Was geschah in der Nacht zum 18. Oktober 1977 im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim?

Interview mit Irmgard Möller

Am Morgen des 18. Oktober 77 wurden die Gefangenen Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader tot in ihren Zellen gefunden. Irmgard Möller überlebte schwer verletzt. Mit ihr, die Ende 1994 nach fast 23 Jahren aus der Haft entlassen worden ist, hat Oliver Tolmein über die Gründe gesprochen, die sie in die RAF geführt haben, über die Geschichte des bewaffneten Kampfes in der Bundesrepublik, über die Zeit im Knast und die Erfahrungen nach der Entlassung.

Unter dem Titel „RAF – Das war für uns Befreiung“ erschien dieses für die Geschichte der deutschen Nachkriegslinken wie für die Entwicklung des bundesdeutschen Repressionsapparates aufschlußreiche Gespräch im Konkret Literatur Verlag (272 Seiten, 32 Mark). Der folgende Auszug aus diesem Buch behandelt die Vorgänge in der Stammheimer Todesnacht und die diversen Versuche, zu rekonstruieren, was damals geschah.

Die (von einem palästinensischen Kommando zwecks Freipressung der Gefangenen aus der RAF entführte Lufthansa-Maschine) „Landshut“ ist dann schließlich, kurz nachdem Andreas Baader mit einem Beamten gesprochen hatte, den der Kanzleramtsminister Schüler geschickt hatte, erstürmt worden. Hast du das in der Nacht noch gehört?

Nein. Die letzten Nachrichten, die ich im Knastrundfunk hören konnte, liefen um zehn, elf Uhr abends.

Und dann wurde das Knastradio ausgeschaltet?

Ja, das war um elf zu Ende, spätestens.

Bist du dann ins Bett gegangen?

Nein. Ich hab dann noch gelesen. Das war nicht so einfach. Vor der Entführung ging abends jemand von den Wärtern rum und hat die Glühbirnen eingesammelt, während der Kontaktsperre haben sie einfach den Strom abgedreht. Ich brauchte also Kerzen. Den Plattenspieler habe ich mit Batterien betrieben, das ging. Ich wollte auf jeden Fall irgendwie wach sein, um die ersten Morgennachrichten um sechs Uhr zu hören. Ich war aber auch schon völlig übermüdet. Ich bin dann in der Zelle ein bißchen hin und her gegangen, um nicht einzuschlafen. Aber dann bin ich irgendwann doch weggedämmert.

Hattest du in den Nächten davor auch schon versucht, wach zu bleiben?

Ja. Ich hab total wenig geschlafen. Auch über Tag nicht, keinen Mittagsschlaf oder so was. Ich war auch körperlich total ausgezehrt, von den Hungerstreiks in den Wochen vorher und weil ich das Anstaltsessen auch nicht gegessen habe und eben auch nichts anderes hatte, weil uns sämtliche Zusatzeinkäufe von Obst verboten worden waren. Ich hatte überhaupt keine Reserven mehr, um irgendwie aktiv zu bleiben, was es ja auch erleichtert, wach zu bleiben. Ich habe dann nachts ziemlich spät noch mal nach Jan [Carl Raspe] gerufen. Die Zelle, in der ich damals lebte, war etwas ausgetreten unten, und wenn man sich ganz platt auf den Bauch gelegt hat, dann konnte man unter der Außenverriegelung durchrufen, also es war dann sehr gedämpft. Jan war mir gegenüber, ein paar Meter getrennt auf der anderen Seite. Und er hat mich auch gehört und reagiert. Ich hab gesagt: He; um einfach auch zu wissen, was ist. Und danach hab ich mich unter die Decke gelegt und bin dann irgendwie eingeschlafen. Wann, hab ich natürlich nicht geguckt, das war irgendwann im Lauf der nächsten Stunden …

Wie ging’s dann weiter?

Meine erste Wahrnehmung war ein starkes Rauschen im Kopf, während mir im Umschlußflur unter ganz grellem Neonlicht jemand meine Lider hochzerrte; viele Gestalten standen um mich herum und haben mich irgendwie angefaßt. Und dann hab ich eine Stimme gehört, die sagte: „Baader und Ensslin sind tot.“ Anschließend habe ich wieder das Bewußtsein verloren. Das nächste Mal bin ich erst Tage später, im Krankenhaus in Tübingen, wieder richtig zu mir gekommen. Ein Staatsanwalt stand neben meinem Bett und wollte wissen, was passiert sei. Meine Anwältin durfte erst einen Tag später zu mir. Von ihr habe ich dann gehört, daß auch Jan tot ist. Sie hat mir auch berichtet, daß die „Landshut“ erstürmt worden ist und daß alle vom Kommando Martyr Halimeh bis auf eine Frau [Souhaila Andrawes] dabei erschossen worden sind. Von meiner Anwältin habe ich erfahren, daß sie die ganze Zeit erfolglos versucht hatte, zu mir durchzukommen.
Aber wenn ich jetzt erzähle, was sie mir damals berichtet hat, gibt das den Charakter des Gesprächs nicht wirklich wieder. Du mußt dir vorstellen, daß das nach wochenlanger Kontaktsperre wieder mein allererster Kontakt mit jemandem war, dem ich vertraute. Zudem war ich schwer verletzt. Und wir hatten gerade mal eine Stunde Zeit. Ich lag auf der Intensivstation für Brandverletzte, alles war gekachelt und steril, ich war an Apparate angeschlossen, die vor sich hin gurgelten, hatte wahnsinnige Schmerzen, überall waren Bullen, sogar die Ärzte auf dieser Intensivstation in Tübingen wurden streng überwacht.

Was für Verletzungen hattest du genau?

Das wußte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Das hat mir erst später ein Vertrauensarzt, also kein Knastarzt gesagt. Von vier Stichen in die Brust hatte einer den Herzbeutel getroffen und die Lungen verletzt, die voll Blut gelaufen waren. In Tübingen mußte man mir den ganzen Brustkorb aufschneiden und eine Drainage legen, um alles, auch die Wundflüssigkeit, abzusaugen. Der Stich war mit großer Wucht ausgeführt worden und ist sieben Zentimeter tief eingedrungen. Er muß durch die Rippen gestoppt worden sein, denn in einer war eine Kerbe.
Auf der Intensivstation lag ich knapp eine Woche; dort hat eine Krankengymnastin mir das Atmen wieder beibringen müssen. Ich hatte starke Beruhigungs- oder Betäubungsmittel eingeflößt bekommen und kann mich an diese Tage kaum noch erinnern. Aber ein Bild hat sich mir eingebrannt: In diesem riesengroßen Raum saßen Tag und Nacht zwei oder drei Bullen mit sterilisierten Mänteln, Mützen und Überschuhen, während vor den Fenstern mit MPs bewaffnete Uniformierte patrouillierten. Am Ende der Woche wurde ich mit dem Hubschrauber ins Gefängniskrankenhaus auf den Hohen Asperg gebracht. Dort lag ich dann vier Wochen. Ich konnte lange nicht laufen und hatte noch jahrelang Schmerzen beim Atmen, Husten, Auf-der-Seite-Liegen und sogar beim Lachen.

