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Türkei: Stellungnahme von Anwaltsverband mit Appell an Verfassungsgericht

Durch alle niedrigeren Instanzen hat sich das Unrecht und haben sich Gesetzesmissachtungen gezogen. Diese skandalösen Urteile gelenkt durch die politische Macht haben eine Anwältin auf dem Gewissen, schwerwiegende Folgen für Aytac Ünsal und jahrzehntelange Haftstrafen für die Ausübung des Anwaltsberufs, d.h. die totale Zerschlagung des Rechtssystems. Wie können auf diese Weise noch faire Prozesse erwartet werden?!

Rechtsanwalt Aytac Ünsal, der mit Ebru Timtik im Hungerstreik war und ernste gesundheitliche Folgen davontrug, ist ohne zu genesen erneut in Haft und dort wird ihm willkürlich die notwendige Behandlung verweigert. Vitamin B wird ihm vorenthalten. Sein Nervensystem ist geschädigt. Aber Sie wissen ja wahrscheinlich darüber bescheid.

Ich halte es für umso wichtiger, basierend auf diese Stellungnahme erneut an die Öffentlichkeit zu gehen und diese Botschaft auch an das Verfassungsgericht und an die Medien zu bringen…

Im Anhang sende ich Ihnen diese aktuelle Mitteilung der Anwaltskanzlei des Volkes-Internationales Büro…

