Übersetzung: Der neue Faschismus als widersprüchlicher Prozess

Übersetzung aus der türkischen in die deutsche Sprache

März – April 2023 Band 38 Nr. 2 Dossier/Abfassung

Gesellschaft und Arzt1

Şebnem OĞUZ*

Die Transformation des politischen Regimes in den Jahren der AKP:

Der neue Faschismus als widersprüchlicher Prozess

Zusammenfassung:

Dieser Artikel behandelt die Transformation des politischen Regimes in Richtung des Autoritarismus während der AKP-Jahre, unter Bezugnahme auf den konzeptionellen Rahmen des marxistischen Theoretikers Nicos Poulantzas. Er besteht aus zwei Teilen.

Im ersten Teil werden die häufig gebrauchten Begriffe (kompetetiver Autoritarismus, Populismus, permanenter Ausnahmezustand, neoliberaler Autoritarismus) diskutiert, welche herangezogen werden, um den in den 2000er Jahren in der übrigen Welt und der Türkei aufgekommenen neuen Prozess des zunehmenden Autoritarismus zu beschreiben, wobei schließlich die These vertreten wird, dass der Begriff des ‘Neuen Faschismus’ diesen Prozess am passendsten beschreibt. In diesem Teil wird das Augenmerk ebenso auf die Unterschiede zwischen dem klassischen Faschismus und dem neuen Faschismus gerichtet sowie auf die spezifische Form, die dieser in der Türkei annimmt.

Im zweiten Teil wird die Frage diskutiert, wie der Neue Faschismus in den AKP-Jahren, insbesondere seit 2013, die Form eines außerordentlichen Staates angenommen hat; entlang von drei Themen:

Die Zunahme der relativen Autonomie des Staates gegenüber dem bestehenden Machtblock und die Nutzung dieser Autonomie für die Etablierung eines neuen Machtblocks,

die Transformation des repressiven und ideologischen Staatsapparates,

sowie die während dieses Prozesses aufkommenden neuen Widersprüche innerhalb des Staates.

Im Resumee wird hervorgehoben, dass die Widersprüche innerhalb des Staates nicht zur Auflösung des politischen Regimes führen; ganz im Gegenteil, der Prozess der Faschisierung wird mit diesen Widersprüchen weiter vertieft.

Schlüsselwörter: Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, politisches Regime, Neuer Faschismus, Nicos Poulantzas.

Einleitung

Betrachtet man die Bilanz von zwanzig Jahren AKP war aus der Perspektive der Gesellschaft die Transformation hin zu einer Autorisierung des politischen Regimes zweifellos eine der Ebenen, auf der der Prozess der Zerstörung am deutlichsten hervorgetreten ist. In dieser Arbeit werden die grundlegenden Charakteristika der hier thematisierten Transformation unter Bezugnahme auf den begrifflichen Rahmen des marxistischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas betrachtet. Im ersten Teil wird die Frage untersucht, anhand welcher Begriffe der Prozess des in den 2000er Jahren in der Welt und in der Türkei aufkommenden neuen Autoritarismus diskutiert wird und schließlich die These vertreten, dass der Begriff des ‘Neuen Faschismus’ diesen Prozess am passendsten beschreibt. In diesem Teil wird das Augenmerk ebenso auf die Unterschiede zwischen dem klassischen Faschismus und dem Neuen Faschismus gerichtet wie auch auf die spezifische Form, die dieser in der Türkei annimmt. Im zweiten Teil wird die Frage, wie der Neue Faschismus in den AKP-Jahren, insbesondere seit 2013, die Form eines außerordentlichen Staates angenommen hat, entlang von drei Themen diskutiert: Die Zunahme der relativen Autonomie des Staates gegenüber dem bestehenden Machtblock und die Nutzung dieser Autonomie für die Etablierung eines neuen Machtblocks, die Transformation des Verhältnisses der repressiven und ideologischen Instrumente des Staates und der Funktion jedes dieser Instrumente; ferner die während dieses Prozesses aufkommenden neuen Widersprüche innerhalb des Staates. Im Resumee wird hervorgehoben werden, dass die Widersprüche innerhalb des Staates nicht, wie oft behauptet, zur Auflösung des politischen Regimes führen; ganz im Gegenteil, der Prozess der Faschisierung wird mit diesen Widersprüchen weiter vertieft.

