wurde, wie ihr Mann Faiz Ahmad, 1987 ermordet. Unklar ist bis heute, ob der dama­lige Afghanis­che Geheim­di­enst oder der islamistis­che War­lord Gul­bud­din Hek­mat­yar hin­ter dem Anschlag steckte.

Heela [RAWA]: Mein Name ist Heela Faryal, allerd­ings ist das nicht mein richtiger Name. Alle unsere Mit­glieder nutzen Tarn­na­men, um nicht Opfer von Ver­fol­gung zu wer­den. Ich gehöre der Organ­i­sa­tion RAWA – Rev­o­lu­tion­ary Asso­ci­a­tion of the Women of Afghanistan (جمعیت انقلابی زنان افغانستان) an. RAWA ist die älteste Organ­i­sa­tion in Afghanistan, die sich für die Rechte von Frauen, soziale Rechte und Frei­heit­srechte ein­setzt und sowohl gegen die Fun­da­men­tal­is­ten in Afghanistan, als auch ihre inter­na­tionalen Unter­stützer auftritt. Wir arbeiten in nahezu allen Teilen von Afghanistan, unsere Arbeit findet aber unter enor­men Schwierigkeiten statt: RAWA ist der am meis­ten gehas­ste Name in Regierungskreisen, die dominiert wer­den von Fun­da­men­tal­is­ten und diversen War­lords, die sich alle­samt bluti­gen Kriegsver­brechen schuldig gemacht haben, z.B. Abdul­lah Abdul­lah, der heute eine wichtige Rolle in der afghanis­chen Poli­tik spielt. Wir sind ganz oben auf der Abschus­sliste und müssen unter den Bedin­gun­gen eines Lan­des arbeiten, das von den Taliban-Fundamentalisten auf der einen Seite, und den Dji­hadis in der Regierung – so haben sich die War­lords selbst getauft – auf der anderen Seite im Würge­griff gehal­ten wird. Es ist für uns daher sehr gefährlich, in den meis­ten Teilen von Afghanistan zu arbeiten. Dass wir es den­noch kön­nen, liegt an der Tat­sache, dass wir Kon­takte in die lokale Bevölkerung haben, die unsere Aktiv­itäten deckt und uns unter der Hand unter­stützt. Unsere Arbeit umfasst dabei sowohl unmit­tel­bare Hilfe in Not­si­t­u­a­tio­nen, als auch Beratungs-, Aufk­lärungs– und Empowerment-Arbeit für Frauen. Es gibt allerd­ings auch Gebi­ete, in denen wir nicht arbeiten kön­nen, da sie unter der Herrschaft beson­ders bru­taler War­lords ste­hen, die ihre Män­ner wahl­los plün­dern, verge­walti­gen und mor­den lassen. Wir doku­men­tieren auch diese Ver­brechen, sind daher der Ver­fol­gung durch diese War­lords aus­ge­setzt und müssen mit Tarnor­gan­i­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen arbeiten. Das bet­rifft allerd­ings nicht nur uns, son­dern nahezu alle fortschrit­tlichen und demokratis­chen Kräfte in Afghanistan sind dieser Bedro­hung aus­ge­setzt – ins­beson­dere Mit­glieder linker Parteien wie der „Afghanis­chen Sol­i­dar­itätspartei“ (حزب همبستگی افغانستان‎‎).

Jan [LCM]: In deinen Aus­führun­gen hast du schon das Thema Islamis­mus ange­sprochen. Nun ist es ja so, dass seit Peters­berg zahlre­iche der islamistis­chen War­lords wieder zu Amt und Wür­den kamen – d.h. sowohl am Staat­sap­pa­rat, als auch an der Regierung beteiligt sind. Wie kannst du dir erk­lären, dass islamistis­che Grup­pen, die in den 70er Jahren noch kein­er­lei Rel­e­vanz in Afghanistan hat­ten, so ein­flussre­ich wer­den kon­nten, dass sie nicht nur his­torisch ehe­ma­lige sozial­is­tis­che Regierung stürzen kon­nten, son­dern auch heute trotz der von ihnen began­genen Kriegsver­brechen so einen großen Ein­fluss in der afghanis­chen Poli­tik haben?