Ist denn die Waffe gefunden worden, mit der dieser Stich erfolgt ist?

In der offiziellen Version heißt es, daß mit dem Knastmesser zugestochen worden wäre, aber das kann nicht stimmen, weil der Stich ziemlich tief war.

Mit einem Messer, mit dem man sich normalerweise die Butter aufs Brot schmiert?

Ja. Gefunden wurden in der Zelle nur ein Knastmesser und eine Schere. Andere Sachen waren da nicht.

Die gehörten auch tatsächlich dir?

Die gehörten zum Knastinventar, ja.

War das eine spitze oder stumpfe Schere?

Das war eine kleine Schere zum Zeitungausschneiden, die in einer Ecke lag. Aber um die ging es ja nicht, sondern um dieses stumpfe kleine Messer.

Hast du oder haben deine Anwälte mal mit den Ärzten gesprochen, ob das Messer, das du hattest, für so einen Stich überhaupt getaugt hätte?

Sie haben damals versucht, mit den Ärzten und dem Pflegepersonal zu sprechen, sind aber immer an verschlossene Türen gestoßen. Offensichtlich war es verboten worden, mit meinen Anwälten zu reden. Einzelne Krankenschwestern haben immerhin versucht, ihnen Nachrichten zukommen zu lassen. Aber das hat kaum geklappt. Das Personal hatte Angst. Und die Anwälte waren auch eingeschüchtert. Es ist damals eine Vielzahl von Verfahren auch gegen unsere Verteidiger geführt worden – es waren also keine guten Voraussetzungen, irgend etwas aufzuklären. Ich selbst habe mehrmals versucht, an die Akten und die Unterlagen ranzukommen erfolglos.

Was ist mit den Röntgenbildern passiert?

Ich habe sie nie gesehen. Jahre später, als ich noch immer beim Atmen Schmerzen hatte, wollte sich der Knastarzt in der JVA Lübeck die Bilder ausleihen. Wir dachten, von Knastarzt zu Knastarzt müßte das gehen. Aber Fehlanzeige: Die Knastklinik auf dem Hohen Asperg hat die nicht rausgerückt, auch nicht das Lazarett in Stammheim.

Wann hast du das erste Mal erzählt, was du in dieser Nacht erlebt hast?

Zuerst habe ich mit meinen Anwälten darüber geredet, und dann habe ich meine Aussage vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß gemacht. (1) Das war am 16. Januar 1978. Eigentlich wollten sie mich schon im Dezember 1977 vorladen – aber da war ich noch zu schwach, außerdem befand ich mich gerade im Hungerstreik, weil ich unbedingt sofort mit den anderen von uns zusammengelegt werden wollte. Dieser Streik war furchtbar. Mir ging es sowieso schlecht, ich lag dann in Knastklamotten auf einer Matratze auf der Erde und wurde ununterbrochen bewacht. Es war ein wahnsinniger Zustand. Und da hinein kam ein Abgeordneter vom Untersuchungsausschuß und meinte, ich sei verpflichtet auszusagen und sollte mich so um den 8. Dezember herum bereithalten. Die Aussage von mir sollte außerdem unter Ausschluß der Öffentlichkeit erfolgen. Ich habe geantwortet: So mache ich das überhaupt nicht. Und dann haben sie mir als nächsten Termin Januar 1978 vorgeschlagen. Und da bin ich auch hingegangen.

Warum ?

Weil ich aussagen wollte – und zwar öffentlich -, was in dieser Nacht passiert ist.

Erzähl doch von der Anhörung.

Es war enorm viel Presse gekommen. Die Anhörung fand in dem Saal statt, wo vorher der Prozeß stattgefunden hatte. Es gab also etwa 200 Plätze, und die waren restlos belegt. Dann habe ich die Fragen beantwortet, die mir gestellt wurden. Das Protokoll davon kann man auch nachlesen [in: Pieter Bakker Schut, Todesschüsse, Isolationshaft, Eingriffe in das Verteidigungsrecht, Hamburg 1995]. Die Akten des Untersuchungsausschusses habe ich bis heute nicht erhalten. Ich habe nicht mal in dem Protokoll meiner Aussage Sachen ändern, ergänzen oder korrigieren können, weil mir das auch niemand vorgelegt hat. Die gedruckte Fassung ist deswegen nicht wörtlich autorisiert und auch nicht vollständig.

Wie war die Situation für dich? Du bist also aufgewacht nach dieser Nacht und warst sehr schwer verletzt. Was hast du gedacht?

Bei mir ging erst mal alles durcheinander. Da war dieser ungeheure Schmerz, daß die anderen nicht mehr da sind. Ich hatte aber auch keine Zeit, richtig zu trauern, denn ich mußte versuchen, mit der Situation klarzukommen. Ich habe also überlegt, was es für Hinweise gegeben hatte, daß die Situation so eskalieren würde. Ich wollte mir das wenigstens erklären. Es hatte über die Jahre immer wieder Morddrohungen gegen Andreas gegeben, Ulrike war tot – wir hatten gewußt, daß so ein Mord passieren könnte. Wir haben uns nie vorgestellt, daß wir im Knast sicher sind. Das war einer der Gründe, warum wir uns, um uns gegenseitig schützen zu können, nicht trennen lassen wollten. Aber zu wissen, daß sich so was ereignen kann, ist doch etwas ganz anderes, als es dann tatsächlich zu erleben. Da mußte ich alleine damit fertig werden. Das war ein totaler, ein betäubender Schmerz, der stärker war als die Angst, daß man es bei mir noch mal versuchen würde.

Dann hab ich versucht, so gut ich konnte, an Informationen heranzukommen. Das hat in dieser Zeit meinen Tagesablauf bestimmt. Es war enorm schwierig, weil ich keine Zeitungen hatte, die Akten nicht bekam und auch kein Besuch zu mir durfte. Die Anwälte kamen zwar, aber wir hatten nur Zeit, das Allernotwendigste und Allerdringlichste zu besprechen. Ich hatte ja auch nichts, um nachzugucken. Auf dem Hohen Asperg haben sie die Kontaktsperre für mich dann Ende Oktober aufgehoben. Aber mein Radio wurde mir nicht ausgehändigt, weil es mit Netzteil und Kabel versehen war und die Gefängnisleitung meinte, das wäre zu gefährlich weil ich dieses Kabel benutzen könnte, um mich aufzuhängen. Unter dem Vorwand, daß ich mich umbringen wollte, ist mir alles entzogen worden. Ich hatte nichts mehr. Und damit hatte ich gerade in dieser Zeit, wo es noch am meisten Informationen gab und wo ich so dringend versucht habe, etwas zu erfahren, keinen Zugang zu Nachrichten. Ich blieb abgeschnitten von der Welt.

Hattest du auch keine Zeitungen? Mit denen kann man sich ja schlecht umbringen.