Mit freundlichen, solidarischen Grüßen und viel Erfolg

Sandra Bakutz

Unsere KollegInnen in der Türkei sind weiterhin inhaftiert,
Unrecht und Ungerechtigkeit halten an…
DAS VERFASSUNGSGERICHT SOLLTE DAS RECHT
UMSETZEN, DIE INHAFTIERTEN RECHTSANWÄLTiNNEN
FREIGELASSEN WERDEN!
Die beiden AnwältInnen, zwei unserer KollegInnen, Ebru Timtik und
Aytac Ünsal versuchten unter Einsatz ihres Lebens auf die Tatsache hinzuweisen, dass in der Türkei
Recht und faire Prozesse nicht gewährleistet sind. Ebru opferte dafür ihr Leben und Aytaç seine
Gesundheit.
Ebru und Aytaç wurden zusammen mit 15 anderen KollegInnen nach einem ungesetzlichen,
unfairen Prozess zu 159 Jahren Gefängnis verurteilt. Unsere KollegInnen, Anwaltskammern und
juristischen Organisationen aus vielen Teilen der Welt haben diese Unrechtmäßigkeit und
Ungerechtigkeit miterlebt.
Dieses Gerichsverfahren, bei dem keinerlei Gesetze eingehalten wurden und das in Wahrheit ein
politischer Rachefeldzug war, ist zu einem der bedeutendsten politischen Prozesse in der Geschichte
der Türkei geworden. Die politische Macht hat vom Anfang bis zum Schluss in jeder Etappe des
Verfahrens offen interveniert.
Es wurde Druck auf die zuständigen Richter und Staatsanwälte ausgeübt und dafür gesorgt, dass die
gewünschten Urteile gefällt werden.
In der ersten Anhörung des Falles wurden alle 17 AnwältInnen freigelassen. Doch infolge des
offenen Drucks und der Drohungen der politischen Macht, widerrief dasselbe Gericht das Urteil zur
Freilassung von 12 der AnwältInnen nur 10 Stunden später und ordnete deren erneute Verhaftung
an. Das Eingreifen der politischen Macht in den Fall war jedoch so offensichtlich und rücksichtslos,
dass der Haftbefehl nicht ausreichte, um die Richter zu retten.
Die Richter, die die Freilassung angeordnet hatten, bezahlten den Preis für diese Entscheidung,
indem sie nur zwei Tage nach dem Urteil entlassen wurden. Der Gerichtspräsident und die
Mitglieder dieses Ausschusses wurden in andere Gerichte versetzt und bestraft. Eine speziell
ausgewählte Delegation unter der Leitung von Akın Gürlek wurde ernannt, um die entlassenen
Richter zu ersetzen.
Akın Gürlek, der dem Gericht neu zugeteilt wurde, war kein gewöhnlicher Richter. Er war eine
speziell ausgewählte Person, die alle rechtlichen Grundsätze und Regeln ignorierte und die Rolle
eines Beamten übernahm, der gemäß den Anweisungen und Befehlen der politischen Macht
handelte, und nicht eines unabhängigen und unparteiischen Richters. Seine rechtswidrigen
Entscheidungen nicht nur in diesem Fall, sondern auch in vielen ähnlichen Fällen haben dies
gezeigt.
Deshalb haben sich unsere beiden KollegInnen, die AnwältInnen des Volkes, Ebru Timtik und Aytaç
Ünsal, der so offensichtlich erlebten Rechtswidrigkeit und Ungerechtigkeit nicht gebeugt. Sie
versuchten auf viele Arten, sich gegen die ihnen und ihren KollegInnen auferlegten rechtswidrigen
Strafen auszusprechen und ihren Anwaltsberuf wieder frei zu praktizieren. Schließlich beschlossen
sie, Widerstand zu leisten, in den Hungerstreik zu treten und diesen ins Todesfasten auszuweiten.
Unsere beiden KollegInnen Ebru und Aytaç haben ihre Hungerstreikaktion, die sie viele Tage
fortsetzten und mit der sie ein faires Verfahren einforderten, am 5. April 2020 in ein Todesfasten
verwandelt. Sie wollten nur ein faires Verfahren. Sie forderten die Einhaltung der Rechtsordnung
und ein rechtsstaatliches Verfahren. Dafür leisteten sie Widerstand, indem sie Hunderte Tage
hungerten.
Die Gerichte und der Oberste Gerichtshof haben unter dem offenen Druck der politischen Macht die
Kontinuität der Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit verursacht, indem sie die berechtigten
Forderungen unserer KollegInnen nicht erfüllten. Infolgedessen ist unsere Kollegin Ebru Timtik am
27. August 2020, am 238. Tag ihres Todesfastenwiderstands für ein faires Verfahren verstorben und
in diesem Kampf verewigt worden. Aytaç Ünsal wurde am 3. September 2020 mit der Entscheidung
des Obersten Gerichtshofs nach der Berufungsprüfung freigelassen und die Vollstreckung seines
Urteils wurde bis zu seiner Genesung ausgesetzt.
In derselben Entscheidung bestätigte das Kassationsgericht die rechtswidrigen Strafen für unsere
KollegInnen, ohne auf widersprüchliche Fragen im Prozess oder auf den Antrag unserer
KollegInnen und AnwältInnen betreffend der Unrechtmäßigkeiten im Verfahren einzugehen. Der
Oberste Gerichtshof hat mit dieser Entscheidung sowohl das innerstaatliche Recht in der Türkei
(Verfassung, Strafprozessrecht usw.) als auch die Europäische Menschenrechtskonvention, ohne zu
zögern missachtet, und damit beschlossen, die Unrechtmäßigkeit und Ungerechtigkeit fortzusetzen.
Es ist klar, dass diese Entscheidung unter dem Druck der AKP-Regierung getroffen wurde.
Mit dieser Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wurde das ordentliche Gerichtsverfahren gegen
9 noch in Haft befindliche KollegInnen abgeschlossen und ein individueller Antrag beim
Verfassungsgericht mit der Bitte gestellt, die während des Verfahrens festgestellten Verstöße gegen
das Gesetz festzustellen. Wenn es sich bei der Akte um eine Einzelperson handelt, befindet sie sich
noch vor dem Verfassungsgericht, um die Beschwerde zu prüfen.
Das Verfassungsgericht, das als Beschützer des „demokratischen Rechtsstaats“ und der damit
verbundenen Grundsätze gilt, sollte eine Entscheidung treffen, die weit vom Druck der politischen
Macht entfernt ist und den Anforderungen des Gesetzes entspricht. Im Gegensatz zum vorherigen
Amtsgericht, dem Berufungsgericht und dem Gerichtsverfahren vor dem Obersten Gerichtshof
sollte es das Recht auf ein faires Verfahren wiederherstellen und den Weg für die Freilassung
unserer inhaftierten KollegInnen ebnen.
Dieser Aufruf richtet sich an alle unsere KollegInnen, alle Anwaltskammern und Anwaltsverbände,
die die Gerechtigkeit und das Recht auf ein faires Verfahren verteidigen und unseren KollegInnen
Ebru Timtik und Aytaç Ünsal, die diese mit ihrem Leben verteidigten ihre Stimme gaben. Stärken
wir unsere Solidarität mit unseren gefangenen KollegInnen, die seit mehr als drei Jahren illegal
inhaftiert sind und kämpfen wir gemeinsam für ihre Freiheit.
Lassen Sie uns überall und bei jeder einzelnen und gemeinsam durchgeführten Aktion und
Veranstaltung das Verfassungsgericht einladen, das Recht anzuwenden und die Freilassung unserer
KollegInnen zu veranlassen!
DAS VERFASSUNGSGERICHT SOLL DAS RECHT UMSETZEN!
DAS RECHT AUF EIN FAIRES VERFAHREN MUSS GEWÄHRLEISTET WERDEN!
FREIHEIT FÜR DIE INHAFTIERTEN RECHTSANWÄLTiNNEN!
HHB -ANWALTSKANZLEI DES VOLKES
INTERNATIONALES BÜRO