Eine Auswahl der ein­flussre­ich­sten Islamistis­chen War­lords in Afghanistan. Von o.l. Abdul Raschid Dos­tum, Mohammed Omar, Abdurrab Rasul Sayyaf, Gul­bud­din Hek­mat­yar, Ahmed Shah Mas­soud, Ismail Khan, Moham­mad Mohaqiq, Gul Agha Sherzai. Einige von ihnen sind inzwis­chen tot oder exiliert, andere unter der NATO-Besatzung zu Amt und Wür­den gekommen.

Heela [RAWA]: Zuerst möchte ich her­aus­pointieren, dass die Regierung vor den Dji­hadis, d.h. die Regierun­gen in den 70er und 80er Jahren, keine sozial­is­tis­chen Regierun­gen waren. Es han­delt sich hier um ein Missver­ständ­nis, das außer­halb Afghanistans sehr üblich und ver­bre­itet ist. Tat­säch­lich han­delte es sich bei diesen soge­nan­nten „sozial­is­tis­chen Regierun­gen“ lediglich um Mar­i­onet­ten­regime der UDSSR. Wie wir alle wis­sen hatte die UDSSR in den 70er und 80er Jahren ihre sozial­is­tis­che Essenz bere­its ver­loren, dementsprechend hat­ten von ihr gestützte Regime sel­ten etwas mit Sozial­is­mus oder Kom­mu­nis­mus zu tun. Wir kön­nen nicht aufhören in Bezug zu diesem his­torischen Regime zu kon­sta­tieren, dass der heftig­ste Schlag gegen alle fortschrit­tlichen Kräfte – Demokraten, Intellek­tuelle und vor allem Linke – in Afghanistan von diesen Sowjet-gestützten Regierun­gen in den 70ern und 80ern erfolgt ist; das haben so umfassend weder die Dji­hadis, noch die Tal­iban geschafft. Unter der Herrschaft dieser soge­nan­nten „Sozial­is­ten“ sind tausende von Intellek­tuellen, poli­tis­chen Aktivis­ten – die meis­ten von ihnen Linke – ermordet wor­den. Sie haben das Land im Prinzip bere­its lange vor den Dji­hadis in die Steinzeit zurück gewirtschaftet. Ich kann deshalb nicht müde wer­den zu wieder­holen: Das waren keine Sozial­is­ten, das waren ein­fach Mörder – ein Regime das so funk­tion­iert hat, wie Mar­i­onet­ten­regime in der ganzen Welt immer funk­tion­iert haben. Um zu deiner Aus­gangs­frage zu kom­men: Ich will mich zu dieser Frage kurz fassen, da ins­beson­dere zu diesem Punkt inzwis­chen unglaublich viel gesagt, doku­men­tiert und veröf­fentlicht wurde. Prinzip­iell kon­nten die Islamis­ten in Afghanistan lediglich deshalb so ein­flussre­ich wer­den, weil sie von ihren inter­na­tionalen Unter­stützern sys­tem­a­tisch aufge­baut, finanziert und bewaffnet wur­den. Diese Unter­stützung kam im Wesentlichen von den USA, aber auch aus Saudi-Arabien und Pak­istan. Das ist eine Kon­stante, die sich seit dem Kalten Krieg bis heute durchzieht. Ihre bloße Exis­tenz lässt sich auf diesen Punkt herun­ter­brechen; sie haben keine Basis und Unter­stützung in der Bevölkerung und kön­nen sich lediglich mit Hilfe ihrer inter­na­tionalen Alli­ierten an der Macht hal­ten. So stützt sich ein rel­e­van­ter Teil dieser Grup­pen auf die Unter­stützung durch das US-Militär, wen­ngle­ich es auch Grup­pen gibt, die der Kol­lab­o­ra­tion mit der NATO-Besatzung ablehnend gegenüber­ste­hen. Diese sim­ple Wahrheit wurde in zahlre­ichen Veröf­fentlichun­gen doku­men­tiert, u.a. auch das umfassende Engage­ment des pak­istanis­chen Geheim­di­en­stes ISI bei der Aus­rüs­tung, Aus­bil­dung und Finanzierung dieser Gruppen.