Aus den Zeitungen wurden alle Texte, die sich mit Stammheim oder mit der „Landshut“-Entführung im weitesten Sinne beschäftigten, rausgeschnitten. Das hab ich, etwa zwanzig Jahre später, als ich rausgekommen bin, in einer Kiste aus der Habe wiedergekriegt. Das heißt: Von den Zeitungen habe ich damals kaum mehr zu sehen bekommen als den Sportteil und ein paar Fetzen vom Feuilleton.

Hast du dir denn keine Texte oder Informationen über die Verteidigerpost zukommen lassen können?

Die Anwälte haben mir nichts geschickt, nein. Sie hatten Angst, daß das sofort wieder als Info-System illegalisiert wird. Das war angesichts des aufgeheizten Klimas auch eine berechtigte Befürchtung. Zwei Anwälte waren schon im Knast hier, und Klaus Croissant saß in Frankreich in Auslieferungshaft.

Wann hattest du dann wieder mit jemandem aus deiner Gruppe Kontakt?

Ganz lange nicht. Ich hatte große Sehnsucht, mit den anderen, aber besonders mit Nina (Ingrid Schubert) zusammenzusein. Während ich auf dem Hohen Asperg lag, hörte ich eines Abends aus einem weit entfernten Radio einen Nachrichtenfetzen: Ingrid Schubert habe sich in Stadelheim erhängt. Ich war wie betäubt. Das war am 12. November. Sofort hieß es wieder „Selbstmord“, obwohl alle Fakten dagegen sprachen.

Ich hab dann viel später ihre Briefe aus den letzten Wochen gelesen und wie sie beschreibt, daß man sie am Morgen des 18. Oktober überfallen und gewaltsam gynäkologisch untersucht habe. Und ihre Pläne für die allernächste Zukunft: Sie wollte wieder mit uns zusammenkommen. Aus der öffentlichen Diskussion ist sie so gut wie rausgefallen, weil sie nicht in Stammheim gestorben ist und weil es trotz all der Auffälligkeiten niemanden gab, der ihren Tod weiter untersucht hatte. Die Akten wurden 78 geschlossen.

In der ganzen Zeit warst du allein ?

Ja, auf dem Hohen Asperg war gleichzeitig aber noch Günter (Sonnenberg) in einer anderen Abteilung, zu ihm konnte ich keinen Kontakt aufnehmen. Es gab nur Wärter um mich, einer oder zwei saßen ununterbrochen in meiner Zelle vor meinem Bett und haben mich beobachtet. Für das Klima ist bezeichnend, daß sie mich außerdem noch filzen wollten, bevor ein Anwalt kam. Ich erinnere mich genau, wie ich da mit einem Operationshemdchen mit Flügelschleifen hinten lag, und das sollte ich auch noch ausziehen und meine Haare betasten lassen, bevor ich im Rollstuhl zur Besuchszelle gefahren wurde. Da hab ich mich geweigert. Einmal hatte ich im Bett eine Skizze der Stammheimer Zellen gemacht, um dem Anwalt zu erklären, wer wann wohin verlegt worden ist. Da haben sie sofort ans Gericht gemeldet, ich würde Befreiungspläne aushecken …

Und Besuch hattest du sonst keinen ?

Nein, erst Ende des Jahres 77 kam meine Mutter. Sie war über die Situation sehr erschrocken. Die allermeisten Besuchsanträge wurden abgelehnt. Später hat mich Christian Geissler besucht.

Als Anfang 78 das neue Gesetzespaket durchging, in dem die Trennscheibe bei Anwaltsbesuchen eingeführt wurde, haben wir lange keine Besuche mehr empfangen, um die Trennscheibe wenigstens bei überwachten Besuchen wegzukriegen: Dafür gab es kein Gesetz, das haben die Knäste intern verfügt, bei allen Arten von Besuchen die Trennscheibe einzuführen.

In dem Interview, das wir im April 1992 in Lübeck gemacht haben, hast du erzählt, daß du dann eine Zeitlang in einer Zelle gefangen warst, in der es statt einer Tür nur Gitterstäbe gab. Wann war das?

Um den 20. November 77 rum bin ich nach Stammheim zurückverlegt worden. Dort landete ich in einer Zelle, die keine Tür hatte, sondern nur ein Gitter. Ich saß da wie im Tigerkäfig. Dann hab ich sofort, was sollte ich sonst machen, das Essen verweigert. Nach etlichen Tagen wurde schließlich eine Tür eingebaut, die allerdings in der Mitte, wo sonst die Essensklappe ist, ein großes Loch hatte. Als die Wärter bemerkten, wie unbequem ihnen das ununterbrochene Davorstehen wurde, haben sie dem Knasttischler den Auftrag gegeben, ein etwa zwanzig Zentimeter hohes Podest zu bauen. Darauf saßen sie dann auf Stühlen und schauten durch das Loch, wie ich auf meiner Matratze lag. Und wenn ich aufgestanden bin, um aufs Klo zu gehen, mußten sie auch aufstehen und den Kopf ins Loch stecken.

Wenn umgekehrt ich durch das Loch raussehen wollte, zum Beispiel wenn andere zum Hofgang gebracht wurden, haben sie sich davorgestellt. Und als ihnen das zu mühsam wurde, haben sie so eine Art Maulkorb, also ein nach außen gestülptes Gitter anbringen lassen, vor das ein schwarzes Tuch gehängt war, das sie anheben konnten, aber ich nicht. Ich befand mich also ununterbrochen in Sichtweite und vor allem auch in Hörweite. Ich hatte kein Radio, also keine Möglichkeit, mich akustisch abzulenken, und mußte deswegen immer noch mithören, was die redeten. Das empfand ich als zusätzliche Quälerei. So einem nichtssagenden Geplauder ausgesetzt zu sein, und das auch noch von Leuten, die dich unter Kontrolle halten sollen. So ging das lange Zeit, bis dann Gerichtsbeschlüsse die Überwachungsintervalle etwas geändert haben. Ich wurde nicht mehr permanent beobachtet, sondern „nur“ noch alle drei Minuten. Dann nur noch alle fünf, schließlich alle zehn Minuten. Wenn ich duschen wollte, saßen sie aber immer noch daneben. Und wenn ich mir den Pony schneiden wollte, war das nur unter Aufsicht von drei Beamten zu bewerkstelligen, die Schulter an Schulter mit mir standen, um mir die Schere wegreißen zu können. In dieser Zeit hatte ich auch kein Messer in der Zelle, nicht mal eines aus Plastik. Mein Essen wurde vor der Tür zerkleinert, und ich konnte es dann mit einem Löffel zu mir nehmen, den ich dann wieder abgeben mußte. Die alltäglichen Dinge, die jeder Mensch, auch jeder Gefangene ganz selbstverständlich machen konnte, waren mir verboten.