Die Benennung des politischen Regimes: Eine begriffliche Diskussion

Die aktuellen Diskussionen zur Autoritarisierung des politischen Regimes, welches schlicht als Organisationsform der politischen Macht und der Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft definiert werden kann, dass die Staaten auf die nach dem 11. September 2001 aufkommenden gegen die neue Sicherheitspolitik und den Neoliberalismus gerichteten sozialen Bewegungen mit zunehmender Polizeigewalt reagierten und begonnen hatten, sich ihrer Rechenschaftspflicht zu entledigen. Diese Diskussionen haben, mit der Machtübernahme rechtsextremer Parteien in verschiedenen Ländern im Anschluss an die Krise von 2008, neue Dimensionen angenommen. Um diesen Prozess zu definieren, werden Begriffe wie kompetetiver Autoritarismus, Populismus, permanenter Ausnahmezustand, neoliberaler Autoritarismus verwendet. Im folgender wird jeder dieser Begriff der Reihe nach besprochen werden.

Die Grenzen des Begriffs des kompetetiven Autoritarismus

Der von liberalen Politikwissenschaftlern bevorzugte Begriff des ‘kompetetiven Autoritarismus’ bezeichnet einen Regimetyp, das dem Schein nach ein wettbewerbsorientiertes politisches System darstellt, in dem jedoch die Regierungspartei andere Parteien daran hindert, an die Macht zu kommen, indem sie die Möglichkeiten des Staates zu ihrem eigenen Vorteil unbegrenzt nutzt (Lewitsky u. Way, 2010). Die Grundcharakteristika des kompetetiven Autoritarismus, der als ein Regime, das sich zwischen Demokratie und Diktatur bewegt, definiert wird, sind unfaire Wahlen, die Kontrolle von Gesetzgebung, Justiz und Medien durch die Regierung sowie die weitverbreitete Verletzung der Menschenrechte. In der Türkei haben Autoren wie Esen und Gümüşçü in Anlehnung an diese Definition das Regime als ein kompetetiv autoritäres beschrieben (Esen u. Gümüşçü, 2016). Das Problem der Sicherheit von Wahlen, das seinen Anfang 2014 mit Unregelmäßigkeiten bei den Kommunalwahlen in Ankara nahm, mit den Behinderungen der HDP während der Parlamentswahlen am 1. November 2015 zunehmend deutlichere Formen annahm und schließlich seinen Höhepunkt in den Kommunalwahlen 2019 erreichte, ist eines der Grundprobleme, das der Sichtweise des kompetetiven Autoritarismus zugrundeliegt. In diesem Zusammenhang weist Esen auf die Schlüsselrolle hin, die die politisierten bürokratischen Institutionen wie etwa der Hohe Wahlausschuss (YSK) einnehmen, so etwa die Ablehnung der Forderung nach Neuauszählung der Stimmen für die Oppositionskandidaten in den kurdischen Provinzen durch die YSK und die Einsetzung von Zwangsverwaltern in kurdischen Stadtverwaltungen (Esen, 2019). Auch wenn dieser Ansatz das gewichtige Ausmaß der Autoritarisierung hervorhebt, ist er eher deskriptiv denn analytisch und konzentriert sich in engerem Sinne mehr auf politisch-institutionelle Transformationen. In den Arbeiten, in denen die hier thematisierten Transformationen mit dem Wandel der Beziehungen zwischen Staat und Kapital in Beziehung gesetzt werden, könnte in dem Maße, in dem die Frage unabhängig von den dem Kapitalismus und dem Imperialismus eigenen strukturellen Dynamiken behandelt wird, der Weg dahingehend geebnet werden, dass das gegenwärtige Regime der Türkei demokratischer dargestellt wird, als es ist (Esen u. Gümüşçü, 2018).