Jan [LCM]: Lass uns über die Tal­iban ins Gespräch kom­men. Bei den Tal­iban han­delt es sich ja um eine aus den paschtunis­chen Gebi­eten der afghanisch-pakistanischen Gren­zre­gion stam­mende Miliz, die im Zuge des bluti­gen Bürg­erkriegs in den 90er Jahren zwis­chen den islamistis­chen War­lords an Macht gewann, und dann schließlich 1996 in einem blitzar­ti­gen Feldzug die Macht über­nahm. Han­delt es sich auch bei ihnen um eine Organ­i­sa­tion, die von inter­na­tionalen Unter­stützern getra­gen wird, oder genießen die Tal­iban eine nen­nenswerte Unter­stützung in der Bevölkerung? Eure Organ­i­sa­tion war ja auch unter der Tal­iban Herrschaft ab 1996 aktiv. Wie war die Arbeit unter diesen Bedingungen?

Heela [RAWA]: Ich sollte zu dem voran Gesagten hinzufü­gen, dass die ver­schiede­nen islamistis­chen Milizen immer von ver­schiede­nen inter­na­tionalen Geldge­bern Unter­stützung erhal­ten haben. Bei den Tal­iban im Speziellen han­delt es sich aber um ein Werkzeug des pak­istanis­chen Regimes und dessen Geheim­di­enst ISI. Nichts­destotrotz sind auch hier die USA fed­er­führend beteiligt, ins­beson­dere in der Finanzierung der Miliz. Was ich damit sagen will: Die Tal­iban haben kein­er­lei Unter­stützung in der Bevölkerung; es gab nie einen großen Rück­halt für irgen­deine dieser islamistis­chen Kräfte in der Bevölkerung. Sie wur­den 1996 gezielt an die Macht gebracht. Um das zu verdeut­lichen, muss einem bewusst wer­den, was da zwis­chen 1996 und 2001 passiert ist: Nie hat ein Land einen so mas­siven gesellschaftlichen Rückschlag erlit­ten wie Afghanistan unter den Tal­iban. Ihre Ver­brechen sind nach wie vor ungeah­n­det. Unsere Aktiv­itäten unter den Tal­iban umfasste auch damals Bil­dungsar­beit für Frauen, die natür­lich um einiges erschw­ert war, da Frauen nur sel­ten ihre Häuser ver­lassen durften und wir dementsprechend immer Ausre­den für Frauen­ver­samm­lun­gen erfinden mussten. Das war ins­beson­dere auf­grund dessen, dass die Schulen geschlossen wur­den, und Frauen explizit von jeder Bil­dung aus­geschlossen waren, eine wichtige Arbeit. Darüber hin­aus war RAWA die einzige Organ­i­sa­tion, die die Ver­brechen des Tal­iban Regimes, wie etwa das Abschla­gen von Hän­den oder die Exeku­tion von Frauen, mit Film­ma­te­r­ial doku­men­tiert hatte – da Kam­eras ver­boten waren und der Besitz einer Kam­era mit sofor­tiger Exeku­tion bestraft wurde, ein beson­ders schwieriges Unter­fan­gen. Es ist ein trau­riger Fakt, dass dieses Mate­r­ial bis 2001 nahezu nie­man­den interessierte.
Jan [LCM]: 2001 bilde­ten die USA – ange­blich als Reak­tion auf die Anschläge des 11.September – eine Kriegskoali­tion, stürzten das Taliban-Regime und beset­zten Afghanistan. Wie verän­derte die Aus­gangssi­t­u­a­tion eurer Arbeit? Wie wird die Besatzung durch die Bevölkerung erlebt und bewertet?
Die Lage von Frauen in Afghanistan ist nach wie vor von Gewalt geprägt: Das Bild zeigt den Mord der 27-jahre alten Farkhunda Malikzada von einem Mob auf offener Straße, nach­dem diese die Autorität eines Geistlichen in Frage gestellt hatte.