Dazu kam, daß nachts permanent Licht brannte, die ersten Monate grelles Blaulicht und bis Mitte 1980 so 25-Watt-Birnen, zu hell zum Schlafen, zu dunkel zum Lesen. Zellenrazzien waren außerdem noch jeden Tag. Und bei jedem Verlassen der Zelle mußte ich mich vorher und hinterher nackt ausziehen, egal, wohin es ging, aufs Dach zum Hofgang, zum Arzt, zum Besuch.

Wann wurden deine Haftbedingungen wieder „normal“ ?

Normal nie. Ein bißchen normaler nach zwei Jahren. Da habe ich einen Plastikspachtel auf meine Zelle bekommen, den ich auch behalten durfte. Neben dem Löffel, den ich da auch schon in Dauerbesitz hatte, war das der einzige Gegenstand, mit dem ich etwas machen konnte. Du machst dir ja keine Vorstellung, was du täglich alles für kleine Gerätschaften brauchst. Jetzt merkte ich es, weil ich das alles nicht mehr hatte, sondern völlig auf meine Finger und Zähne angewiesen war. Ich habe zum Beispiel früher oft Artikel aus dem Feuilleton und dem Wirtschaftsteil der Zeitung ausgeschnitten – jetzt mußte ich die Seite fein säuberlich falten und falzen, dann sorgsam an ihr reißen, um den Artikel nicht zu beschädigen. Mach das mal bei zehn Texten am Tag. Das dauert und nervt.

Die Situation war aber auch sonst ziemlich gespenstisch. Ich hatte ja keinen Hofgang, durfte aber schließlich ein paar Schritte am Tag auf dem Dach machen. Und als ich dorthin geführt wurde, mußte ich an unserem alten Trakt vorbei,wo jetzt ein Haufen BGSler in Uniform mit Knobelbechern rein- und rausging und mit Sachenzusammenpacken beschäftigt war. Einmal sah ich welche, die packten Kartons und legten irgendwelche Hosen von Andreas in einen Karton, und ich mußte das mitansehen.

Es hat verschiedene Versuche gegeben, die Umstände der Stammheimer Todesnacht aufzuklären. Bekanntgeworden sind vor allem Recherchen aus dem linken Spektrum, die von einer Gruppe um Gudrun Ensslins Schwester Christiane unternommen worden sind. In dieser Gruppe war unter anderem auch Karl Heinz Roth(2) aktiv. Was hast du von dieser Recherche wahrgenommen ?

In der Gruppe waren noch Leute aus dem Ruhrgebiet aktiv, mit denen ich vor allem, allerdings nur indirekt, Kontakt hatte. Sie haben mir über die Anwälte alle paar Monate Fragen gestellt, die ich, so gut ich konnte, beantwortet habe. Ich war sehr froh, daß diese Gruppe recherchierte, weil meine Möglichkeiten, aufzuklären, was tatsächlich in dieser Nacht passiert war, ja sehr beschränkt waren. Die Leute aus dieser Initiative hatten auch Kontakt zu den Eltern von Gudrun. Außerdem hatten die Mutter von Andreas [Baader] und die Verwandten von Jan [Carl Raspe], die in der DDR lebten, noch jemanden mit der Ermittlung der Todesumstände hier beauftragt. Ich selber hatte auch einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt, der aber nach wenigen Monaten abgewiesen worden ist. Ich habe bis heute keine Akteneinsicht bekommen.

Der Bruch mit der linken Ermittlungsgruppe, der nach langer Zusammenarbeit erfolgte, war eigentlich ein Bruch mit Christiane Ensslin. Der Grund war ihre Mitarbeit an dem Film „Die bleierne Zeit“ (3). Den Film konnte ich im Knast zwar nur in Ausschnitten sehen, aber ich habe das Drehbuch gelesen und die Kritiken. Für mich war das eine Selbstdarstellungsorgie von Christiane Ensslin, der es nur darauf ankam, sich selbst als Opfer von Gudrun und uns, also der RAF, zu inszenieren. Diese Kritik gab es nicht nur von mir, sondern auch von Leuten aus der Recherchegruppe, und damit gab es auch keine Basis mehr für eine Zusammenarbeit. Ich mußte ja befürchten, daß Christiane Ensslin die Ergebnisse dieser Untcrsuchungen über den Tod von Gudrun, Jan und Andreas nur zur Selbstdarstelung nutzen würde.

Nun waren in der Recherchegruppe doch noch andere Leute. Warum hast du nicht mit denen weitergemacht?

Es hat auch in der Recherchegruppe eine Auseinandersetzung gegeben, und du weißt ja, wie das in linken Zusammenhängen dann oft läuft: Schließlich ist alles auseinandergeflogen.

Einer, der damals dabei war, Karl Heinz Roth, hat 1989 in einem Interview mit KONKRET gesagt, daß die Recherche auch von Sympathisanten von euch behindert worden wäre …

Darüber weiß ich nichts, und das kann ich mir nur schwer vorstellen, denn die Arbeit lief ja ganz wesentlich auch über mich. Ich war ja in Stammheim gewesen und konnte über die meisten Entwicklungen und Einzelheiten dort Auskunft geben – und ich habe bis zu der Auseinandersetzung um die „Bleierne Zeit“ geholfen. Ich weiß nicht, was da andere draußen hätten blockieren können.

Eine der wichtigen Fragen, um die es bei den Auseinandersetzungen um die Todesursachen immer wieder ging, wardie nach der Kommunikation zwischen euch. Die Überlegung war, daß ihr, wenn es einen kollektiven Selbstmord gegeben hätte, unter den Bedingungen der Kontaktsperre eine Möglichkeit gehabt haben mußtet, euch darüber zu verständigen. Außerdem mußtet ihr eine Möglichkeit gehabt haben, zu erfahren, daß die „Landshut“ von der CSG 9 erstürmt wurde, die Befreiungsaktion also endgültig gescheitert war. Karl Heinz Roth hat in dem erwähnten Interview gesagt, sie hätten bei ihren Recherchen herausgefunden, daß der BND das Kommunikationssystem, das zwischen den Zellen existierte, abgehört hat. Das würde bedeuten: Es hat ein Kommunikationssystem gegeben, über das ihr einen Selbstmord hättet verabreden können, der BND hätle diese Selbstmordverabredung aber auch auf jeden Fall mitgehört.

So stimmt das nicht. Daß wir zeitweilig ein Kommunikationssystem über die Leitungen des Anstaltsrundfunks hatten, habe ich ja schon erzählt. Es ist auch richtig, daß der BND uns darüber abgehört hat. Das ist in den letzten Tagen des Stammheimer Prozesses öffentlich thematisiert worden. In der Zeit der Kontaktsperre gab es dieses System aber viele Monate schon nicht mehr. Wir hatten uns gedacht: Was soll so eine aufwendige Geschichte, wenn wir eh abgehört werden?

