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VERURTEILUNG NACH FOLTERBERICHTEN Haftstrafe für türkischen Sozialisten

Hamburger Gericht verurteilt Erdal Gökoglu in 129-b-Verfahren. Richter überbieten Staatsanwaltschaft
Von Martin Dolzer junge Welt 28.6.19

Nach einem mehr als einjährigen Prozess wurde am Donnerstag der türkische Aktivist Erdal Gökoglu vom Oberlandesgericht Hamburg gemäß Paragraph 129 b zu fünf Jahren Haft verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, dass er zwischen 2002 und 2013 Gebietsverantwortlicher der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) in Hamburg und Berlin gewesen sein soll (siehe jW vom 31.8.2018). Die Staatsanwaltschaft hatte lediglich drei Jahre und neun Monate Haft gefordert, mit Verweis auf die traumatisierenden Erfahrungen des Beschuldigten. Konkrete Straftaten wurden Gökoglu nicht vorgeworfen. Sein »Vergehen«: Er sei auf Veranstaltungen der DHKP-C aufgetreten und habe über seine Erfahrungen und den Widerstand in türkischen Gefängnissen Ende der 1990er Jahre berichtet. Nach Paragraph 129 b des deutschen Strafgesetzbuches werden Personen wegen Mitgliedschaft oder Werbung für »terroristische Vereinigungen im Ausland« verfolgt.

Zwischen 1995 und 2001 war ­Gökoglu in der Türkei in Haft und wurde dort mehrfach gefoltert. Seit einem Hungerstreik gegen die Isolationshaft in den türkischen F-Typ-Gefängnissen im Jahr 2000 und einer folgenden Zwangsbehandlung in einem Krankenhaus leidet Gökoglu am Wernicke-Korsakoff-Syndrom. Mehrmals musste der Hamburger Prozess, der am 7. Juni 2018 begann, aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands unterbrochen werden. In der Türkei war er 2001 für haftunfähig erklärt worden und floh nach seiner Entlassung nach Belgien. 2017 wurde er von dort auf Ersuchen der Bundesanwaltschaft in die BRD ausgeliefert.

In mehreren Erklärungen beschrieb der 47jährige während des Verfahrens die von ihm erlebte Folter, Übergriffe sowie den Widerstand in türkischen Gefängnissen. Er erklärte zudem, eine sozialistische Welt anzustreben, in der Menschen respektvoll und ohne Unterdrückung zusammenleben. Insbesondere wurde deutlich, wie wichtig es für ihn ist, über seine Traumatisierung zu sprechen. So verlas er folgende Sätze: »Sie können das nicht verstehen, aber jedes Mal, wenn ich aufstehe, einen Schritt mache, in den Spiegel schaue, bei jedem Bissen, den ich runterschlucke, setze ich mich mit den Toten, die ich gesehen habe, und dem Unrecht auseinander. Ein Freund von mir, dem Ähnliches geschehen ist, ging nach seiner Entlassung zu seiner Familie und hat nie mehr über seine Erlebnisse gesprochen – und sich dann umgebracht.« Seine Verteidigerin Britta Eder hatte im Plädoyer den Psychotherapeuten Michael Brune zitiert, um zu verdeutlichen, wie wichtig für von Folter Betroffene das Sprechen über widerfahrene Traumata und deren politische und gesellschaftliche Einordnung ist, um ihnen überhaupt ein Überleben zu ermöglichen.

Rund ein halbes Jahr wurde sich in dem Verfahren mit Alaatin Ates, dem Kronzeugen fast sämtlicher DHKP-C Prozesse, beschäftigt. Bisher wurde davon ausgegangen, dass Ates die Organisation lediglich für den BND als V-Mann ausforschte und zwei V-Mann-Führer hatte. Nun stellte sich heraus, dass Cihan Abi, einer der V-Mann-Führer, dem Ates fast täglich berichtete, laut im Prozess verlesenen Schreiben des BND kein Mitarbeiter des deutschen Nachrichtendienstes ist. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Abi für den türkischen Geheimdienst arbeitet. Somit könnten große Teile der in mehreren Prozessen verwerteten »Beweise« unbrauchbar sein. Auf diesen Aspekt wollten die Richter aber erst in der schriftlichen Urteilsbegründung eingehen.

Deren gesamte mündliche Darlegung wirkte wie das Zitieren von Satzbausteinen zur Einordnung der DHKP-C als Rückfront einer terroristischen Vereinigung im Ausland. Den Gesundheitszustand und die Erklärungen Gökoglus würdigten die Richter im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft kaum. Nach Prozessende kritisierten mehrere Redner auf einer spontanen Kundgebung am Donnerstag das Verfahren als einen Schauprozess, in dem das Urteil für die Richter offensichtlich von vornherein feststand.