Heela [RAWA]: Eigentlich hat sich die Sit­u­a­tion – ins­beson­dere auch für die Arbeit von RAWA – ver­schlim­mert. Zwar litt die afghanis­che Bevölkerung furcht­bar unter einem 40 Jahre andauern­den Kriegszu­s­tand, der Herrschaft der Dji­hadis und der Tal­iban, jedoch befand sich das Land nie unter der Besatzung aus­ländis­cher Mächte. Aus der neuen Sit­u­a­tion ergibt sich, dass wir auf der einen Seite von den fun­da­men­tal­is­tis­chen War­lords im Staat­sap­pa­rat, auf der anderen Seite von den Tal­iban unter Druck gesetzt wer­den. In den 14 Jahren der NATO-Besatzung hat die afghanis­che Bevölkerung sehr gelit­ten. Unter anderem hat die US-Führung sicher gestellt, dass die krim­inell­sten und blutrün­stig­sten Ele­mente der afghanis­chen Gesellschaft wieder an die Macht gekom­men sind. Die Dji­hadis im neuen afghanis­chen Staat sind weit schlim­mere Fun­da­men­tal­is­ten, als die Tal­iban; sie haben eine noch viel län­gere und inten­si­vere Geschichte des Mas­sak­ers. Aus der Herrschaft der War­lords ergeben sich dann auch die gegen­wär­ti­gen Prob­leme Afghanistans: Afghanistan ist einer der weltweit größten Dro­gen­pro­duzen­ten. Die Kor­rup­tion grassiert, was man unter anderem daran sieht, dass Mil­liar­den von Dol­lar in den Wieder­auf­bau investiert wur­den, aber die Infra­struk­tur nach wie vor weitest­ge­hend zer­stört ist. Die Gewalt gegen die afghanis­chen Frauen ist so hoch wie nie; deren All­tag ist geprägt von Ehren­mord, Mis­shand­lung, Ent­führung und häus­licher Gewalt. Das ganze Gerede von der Befreiung der Frau und einen ange­blichen Fehlschlag der Durch­set­zung von Frauen­rechten übergeht, dass die Besatzung selbst die misog­y­nis­tis­chsten Teile der afghanis­chen Gesellschaft inthro­nisiert hat.

Jan [LCM]: Span­nen wir den Bogen zur aktuellen Sit­u­a­tion. Vor weni­gen Wochen kon­nten die Tal­iban die nordafghanis­che Stadt Kun­duz in ihre Gewalt brin­gen. Nach langer Zeit war Afghanistan inter­na­tional wieder ein Thema. Die Afghanis­che Armee war sichtlich über­fordert mit der Sit­u­a­tion – es dauerte mehrere Wochen bis die afghanis­che Armee ver­melden kon­nte, dass die Tal­iban ver­trieben seien. Wie erk­lärst du dir, dass die Tal­iban zu so einer Stärke kom­men und mit schw­eren Waf­fen bewaffnet eine der größten afghanis­chen Städte unter ihre Kon­trolle brin­gen konnten?
Ein klares Kriegsver­brechen: Die US-Army zer­bombt das Region­alkranken­haus in Kun­duz. Das Kranken­haus wurde von der renomierten NGO „Ärzte ohne Gren­zen“ betrieben.
Heela [RAWA]: Man kann dazu zunächst anmerken, dass Kun­duz alleine deshalb in die inter­na­tionale Presse kam, weil im Zuge der Rücker­oberung der Stadt das regionale Kranken­haus der renom­mierten NGO „Ärzte ohne Gren­zen“ durch die US-Armee bom­bardiert wurde. Auf­grund solcher Vor­fälle und der Tat­sache, dass immer wieder über die let­zten 14 Jahre Bomben fie­len, lei­den hier viele Men­schen unter kon­stan­ter Angst und psy­chis­chen Prob­le­men. Zu deiner Frage: Wie ist es möglich, dass sich solche Ansamm­lun­gen an Män­nern und Waf­fen vor der Nase der Besatzungsmächte vol­lziehen kön­nen, wie kommt diese Gruppe zu so vie­len Waf­fen? Wie kann es sein, dass sie heute so stark wie niemals zuvor sind und keiner wirk­lich fähig war, sie zu stop­pen? Der Grund ist ein­fach: Diese Grup­pen wer­den von inter­na­tionalen Geldge­bern finanziert – ins­beson­dere durch die US-Dienste. Sicher haben auch andere Län­der ihren Anteil an der Plün­derung des Lan­des, aber: Nichts in Afghanistan geschieht ohne das Wis­sen der US-Dienste und Admin­is­tra­tion. Die US-Administration stellt sicher, dass ein kon­stan­ter Kon­flikt im Land existiert zwis­chen den ver­schiede­nen islamistis­chen Grup­pen, indem es sie unab­hängig voneinan­der finanziert und bewaffnet, um die Präsenz ihrer Trup­pen in Afghanistan zu legit­imieren. Das ist exakt das, was nun im Fall von Kun­duz passiert ist, als der Kongress die Weit­er­führung der mil­itärischen Besatzung beschlossen hat. Die Tat­sache, dass eine der wichtig­sten Städte Afghanistans ange­grif­fen wurde, gibt der US-Administration eine per­fekte Recht­fer­ti­gung für die weit­ere Präsenz ihrer Trup­pen. Es ist ein tak­tis­ches Spiel. Wenn die USA den Kampf gegen die Tal­iban wirk­lich ernst meinen wür­den, dann wür­den sie mit ihrem gesamten über­lege­nen mil­itärischen Poten­tial die Gruppe von heute auf mor­gen zer­schla­gen. Diese über­legene Mil­itär­ma­cht behauptet, sie kön­nte gegen eine mit­te­lal­ter­lich anmu­tende Gruppe wie den Tal­iban nicht beste­hen? Das macht doch keinen Sinn! Und da dür­fen wir noch nicht mal zu den inof­fiziellen Berichten kom­men, die klar offen legen, dass es Absprachen zwis­chen den höheren Kom­mandieren­den der afghanis­chen Polizei und des wieder aufge­bauten Mil­itärs und den Tal­iban gibt, was diesen erlaubt, weitest­ge­hend ungestört zu agieren.