Für euch machte die Kommunikation also nur Sinn, wenn sie abhörsicher war? Man könnte ja sagen, in so einer Zeit, wo es so schwierig ist, zu kommunizieren, wo einem dann nur noch bleibt, über den Flur zu rufen, der ja auch abgehört wird, da ist so ein System doch besser als nichts…

Später habe ich das auch so gesehen. Aber da hatten wir keine Möglichkeit mehr, irgendwas zu installieren. Und als wir es gekonnt hätten, da war uns nicht klar, wofür es möglicherweise noch mal gut sein könnte. Wobei man auch sehen muß: Da wir auf jeden Fall abgehört worden wären, hätte das System, wenn es denn irgendwelche Staatspläne gestört hätte, garantiert nicht lange funktioniert. Es hätte auf jeden Fall Möglichkeiten gegeben, es zu unterbrechen. Uns hätte also nur ein wirklich geheimes Medium genützt, auf das sie keinen Zugriff haben und das hatten wir eben nicht.

Der Untersuchungsausschuß hat später in seinem Bericht festgestellt, daß eure Geräte manipuliert waren. Und Stefan Aust schreibt in seinem Buch Der Baader-Meinhof-Komplex: „Es waren mehr oder weniger primitive Lötstellen in den Geräten, aus denen klar ersichtlich war, daß die Anlagen nicht nur zum Musikempfang benutzt wurden, sondern auch für die Kommunikation der Gefangenen untereinander.“ Und zwar soll Andreas Baader dafür an seiner Stelle die Rundfunkdrähte mit den Rasierstromleitungen verbunden haben. An dieses Netz sollt ihr dann die Verstärker und Lautsprecher als Mikrophon und Empfänger angeschlossen haben. In deiner Zelle wurden nach der Todesnacht auch 5,5 Meter Diodenkabel gefunden, bei Andreas wurden mehrere Meter und bei Gudrun Ensslin drei Meter Kabel gefunden.

Das ist alles sehr phantasievoll, macht aber keinen Sinn. Ich zum Beispiel hatte auf meiner Zelle gar keinen Verstärker. Außerdem: Wie hätten wir in Zellen mit Betonfußboden Kabel verlegen sollen? Und wohin? Und vor allem wofür? Wie unsinnig diese Szenarien sind, läßt sich an einem Beispiel ganz gut deutlich machen. Aust behauptet, wir hätten uns während der Kontaktsperre nur deswegen über Zurufe verständigt, damit die Zellentüren mit den „Kontaktsperrepolstern“ schallisoliert werden und wir so die Möglichkeit einer geheimen Verständigung über unser angebliches Zellenrundfunksystem haben. Nur wußten wir zu diesem Zeitpunkt schon längst, daß wir über so ein Kommunikationssystem abgehört worden sind und abgehört werden konnten. Deswegen haben wir uns diese Mühe erspart.

An anderer Stelle schränkt Aust dann auch wieder ein. Er meint, daß wir doch nicht so ungeheuer raffiniert waren, sondern daß unsere Manipulationen so primitiv und offensichtlich waren, daß sie bei der Durchsuchung aufgefallen sein müssen und wir deswegen alles nur zurückbekommen hätten, damit wir abgehört werden können. So viel also zum „Kommunikationssysten“. (4)

Nachdem wir mitbekommen hatten, daß wir abgehört wurden, also noch vor der Kontaktsperre, haben wir unsere Kommunikation untereinander auch verändert. Wir haben wichtige Sachen auf Zettel geschrieben und dann vernichtet. Uns war es sehr wichtig, auch untereinander und nur untereinander was austauschen zu können. Das war ja auch mit das Schlimmste an dieser Kontaktsperre, gegen das wir uns am meisten gewehrt haben, daß neben der Kommunikation mit außen auch die untereinander unterbunden wurde – bis auf diese paar Fetzen die wir uns zurufen konnten und die jeder gehört hat.

Ein weiteres Indiz, das gelegentlich erwähnt wird um zu beweisen, daß ihr nicht nur untereinander Kontakt hattet, sondern sogar, vielleicht auch nur in der Vorbereitungsphase, mit dem Kommando kommunizieren konntet, war, daß es ein Code-Wort gegeben haben soll. Ihr solltet es nach eurer Befreiung sagen, damit das Kommando weiß, daß ihr in Sicherheit seid, und Schleyer freiläßt.

Es hat überhaupt kein Code-Wort gegeben, deswegen brauchten wir uns auch nicht darüber zu verständigen. Das hätte ja nur Sinn gemacht, wenn wir hätten sicher sein können, daß es niemand mitbekommt – und das konnten wir in Stammheim nun wirklich nicht. Das Kommando hat gesagt, daß wir Gefangenen, nachdem wir freigelassen worden sind, etwas sagen sollen, aus dem hervorgeht, daß wir wirklich in Sicherheit sind. Dabei gingen sie davon aus, daß wir welche vom Kommando so gut kennen, daß uns etwas einfällt, was wirklich außer uns nur die Leute vom Kommando selber kennen können. So was braucht man nicht vorher zu besprechen, das fällt einem in dem Moment ein, in dem es gebraucht wird. Deswegen ist Code-Wort ein ganz falscher Begriff dafür. Wenn du zusammen gekämpft hast, dann gibt es so viele Situationen, die nur du und noch jemand oder vielleicht gerade noch die Cruppe kennt… Das sicherste Versteck, das niemand öffnen und wo niemand abhören kann, ist dein eigener Kopf.

Ein weiterer wichtiger Punkt war damals (und ist heute) die Frage, wie ihr euch im Trakt Waffen beschaffen konntet. Karl Heinz Roth sagt in dem Interview mit KONKRET, daß sich im Verlauf der Recherche herausgestellt habe, daß Waffen in den Zellen waren, die aber mit dem Wissen staatlicher Einrichtungen, ohne daß genau bekanntgeworden sei, welche das waren, dort hineingekommen waren.

Wir hatten keine Waffen. Die Vorstellung, daß wir Waffen in den Zellen versteckt hätten, ist auch deswegen kurzsichtig, weil wir im Verlauf der Kontaktsperre mehrfach umziehen mußten und vorher nicht wußten, wann und wohin. Wenn wir Waffen gehabt hätten, wären wir bestimmt anders damit umgegangen, als sie gegen uns selber zu richten. Wir hätten uns geschützt oder auch versucht rauszukommen, aber uns bestimmt nicht jeder für sich umgebracht.

So gesehen würde ja das Szenario, das Bundeskanzler Helmut Schmidt nach dem Deutschen Herbst auf einer Veranstaltung entwickelt hat, Sinn haben: Andreas hat versucht, jemanden vom Kanzleramt zu euch in den Knast zu holen, er hatte eine Waffe und hätte versuchen können, den als Geisel zu nehmen?