1.2 Populismus als politische Strategie

Ein weiterer Begriff, der zur Analyse des neuen Prozesses der Autoritarisierung herangezogen wird, ist der Populismus. In den aktuellen Diskussionen ist der Populismus mit dem Aufstieg rechtsextremer Parteien in der Folge der Krise von 2008, wobei diese sich als Repräsentanten des Volkes gegenüber der bestehenden Ordnung dargestellt haben. Derartige Parteien definieren das Volk oder die Nation als rein, nichtdegeneriert und homogen, dem eine kulturell entfremdete kleine Elite gegenüberstünde; und treten mit dem Anspruch auf die Bühne, das Volk gegenüber dieser kleinen Elite zu vertreten. (Mudde u. Kaltwasser, 2018). Das Auftreten Erdoğans mit dem Anspruch, gegenüber dem “militärischen Stellvertreterregime” den “nationalen Willen” zu repräsentieren, ist hierfür ein typisches Beispiel. Das Grundproblem im Zusammenhang mit dem Populismusbegriff besteht darin, dass es nicht ein politisches Regime, sondern eine politische Strategie beschreibt. Laclau, der diese Eigenschaft des Populismus in sehr prägnanter Weise zum Ausdruck bringt, hat 1977 die populistische politische Strategie derart defniert, dass “innerhalb der Gesellschaft zwischen dem “Volk”, welches über eine spalterische Agenda mit neuem Inhalt gefüllt wurde, und den Vertretern der bestehenden Ordnung ein Gegensatz geschaffen wird, und diese Gegensätzlichkeit einem bestimmten politischen Programm und Ziel folgend in Bewegung gesetzt wird (Laclau, 2015); in 2002 ging er noch weiter und behauptete, dass nunmehr der populistische Geist in Gänze der Politik immanent sei (Laclau, 2007). Und genau aus diesem Grund ist die uns in den Diskussionen über das politische Regime begegnende Frage „Populismus oder Faschismus?“ falsch gestellt, denn diese beiden Begriffe können nicht auf derselben Ebene behandelt werden (Saraçoğlu, 2017). Demzufolge ist es zwar möglich, von populistischen Führern/Parteien zu sprechen, jedoch kann nicht von populistischen Regimen gesprochen werden.

1.3 Der permanente Ausnahmezustand als Begriff über die Beziehung zwischen regulärem Recht und dem Recht des Ausnahmezustands

Bei der Definition der autoritären Regime unserer Zeit begegnet uns des Öfteren ein weiterer Begriff, der des „permanenten Ausnahmezustands”. Dieser Begriff hat seinen Ursprung in der Liberalismuskritk von Carl Schmitt, der mit seinen Schriften im Deutschland der 1920er Jahre als Theoretiker des Faschismus bekannt wurde. Nach Schmitt ist der Ausnahmezustand kein Zustand, der, wie von den Liberalen behauptet, in dem vorübergehend zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung manche Rechte und Freiheiten per Gesetz auf befristete Zeit eingeschränkt werden. Dieser Zustand wird folglich nicht auf der rechtlichen Ebene bestimmt. Mit den Worten “der Hegemon entscheidet über den Ausnahmezustand” betont Schmitt, dass dieser nicht rechtlich, sondern politisch determiniert ist, im Ausnahmezustand nicht Gesetze, sondern er selbst der maßgebliche Garant ist (Schmitt, 1996). Im Ausnahmezustand verhält sich der Hegemon wie eine Regierung, die die Macht zur Änderung der verfassungsmäßigen Ordnung hat und kann diese Ordnung als bleibende Form neu strukturieren (Schmitt, 2014). Von diesem Punkt ausgehend führt Agamben an, dass wir in der Folge des im Zuge des 11. September 2001 entstandenen globalen Bürgerkriegszustands mit dem durch den “Hegemon” USA am 26. Oktober 2001 erlassenen Patriot Act begonnen haben, in einem “permanenten Ausnahmezustand” (Agamben, 2005) zu leben. Die Besonderheit dieses neuen Ausnahmezustands liegt darin, dass durch die Schaffung jenseits geltender Regeln funktionierender Bereiche rechtliche schwarze Löcher eröffnet wurden. Neocleous, der dieses Argument von einem marxistischen Standpunkt aus kritisiert, führt an, dass der von Agamben als „permanenter Ausnahmezustand“ begrifflich erfasste Zustand nicht für die Zeit nach 2001 spezifisch ist. Dieser sei dem kapitalistischen Staat seit den 1830er Jahren immanent, als in Krisenzeiten das Kriegsrecht zur Bekämpfung von sozialen Aufständen ausgerufen wurde, um die Ordnung und Sicherheit aufrechtzuerhalten (Neocleous, 2008). Nach Neocleous seien bereits der regulären Anwendung des Rechts Gewalt und Grundrechtsverletzungen eigen; dementsprechend sollte der Blick nicht auf den Ausnahmezustand gerichtet werden, sondern darauf, wie der Ausnahmebefugnisse im Recht angewandt werden. Schmitt, Agamben und Neocleous treffen sich an dem Punkt, an dem hervorgehoben wird, dass staatliche Gewalt und Grundrechtsverletzungen mehr durch seitens der Exekutive erlassene Dekrete, denn durch Gesetze hervorgerufen werden (Kaynar, 2018). Genau an diesem Punkt wendet Paye ein, dass die Maßnahmen des Ausnahmezustands nicht nur durch Dekrete, sondern Gesetze, insbesondere durch das Strafrecht umgesetzt werden (bspw. die Ausdehnung der polizeilichen Befugnisse, wie etwa das Recht auf Hausdurchsuchungen ohne gerichtlichen Beschluss u.ä.); nach dem 11. September 2001 hätten die neuen Funktionen, die dem jeweiligen Strafrecht in den USA, England und Frankreich hinzugefügt wurden, die verfassungsmäßige Ordnung ausgesetzt und die staatliche Gewalt zum Bestandteil des regulären Rechts gemacht (Paye, 2009). Nach Paye ist insbesondere die Definition von Terrorverdächtigen als „außergesetzliche feindliche Krieger“ durch das Militärgerichtsgesetz der USA aus dem Jahr 2006 gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung eines Staates gegen die eigenen Staatsbürger*innen, die allein schon, weil sie in politischer Opposition zur Politik des Staates stehen, als Straftäter und Feinde angesehen werden (Kaynar, 2018). Paye definiert das mit dieser dauerhaften Transformation des Strafrechts entstandene politische Regime als Diktatur.

