Bundesanwaltschaft fordert viereinhalb Jahre für Kenan Ayaz

Im Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz in Hamburg fordert die Bundesanwaltschaft viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Beobachter:innen fühlen sich wie in der Türkei.

Vor dem Oberlandesgericht Hamburg ist am Mittwoch der Prozess gegen den kurdischen Politiker Kenan Ayaz fortgesetzt worden, der inzwischen seit einem Jahr in Hamburg vor Gericht steht. Am 31. Verhandlungstag plädierte die Staatsanwaltschaft.

Nachdem das Gericht weitere Beweisanträge der Verteidigung abgelehnt und die Richterin Wende-Spohrs die Beweisaufnahme als abgeschlossen erklärt hatte, begann Staatsanwalt Simons mit seinem Plädoyer.

Zunächst ging er auf die persönlichen Verhältnisse von Kenan Ayaz ein. Dieser sei 1993 als 18-Jähriger wie sein damals 13-jähriger Bruder in der Türkei verhaftet und misshandelt worden, habe nach seiner Entlassung 2005 eine Bildungsakademie gegründet und sei erneut für sechs Monate inhaftiert worden. Vor einer weiteren drohenden Haftstrafe sei er 2010 nach Zypern geflohen. Die repressive Politik der Türkei, ihre exzessive Gewalt sei allgemein bekannt. Auch dass die türkische Armee mit großer Härte gegen die PKK und HPG vorgehen würde.

Ayaz sei angeklagt wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, der PKK. Simons ging im Weiteren auf die Organisationsstruktur der PKK ein. Relevante Änderungen bei der PKK und KCK seien auch nach der Neuformierung nicht festzustellen, behauptete er. Auch wenn die KCK erklärt habe, einen Demokratischen Konföderalismus anzustreben, halte man doch mit dem Modell „Demokratische Nation“ an der Gründung staatsähnlicher Strukturen fest.

Offensichtlich, dass Simons das Konzept der Demokratischen Nation nicht verstanden hat. „Nation“ nach Abdullah Öcalan neu gedacht als demokratisch organisiertes Zusammenleben aller ethnischen und religiösen Gruppen, ist schließlich alles andere als primitiver Nationalismus.

Weiter führte Simons aus, die von KCK bzw. PKK anstrebte Selbstverwaltung sei „unrealistisch“ und „realitätsfern“, da die Türkei aufgrund ihrer Haltung niemals einer solchen Autonomie zustimmen werde, daher sei diese nur mit Mitteln der Gewalt zu erreichen.

Die PKK sei immer noch auf die „Führerschaft“ Öcalans ausgerichtet. Völlig außer Acht ließ der Staatsanwalt dabei, dass Öcalan seit 25 Jahren isoliert wird und seit drei Jahren überhaupt keine Kontakte nach außen hat. In Bezug auf den bewaffneten Konflikt erklärte Simons: „Kein Zweifel“, es handele sich um ein „erhebliches Anschlagsgeschehen“.

Ganz der Staatsraison folgend, dass die Türkei nicht etwa ein faschistischer Staat sei, der seit seiner Gründung vor 101 Jahren systematisch Genozid gegen alle nicht-muslimischen und nicht-türkischen Völker begeht, auch außerhalb des eigenen Staatsgebietes, in Syrien und im Irak, ist in seiner Logik natürlich die Befreiungsbewegung PKK terroristisch und nicht der türkische Staat, der Nachbarländer überfällt und tagtäglich Zivilist:innen ermordet.

Kenan Ayaz sei als „hauptamtlicher Kader“ zwischen September 2018 und Juni 2019 in Hamburg und danach bis Juli 2020 in Köln und der Region Nordrhein für die PKK tätig gewesen. Das ergebe sich aus Observationsmaßnahmen, vor allem dem Abhören von SMS. Er habe an „überregionalen Kadertreffen“ und Gedenkveranstaltungen teilgenommen sowie Aufmärsche und Festivals mit organisiert. Dabei habe er sich „konspirativ“ verhalten, auch wenn er keinen Decknamen verwendet habe. Spendensammlung für die PKK könne nicht nachgewiesen werden, aber Formulierungen wie „spazieren gehen“ und „herumgehen“ oder das Nachfragen, ob eine „Arbeit beendet“ sei, würden den Schluss zulassen, dass es sich um Spendensammlungen gehandelt habe, auch wenn die Verteidigung in einem Fall beweisen konnte, dass eine solche Formulierung genau das meinte, was auch gesagt worden, war nämlich die Lieferung von Essen an einen „Langen Marsch“.

Alle Indizien dafür, dass es sich bei Kenan Ayaz um einen Kader der PKK handele, seien gegeben. Diese sei eine terroristische Organisation, auch der Beschluss der belgischen Justiz vom 28. Januar 2020, dass die PKK eine Partei in einem bewaffneten Konflikt sei, stehe dem nicht entgegen. Der bewaffnete Kampf sei „kein geeignetes Mittel“ gegen Unterdrückung zu kämpfen, die PKK-Kämpfer seien keine Kombattanten in einem bewaffneten Konflikt, so Simons. Ein Verbotsirrtum komme nicht in Betracht.

Bei der Strafzumessung gebe es strafmildernde Gründe, Ayaz habe der kurdischen Sache dienen wollen, die Untersuchungshaft in Deutschland sei für ihn schwer gewesen, auch weil er der deutschen Sprache nicht mächtig sei.

Straferschwerend käme aber hinzu, dass Ayaz trotz der Hafterfahrung „sehenden Auges weitergemacht“ habe. Ebenso habe er kein Geständnis abgelegt. Absitzen werde er seine Haft in Zypern, wenn der Prozess abgeschlossen sei. Letztendlich forderte Simons vier Jahre und sechs Monate Haft für Kenan Ayaz.

Prozessbeobachterin: „Ich fühle mich wie in der Türkei“

Prozessbeobachter:innen und Mitglieder der Komitees „FreeKenan“ zeigten sich bestürzt über die Höhe des geforderten Strafmaßes. Die gesamte Begründung und das Verfahren unterschieden sich in keiner Weise von der Türkei. „Ich fühle mich wie vor einem Gericht in der Türkei“, erklärte eine Beobachterin mit eigenen Verfolgungserfahrungen. Auch wenn es natürlich einen großen Unterschied mache, ob fünf oder 5000 Menschen im Jahr verurteilt würden, wecke der Umgang mit Kenan Ayaz böse Erinnerungen an ihre Erlebnisse in der Türkei.

Plädoyer der Verteidigung am 2. Juli

Am 2. Juli wird die Verteidigung von Kenan Ayaz ihr Plädoyer halten. Vermutlich wird am 9. Juli die Verteidigungsrede von Kenan Ayaz beginnen.

Auf der Seite kenanwatch.org werden Informationen in den Sprachen Griechisch, Englisch und Deutsch über den Prozess und die Proteste auf Zypern und in Deutschland angeboten. Kenan Ayaz freut sich über Post. Briefe können auch in anderen Sprachen als Kurdisch oder Türkisch geschrieben werden, da eine Übersetzung gewährleistet ist. Zu beachten ist die Schreibweise des Behördennamen „Ayas“, damit die Briefe auch zugestellt werden.

Kenan Ayas
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