Hat er aber nicht! Wenn wir eine Selbstbefreiungsaktion aus dem Knast gemacht hätten, hätten wir das sicher anders eingefädelt. Solche Szenarien sind angesichts der realen Verhältnisse, die wir dort erlebt haben, völlig unrealistisch. Wir sind ständig durchsucht worden, alles wurde überwacht. Und: Wir hatten eben keine Waffen. Wie auch? Außerdem hatte Andreas, wie sogar aus dem Protokoll, das in der Dokumentation der Bundesregierung abgedruckt ist, noch erkennbar ist, ein politisches Ziel, als er mit dem Kanzleramt reden wollte. Das war keine verkappte Aktion. Es ist zwar allgemein sehr beliebt, führt aber wenig weiter immer um drei Ecken zu denken: Was könnten wir womit vielleicht auch noch beabsichtigt haben? Die Wirklichkeit, mit der wir 1977 konfrontiert waren, hat uns für solche Gedankenartistik wenig Gelegenheit gegeben. Wir lebten in einem Extremzustand, unter der totalen Kontaktsperre eben.

Daß ihr Waffen in Stammheim hattet, behauptet aber nicht nur der Untersuchungsausschuß des baden-württembergischen Landtags, es gibt sogar einen Zeugen, der sagt, er selber habe geholfen, die Pistolen zu euch reinzuschmuggeln. Und zu dieser Geschichte von Volker Speitel hat es späternoch eine Variante von Peter Jürgen Boock gegeben, der behauptet hat, mehrere Waffen präpariert zu haben.

Es ist ja immer schwer zu beweisen, daß etwas nicht stattgefunden hat. Zu Volker Speitel kann ich auch nicht viel sagen, weil ich selber mit ihm gar nichts zu tun hatte. Aber Hanna(5) kannte ihn, weil er ursprünglich bei der Stockholm-Aktion mitmachen wollte. Er hat sich aber ein paar Wochen davor abgesetzt und ist erst später wieder im Büro von Rechtsanwalt Klaus Croissant aufgetaucht. Die Waffen, also drei Pistolen und Sprengstoff, will er im Frühjahr 1977 präpariert haben. Angeblich soll Rechtsanwalt Arndt Müller die in einem Aktendeckel versteckt und dann während der Verhandlungen an Jan, Andreas und Gudrun weitergegeben haben, die sie dann aus dem Gerichtssaal in die Zellen schafften.

Wer weiß, wie unsere Anwälte kontrolliert wurden, kann diese Version nicht glauben. Es gab schon von Anfang an die Propaganda, die Anwälte wären Kuriere, Boten und unsere Handlanger – deswegen wurden sie gründlich und penibel untersucht. Jedes Blatt wurde von den Beamten angeschaut. Schon der Versuch, auf diesem Weg Waffen reinzuschmuggeln, wäre der helle Wahnsinn gewesen. Ein ganz überflüssiger zudem, denn aus Stammheim rauszukommen, wäre angesichts des Festungscharakters dort auch mit drei Pistolen und etwas Sprengstoff kaum möglich gewesen, und wir setzten ja darauf, daß wir von der RAF von draußen befreit werden.

Die Geschichten von Speitel sind aber auch im Detail kein bißchen glaubwürdig. Zum Beispiel hat er erst ausgesagt, er habe die Waffen im März 1977 von lllegalen über einen Kurier bekommen. Später hat er behauptet, die lllegalen hätten ihm die Sachen selbst gegeben, auf jeden Fall könne er sich aber gar nicht mehr erinnern, wer denn der Kurier beziehungsweise wer denn die lllegalen gewesen seien. Als nächstes hat er dann behauptet, Sieglinde Hofmann hätte ihm eine Pistole gegeben, und ein halbes Jahr später erinnerte er sich ganz genau daran, daß sie ihm zwei Pistolen gegeben hätte. Da meinte er dann auch, das könnte eventuell auch Juni 1977 gewesen sein &emdash; dabei war Juni 1977 der Stammheimer Prozeß zu Ende, die Anwälte konnten die Waffen also, selbst wenn sie es gewollt hätten, zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr auf diesem Weg reinbringen.

Und die Lügenmärchen von Boock sind auch nicht besser. Mal abgesehen davon, daß bei Speitel Boock, der behauptet, die Waffen präpariert zu haben, nicht vorkommt, und bei Boock Speitel nicht, der auch angibt, die Waffen für den Transport fertiggemacht zu haben.

Es hat dann noch zwei „Insiderinnen“ gegeben, die behauptet haben, in Stammheim hättet ihr tatsächlich Selbstmord begangen beziehungsweise versucht. Susanne Albrecht und Monika Helbing, die beide 1977 in der RAF aktiv waren und später zu den DDR-Aussteigern gehörten, haben nach ihrer Verhaftung ausgesagt, es habe damals unter den RAF-Kadern einen Plan gegeben, „Suicide Action“, der beinhaltete, daß man sich in einer Situation, in der es gar keine andere Chance mehr gebe, umbringt. Beide berufen sich dabei auf Brigitte Mohnhaupt, die im Frühjahr 1977 entlassen worden war und dann wieder zu den „lllegalen“ gegangen ist.

Die beiden haben das zu einem Zeitpunkt erfunden, als sie sich entschieden hatten, als Kronzeuginnen für die Bundesanwaltschaft aufzutreten, um Strafmilderung zu bekommen. Das sagt schon mal was über die Motive. Ansonsten kann ich nur sagen, daß für uns Selbstmord nicht in Frage kam. Es gab bei uns auch keine Diskussionen darüber und schon lange keinen Plan.

Du hast ja vorhin erzählt, daß die Situation 1977 bei euch so war, daß ihr euch eigentlich nicht mehr vorstellen konntet, noch lange Jahre im Knast zuzubringen. Das spricht für eine gewisse Verzweiflung an den Verhältnissen. Eine Zermürbung. Da kann ich mir vorstellen, daß jemand sagt: Lieber tot sein als noch zehn Jahre hier drin. Karl Heinz Roth hat in dem KONKRET-lnterview zum Beispiel gesagt, daß es in einer völlig aussichtslosen Situation auch eine revolutionäre Tat sein kann, sich umzubringen …

Karl Heinz Roth hat andere Erfahrungen mit Isolationshaft, als wir sie hatten. Ich erinnere mich an einen Text von ihm, den er nach seiner Entlassung geschrieben hat, da beschreibt er die Haftsituation als völlig erdrückend und überwältigend. Das ist sie zwar auch, aber für uns gab es immer noch ein Widerstandspotential dagegen. Anders als er waren wir auch nicht allein im Knast, sondern als Gruppe und haben uns auch als Gruppe dagegen gewehrt. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Dazu kommt noch etwas anderes. Wir haben in dieser Zeit in jeder Faser gespürt, daß sie uns vernichten wollen. Das war schon in den Wochen und Monaten vor der Schleyer-Entführung immer wieder Thema gewesen „Todesstrafe für Terroristen“. Die Jahre der Isolation, die Behandlung, die wir in den Hungerstreiks erlebt haben, und zuletzt auch die Kontaktsperre haben gezeigt: Sie wollen uns tot. Wenn du das merkst, dann wächst in dir ein ungeheurer Wille, ihnen gerade diesen Gefallen nicht zu tun, weiterzuleben, dich nicht vernichten zu lassen. Das war für uns ein ganz wichtiges Moment. Wir wußten, daß wir auch als Gefangene ein politischer Faktor sind. Unser Leiden, die Qualen, denen sie uns ausgesetzt haben, haben auch unseren Willen gestärkt, weiterzumachen und eben nicht aufzugeben.