Die zum Begriff des Ausnahmezustands erschienenen Schriften beinhalten insbesondere hinsichtlich der Transformation des Strafrechts im Rahmen der Terrorismusbekämpfung hervorstechende Erkenntnisse. Im Fall der Türkei bietet diese Literatur bedeutende Möglichkeiten zum Verständnis dieser Entwicklungen, wie die Ausweitung der polizeilichen Befugnisse (Gesetz über die Innere Sicherheit), die Abschaffung der Unschuldsvermutung im Strafrecht, die nach der Ausrufung des Ausnahmezustands – in der Folge des 15. Juli („Putsch“ v. 15. Juli 2016; Anm.d.Ü.) – durch die KHK („Dekrete mit Gesetzeskraft“; Anm.d.Ü.) aufgekommene Definition des Begriffs der „Terrorverbindung“, welche dann im Anschluss an die Phase des Ausnahmezustands Teil des regulären Rechts wurde. Auch wenn der Begriff des „permanenten Ausnahmezustands“ hinsichtlich dessen, dass er darauf hinweist, dass die Beziehung zwischen dem Recht des regulären Zustands und dem Recht des Ausnahmezustands im Grunde politisch ist und die Maßnahmen des Ausnahmezustands dauerhaften Charakter annehmen können, von Bedeutung ist, kann er, soweit das Problem innerhalb des Rahmens der Phasen des Ausnahmezustands diskutiert wird, nicht umfassend die Transformation, der die politischen Regime vor und nach dem Ausnahmezustand unterliegen, erklären. So hat etwa der Prozess der Faschisierung des politischen Regimes in der Türkei bereits vor der Ausrufung des Ausnahmezustands im Jahr 2016 begonnen, demzufolge ist er nicht auf die Dauerhaftigkeit des Ausnahmezustands beschränkt.