Jan [LCM]: Um zur wichtig­sten und let­zten Frage zu kom­men: Du mein­test, das Land befindet sich im Würge­griff zwis­chen den vom Westen unter­stützten War­lords im Staat­sap­pa­rat, den Tal­iban und den west­lichen Besatzungstrup­pen. Welche Per­spek­tive gibt es in diesem Szenario für eine fortschrit­tliche Bewe­gung in Afghanistan?
Heela [RAWA]: Es gibt weder eine diplo­ma­tis­che, noch eine mil­itärische Lösung für die derzeit­ige Sit­u­a­tion, da die USA und die anderen Besatzungsmächte die Sit­u­a­tion genau so wollen, wie sie ist. Wenn die USA das mil­itärische Poten­tial der Tal­iban wirk­lich erledi­gen wollen wür­den, wür­den sie das in einem Monat schaf­fen – mit keinen Über­resten mit denen die Tal­iban noch arbeiten kön­nten. Eine diplo­ma­tis­che Lösung zwis­chen Tal­iban und der Besatzung würde bedeuten, dass die Tal­iban durch Friedens­ge­spräche an der Macht beteiligt wer­den. D.h. man bringt diese Schlächter an die Macht, und ver­hin­dert damit nicht nur, dass sie für ihre Kriegsver­brechen ver­folgt wer­den, son­dern kreiert auch eine poli­tis­che Sit­u­a­tion, dass sie inter­na­tional anerkannt wer­den kön­nen. Das ist keine Lösung, son­dern ein­fach eine Stärkung des US-Marionettenregimes, also keine Lösung für das afghanis­che Volk. Die Tal­iban und die Dji­hadis müssen mil­itärisch ver­nichtet wer­den. Aber das kann nicht durch die USA erre­icht wer­den. Die USA selbst sind der größte Unter­stützer dieser Grup­pen – beson­ders in Afghanistan, aber auch in anderen Län­dern. Mit dieser bluti­gen Geschichte sind sie nicht diejeni­gen, die die moralis­che Autorität haben, das zu tun. Schauen wir in andere Län­der: Welche Grup­pen haben sie im Irak und in Syrien finanziert und aufge­baut? Der IS ist ein direk­tes Pro­dukt der US-Außenpolitik. Natür­lich ist ihnen diese Gruppe außer Kon­trolle ger­aten, aber es gibt mehr als genug Beweise, dass die USA in die finanzielle und mil­itärische Unter­stützung dieser Gruppe involviert waren. Man kön­nte diese blutige Geschichte fort­set­zen mit all den Erfahrun­gen von Län­dern in Lateinamerika usw., aber das würde zu weit führen. Verän­derung kann nicht von einer exter­nen Kraft kom­men, egal von welchem der west­lichen Län­der, und schon gar nicht durch eine mil­itärische Besatzung. Die Geschichte zeigt, dass das unmöglich ist. Und die Geschichte der ver­gan­genen 14 Jahre ist Beweis genug, dass in keinem Land, das unter mil­itärischer Besatzung stand, Frieden, Demokratie, Frei­heit und Wohl­stand erblühen kann. Wenn nur irgen­deine Verän­derung stat­tfinden soll, muss sie aus dem afghanis­chen Volk und der fortschrit­tlichen Bewe­gun­gen Afghanistans kommen.

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