Deswegen, sagt die Bundesregierung, habt ihr das so perfide gemacht, daß der Selbstmord aussah wie ein Mord und damit noch ein letztes agitatives Moment enthielt.(6)

Das hätte unserer Moral widersprochen. Das ist wirklich eine wahnwitzige Theorie. Außerdem ist da noch die Frage des Motivs. Wir wollten nicht sterben, wir wollten dasein. Und wir wußten andererseits, daß der Apparat die Vorstellung hatte, mit uns, vor allem mit Andreas und Gudrun, die ganze RAF auslöschen zu können, sich die ganze Guerilla mit einem Schlag vom Hals zu schaffen.

Für euch war also schon das schiere Überleben ein kleiner Sieg?

Ja, sicher. In dem Moment, wo du ausgerottet werden sollst, du aber weiterlebst, hast du was erreicht und hältst auch daran fest. Was wir tatsächlich vorhatten, war, noch mal einen Hungerstreik zu machen, um die Entscheidung in diesen Wochen zu beschleunigen. Darum ging es auch, als wir in diesen Tagen darüber redeten, der Regierung „die Entscheidung über uns“ aus der Hand zu nehmen – das hieß keineswegs, wie das BKA und der Krisenstab später begierig interpretiert haben, daß wir damit einen Selbstmord ankündigen wollten. Warum hätten wir den auch ankündigen sollen? Um ihnen eine Vorfreude zu machen? Wir wußten ja, daß sie uns lieber tot als lebendig sehen. Für uns war dagegen klar, daß, solange wir drin sind und leben, draußen auch welche sind, die uns befreien wollen.

Nun könnte man sagen, daß euch klar war, daß das Scheitern der Schleyer-Entführung auch hieß, daß es keine anderen Befreiungsversuche mehr geben kann, daß das also eine letzte Chance war, rauszukommen.

So haben wir das aber nicht gesehen. Wir dachten: Wenn das nicht gelingt, wird es einen neuen Anlauf geben. Wir hatten schon einen Atem, der weiter reichte als bis übermorgen. Wir hatten doch auch ein politisches Ziel, sonst hätten wir die Jahre unter diesen Bedingungen im Knast nicht ausgehalten. Und dieses Ziel, das war nicht plötzlich mit dem Scheitern einer Befreiungsaktion verschwunden. Wir hatten also auch eine Verantwortung – und wir wollten als Gruppe zusammensein. Schon deswegen war es unvorstellbar, daß sich drei oder vier umbringen.

Andreas hatte mit dem Kanzleramt reden wollen, um sicher zu sein, daß die sich über die Folgen einer Eskalation auch für sie selbst im klaren waren. Eine Brutalisierung der Auseinandersetzung war für beide Seiten gefährlich: für uns, weil sie die Spur unserer Politik ins Unkenntliche verzerrt hätte, und für sie, weil sie als Regierungspartei früher oder später weggefegt werden würden. Andreas sprach über eine mögliche Gefahr wie es dargestellt ist, soll es Andreas auch noch denunzieren.

Hast du dir in den Jahren danach ein Szenario überlegt, was in dieser Nacht tatsächlich passiert sein konnte?

Ich war und bin überzeugt davon, daß es eine Geheimdienstaktion war. Der BND konnte in Stammheim ein- und ausgehen und hatte nachweislich auch Abhöreinrichtungen bei uns installiert. Und es war bekannt, daß das Knastpersonal selbst für so was nicht vertrauenswürdig genug erschien. Da hat immer mal einer geplaudert und der „Bunten“, „Quick“ oder dem „Stern“ irgendwelche läppischen Geschichten über uns erzählt. Also wenn was gemacht werden sollte, mußte das an denen vorbeigehen. In dem Zusammenhang ist vielleicht auch noch wichtig, daß das Bewachungspersonal während der Kontaktsperre ausgetauscht wurde – allerdings nicht alle. Die Überwachungskameras im Flur funktionierten auch nicht in dieser Nacht.

Gehst du davon aus, daß die Bundesregierung in so eine Mordaktion involviert war, oder könnte das auch eineselbständig durchgeführte Geheimdienstoperation gewesen sein?

Ich denke, die Bundesregierung war involviert. Und ich gehe davon aus, daß das auch innerhalb der Nato irgendwie abgesprochen war. Es gab damals auch einen Krisenstab in den USA, der ständig Verbindung mit Bonn hielt. Und die USA hatten ein massives Interesse daran, daß es uns nicht mehr gibt. Gerade von der CIA ist die Methode bekannt, Morde als Selbstmorde darzustellen.

In der Diskussion über Stammheim gibt es ja, zumindest in der Linken, die Tendenz, die Antwort auf die Frage „Mord oder Selbstmord?“ nicht mehr für so wichtig zu halten. Auf jeden Fall sei der Tod von Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin oder Andreas Baader vom Staat zu verantworten. Entweder hat er die Gefangenen durch die Haftbedingungen in den Tod getrieben oder direkt umgebracht.

Die Haftbedingungen waren furchtbar, und in den Hungerstreiks sind Gefangene durch gezielte Unterernährung umgebracht worden: Holger Meins zum Beispiel. Aber es ist trotzdem ein Unterschied, ob sich jemand selbst erschießt oder erhängt oder mit dem Messer in die Brust sticht, oder ob das andere machen. Hier geht es um die Fakten. Wir wollten uns nicht umbringen, wir wollten leben.

War für dich die Situation nach der Todesnacht, durch den Tod von Raspe, Ensslin und Baader, eine andere als vorher?

Ja, auf jeden Fall. Ich war plötzlich alleine – und ich war schwer verletzt worden und hatte nur knapp überlebt. Das waren grundsätzlich andere Verhältnisse als vorher. Auf der anderen Seite waren Holger und Ulrike schon vorher im Knast gestorben und wir wußten seit langem, daß der Apparat uns lieber tot als lebendig sehen wollte. Die Haftbedingungen waren darauf ausgerichtet, daß wir entwedcr gebrochen werden, nicht mehr das denken, was wir denken wollen, daß wir unsere Identität verlieren oder eben sterben.

Für dich war die Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 also schon ein Einschnitt, hat aber keine grundsätzliche Veränderung mit sich gebracht?

Die Verhältnisse, wie sie waren, wurden in dieser Nacht auf den Punkt gebracht.

Hast du damit gerechnet, daß es irgendwie weitergeht? Oder daß sie noch mal versuchen würden, dich zu töten?