1.4 Der „neoliberale autoritäre Staat“ als reguläre Form des kapitalistischen Staates

Der Begriff des neoliberalen Autoritarismus oder des autoritären Neoliberalismus schließlich legt den Schwerpunkt auf die in den Vordergrund tretenden Zwangsinstrumente des Staates, auf die die Staaten bei der Umsetzung ihrer neoliberalen Wirtschaftspolitik zurückgreifen, um die sozialen und Klassenwidersprüche zu steuern. Zu diesem Zweck setzen sie neue autoritäre Mechanismen ein, anhand derer die Exekutive gegenüber der Gesetzgebung und der Justiz gestärkt und die Bewegungen der Werktätigen niedergedrückt werden sollen (Bruff, 2014; Tansel, 2017). In diesen Publikationen nehmen bei der Analyse der Türkei manche Autoren, bspw. Özden und Freunde sowie Altınörs und Akçay, Bezug auf Poulantzas’ Begriff des “autoritären Etatismus” (Özden u. Freunde, 2017; Altınörs u. Akçay, 2022; Poulantzas, 2000). Poulantzas hat den Begriff des “autoritären Etatismus” herangezogen, um den Transformationsprozess zu beschreiben, der im Anschluss an die Krise des Kapitalismus zu Beginn der 1970er Jahre in die Verengung des politischen Spielraums gegenüber den sich verschärfenden Klassenwidersprüchen, die Stärkung der Exekutive gegenüber der Gesetzgebung und in den zunehmenden Ausschluss der Massen aus den politischen Entscheidungsprozessen mündet. Der “autoritäre Etatismus” wurde aufgrund seiner Erklärungskraft für den Transformationsprozess des Staates im Zuge der schnellen Umsetzung neoliberaler Politik, ohne auf den Widerstand breiter gesellschaftlicher Schichten zu stoßen, zu einem oft herangezogenen Begriff, um die neue Form des politischen Regimes der Türkei ab Beginn der 1980er Jahre zu definieren; so wurde er ebenso zur Analyse der insbesondere nach der Krise 2008 in den USA und in Europa angewandten Politik des öfteren verwendet. Manche Autoren, so etwa Güzelsarı, benutzten zur Analyse desselben Prozesses den Begriff des „neoliberalen autoritären Staates“ (Güzelsarı, 2020). Im Falle der Türkei ist der Begriff des „neoliberalen autoritären Staates“ wichtig, um zu zeigen, dass manche Elemente der Autoritarisierung, bereits bevor die AKP an die Macht kam, institutionalisiert wurden, die AKP-Regierung diesen Prozess anhand gewisser Revisionen nur weiter gefestigt hat. Damit wird das Argument, die AKP sei in den Jahren nach der Regierungsübernahme demokratisch gewesen und erst später zunehmend autoritärer geworden, von vornherein widerlegt. Jedoch bleibt dieser Begriff insbesondere bei der Erklärung des Regimewandels ab 2013 unzureichend; schließlich begann ab dieser Phase der Übergang des Regimes zu einer neuen Art des Faschismus. Im nächsten Kapitel werden die Unterschiede zwischen dem hier zur Rede stehenden Neuen Faschismus und dem klassischen Faschismus dargelegt und die spezifische Gestalt, die er in der Türkei angenommen hat, besprochen.

1.5 Die Unterschiede des Neuen Faschismus im Vergleich zum klassischen Faschismus und ihre für die Türkei spezifische Form

Entgegen der These, der Faschismus sei ein spezifischer Zustand zwischen zwei Weltkriegen gewesen und daher nicht wiederholbar, wird erneut argumentiert, dass er seine Aktualität bewahrt habe (Eley, 2016; Robinson, 2019; Yıldızoğlu, 2020; Palheta, 2021; Traverso, 2021). Welche sind aber die Unterschiede zwischen dem heutigen und dem klassischen Faschismus? Bei der Beantwortung dieser Frage muss zunächst darauf hingewiesen werden, dass der Faschismus eine spezifische Antwort auf die Krise des Kapitalismus ist (Robinson, 2019). Während der klassische Faschismus eine spezifische Antwort auf die Krise von 1929 war, ist der Neue Faschismus die spezifische Antwort auf die Krise des Kapitalismus, die ihren Anfang 1970er Jahren nahm und sich 2008 vertiefte. Die besondere Form, die der Faschismus in der heutigen Zeit hat, hat ihren Ursprung genau in diesen historischen Unterschieden der hier erwähnten Krisen. An diesem Punkt lässt sich behaupten, dass der Neue Faschismus sechs grundlegende Unterschiede im Verhältnis zum klassischen Faschismus aufweist.