Ich konnte das jedenfalls nicht ausschließen. Die Art, wie ich behandelt wurde zielte darauf, mich fertigzumachen, daß ich meinen Verstand verliere. Diese dauernde Überwachung, die totale Kontrolle. Es wäre ihnen sicher am liebsten gewesen, irgendwann eine Verrückte vorführen zu können. Denn das sollte ja bewiesen werden: Nur Irre gehen in die RAF und nehmen den bewaffnetten Kampf gegen das System auf. Oder ich sollte dazu gebracht werden zu behaupten, es sei Selbstmord gewesen. Das war dann vielleicht auch wichtiger, als daß ich tatsächlich irgendwo als Leiche liege. Das habe ich mir damals zumindest gedacht. Deswegen bin ich auch nicht jedesmal zusammengezuckt, wenn eine Tür geöffnet wurde oder wenn ich Geräusche auf dem Gang gehört habe. Aber daß man mich nicht leben lassen will, das war mir schon bewußt. Diese angebliche Gefahr daß ich Selbstmord begehen könnte, hat die Justiz auch als Generalvollmacht benutzt, mir alles zu verbieten. Ich durfte nichts auf der Zelle haben, keine anderen Gefangenen treffen, das Licht nicht ausmachen – weil das alles die Gefahr erhöhen würde, daß ich mich töte. Das war unvorstellbar – und das ging über Jahre, bis ich dann 1980 nach Lübeck gekommen bin.

Hast du dich da nicht ziemlich hilflos gefühlt?

Einerseits ja. Andererseits entwickelst du auch eine unheimliche Zähigkeit. Ich habe gedacht, ich will mich auf keinen Fall unterwerfen. So kriegt ihr mich nicht.

Wie ist es für dich heute, wenn du über Stammheim redest? Ist das ein Stück Geschichte oder etwas, was noch gegenwärtig ist?

Es ist beides. Viele Details sind mir nicht mehr ganz so präsent wie in den Jahren der Gefangenschaft. Ich denke nicht unentwegt daran. Aber es ist doch die einschneidendste Erfahrung, die ich in meinem ganzen Leben gemacht habe. Und je mehr ich mich jetzt wieder damit beschäftige, desto mehr Details fallen mir wieder ein.

Hat dich das verändert?

Das denke ich sicher. Vor allem hat mich verändert, daß ich nicht trauern konnte. Deswegen habe ich auch das Gefühl, daß ich mit diesem Komplex noch nicht richtig abgeschlossen habe. Ich kann zum Beispiel Bilder von denen, die tot sind, nicht einfach in Ruhe anschauen und mich an etwas Gemeinsames erinnern. Ähnlich geht es mir mit Sachen, die ihnen gehört haben. Wenn jemand draußen miterlebt, daß ein Freund oder eine Freundin stirbt, ein Mensch, der ihnen ungeheuer viel bedeutet, dann können sie in den letzten Stunden bei ihm sein oder bei ihr. Sie können sich den Leichnam anschauen, sie bereiten die Beerdigung vor, stehen am Sarg -oder sie machen es auch nicht, weil sie sich dagegen entscheiden. Aber sie können sich verhalten, sich etwas überlegen. Diese Gelegenheit hatte ich nicht.

Hast du sie noch mal tot gesehen?

Nein. Nur auf den Fotos im „Stern“, das war furchtbar, weil sie damit vorgeführt wurden.

Und jetzt, seitdem du draußen bist – warst du da mal am Grab?

Nein.

Anmerkungen:

(1) Der Baden-Württembergische Landtag hatte einen Untersuchungsausschuß zur Aufklärung der Todesumstände eingesetzt, der sich allerdings in entscheidenden Fragen, etwa wie die Waffen in die Zellen gekommen sein sollen, nur auf „gesichertc Erkenntnisse“ der Bundesanwaltschaft stützte. 79 Zeugen und Sachverständige wurden vernommen, wobei die Mitglieder des Krisenstabes über die dort geführten Gespräche und getroffenen Entscheidungen nicht befragt werden durften. Wie zweckgeleitet der Untersuchungsausschuß arbeitete, ist daraus zu ersehen, daß er keinen der Zeugen fragte, ob die Zellen der Stammheimer Gefangenen 1977 noch abgehört wurden. Er wartete mit seinem Abschlußbericht, der die Selbstmordversion stützte nicht einmal, bis wenigstens die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchungen vorlagen.

(2) Der Hamburger Arzt und Historiker Karl Heinz Roth hatte selbst in Untersuchungshaft gesessen. Er war zusammen mit Roland Otto 1975 bei einer Verkehrskontrolle, in deren Folge sich eine Schießerei mit der Kölner Polizei entwickelte, schwer verletzt worden. Geschossen hatte der mit Roth und Otto im Wagen sitzende Werner Sauber, der Mitglied der Bewegung 2. Juni gewesen sein soll und bei dem Schußwechsel getötet wurde. Roth überlebte nur, weil er sich im Gefängnis selbst medizinisch versorgen konnte. In einem aufsehenerregenden Prozeß, dokumentiert in „Ein ganz gewöhnlicher Mordprozeß“ (Berlin 1978), wurden er und Otto 1977 vom Mordvorwurf freigesprochen.

(3) „Die bleierne Zeit“ von Margarethe v. Trotta erzählt angeblich die Geschichte der Schwestern Ensslin.

(4) In Karl-Heinz Weidenhammers Buch „Selbstmord oder Mord?“, in dem der Rechtsanwalt das Todesermittlungsverfahren dokumentiert, zitiert er überdies aus den Akten des Verfahrens, daß nach Sachverständigenauffassung mit dem Kommunikationssystem, selbst wenn es in dieser Anordnung betrieben worden wäre, eine Verständigung nur durch Klopfen oder Kratzen an der Hörmuschel hätte stattfinden können.

(5) Hanna Krabbe, früher im Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK), 1975 an der Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm beteiligt und zu lebenslanger Haft verurteilt, war mehrere Jahre mit Irmgard Möller in Lübeck gefangen. Sie wurde 1996 als letzte der kleinen Gruppe entlassen.

(6) Andreas Baader hatte am 7. Oktober 1977 einen kurzen Brief an das OLG Stuttgart verfaßt: „Aus dem Zusammenhang aller Maßnahmen seit sechs Wochen und ein paar Bemerkungen der Beamten läßt sich der Schluß ziehen, daß die Administration oder der Staatsschutz, der -wie ein Beamter sagt -jetzt permanent im siebten Stock ist, die Hoffnung haben, hier einen oder mehrere Selbstmorde zu provozieren, sie jedenfalls plausibel erscheinen zu lassen. Ich stelle dazu fest: Keiner von uns -das war in den paar Worten, die wir vor zwei Wochen an der Tür wechseln konnten, und der Diskussion seit Jahren klar -hat die Absicht, sich umzubringen. Sollten wir -wieder ein Beamter -hier „tot aufgefunden werden“, sind wir in der guten Tradition justizieller und politischer Maßnahmen dieses Verfahrens getötet worden.“ Auch dieser Brief wird von offizieller Seite bemerkenswerterweise als Teil der Selbstmordvorbereitungen bewertet.

Mittwoch, 30.August 2006

https://www.rote-hilfe.de/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/1997/4/interview_mit_irmgard_moeller