Der Erste besteht darin, dass der klassische Faschismus in einer frühen Phase der Internationalisierung des Kapitals aufgekommen war und sich auf das Bündnis der reaktionären politischen Regime mit ihrem eigenen nationalen Kapital stützte (Robinson, 2019). Diese Krise von 1929, die ihrem Wesen nach ein Nachfragekrise war, fällt in den Zeitraum zwischen zwei Weltkriegen. Diesem Zeitraum liegt die Suche der Nationalstaaten nach neuen Märkten für ihr nationales Kapital zugrunde, welche dann der Beginn des Konkurrenzkampfs zwischen den imperialistischen Mächten war. Das grundlegende Merkmal dieser Periode war, dass die Kriege enden würden, sobald die Aufteilung der Märkte abgeschlossen war; mit anderen Worten waren diese Kriege endlich. Der Neue Faschismus hingegen gehört zur späten Phase der Internationalisierung des Kapitals und stützt sich auf das Bündnis der reaktionären politischen Regime mit dem supranationalen Kapital. Das grundlegende Merkmal dieser Periode besteht darin, dass die Nationalstaaten zur Überwindung der Reproduktionskrise von 2008, die ihre Anfänge in den 1970ern hatte, dem supranationalen Kapital permanente Konflikte und Kriege anbieten, um neue Möglichkeiten für die Kaptalakkumulation zu schaffen. Zur Definition dieses Zustands gebraucht Robinson den Begriff der „militarisierten Akkumulation“ (Robinson, 2019). Die Kriege dieser Ära sind im Unterschied zum Zeitalter des klassischen Faschismus keine Auseinandersetzungen, in denen sich Staaten gegenüberstehen. Sie kommen einem neuen Weltkrieg gleich, in dem die Staaten in Kooperation mit einer Vielzahl von extrastaatlichen Akteuren (etwa Söldnertruppen, Stellvertretergruppen, Mafia (in der Türkei die organisierte Kriminalität im weiteren Sinne; Anm.d.Ü.), paramilitärische Kräfte zu unbegrenzter und nichtzielgerichteter Gewalt greifen.

Zweitens, der klassische Faschismus hat die breite Masse der Arbeiterklasse erst dann auf seine Seite ziehen können, nachdem sie die Macht ergriffen und unabhängigen die Arbeiterorganisationen vollständig zerschlagen hatte. Der Neue Faschismus hingegen ist auch vor der Machtübernahme in der Lage, die Arbeiterklasse zu erreichen. Eley zufolge ist dieser Unterschied auf den Konflikt der linken Bewegungen in den beiden Perioden zurückzuführen: Da in den 1920er und 1930er Jahren beide Flügel der Linken (sozialdemokratische und kommunistische Parteien) Arbeiterorganisationen waren, die auch Einfluss auf die Gewerkschaften hatten, hat die mit der Krise von 1929 konfrontierte Arbeiterklasse in der damaligen Periode keinen Bedarf an anderen Parteien gesehen, die ihre Interessen hätten vertreten können (Eley, 2016). Da jedoch die linken Parteien der klassenorientierten Politik den Rücken kehrten, insbesondere nach der Auflösung des realen Sozialismus, haben sich die Arbeiter*innen nach der Krise von 2008 den faschistischen Parteien als Vertreter ihrer Interessen zugewandt.

Drittens in Verbindung damit; während das Ziel des klassischen Faschismus war, die starken Bewegungen der Arbeiterklasse zu zerschlagen, ist die Absicht des Neuen Faschismus, mit den Zwangsmitteln des Staates das Erstarken der Arbeiterklasse von vornherein zu verhindern (Robinson, 2019).

Viertens, während der klassische Faschismus anhand korporatistischer Regulierungen einem Teil der Arbeiterklasse materielle Vergünstigungen zukommen ließ, stützt sich der Neue Faschismus, da er dazu nicht in der Lage ist, vollends auf ideologische Motive wie etwa die Wahrung von Sicherheit und Stabilität (Robinson, 2019).

Fünftens, vielleicht der wichtigste Punkt; der klassische Faschismus hat, angesichts der Bedrohung durch einen starken Kommunismus, um gegen die revolutionären Arbeiterorganisationen kriegsähnliche Gewalt einsetzen zu können, den liberalen Staat und die Wahlen abgeschafft und wurde auf diese Weise institutionalisiert. Der Neue Faschismus hingegen hat keinen Bedarf, die Wahlen abzuschaffen, da er unter Bedingungen ausgeformt wurde, unter welchen die Bedrohung durch den Kommunismus nicht vorhanden war (Ahmad, 2016). Im Gegenteil, die rechtspopulistischen Führer benötigen das Fortbestehen der parlamentarischen Bühne. Um Kräfte zu bündeln und sich selbst zu reproduzieren, muss der notwendige Feind im Innern als Antipode am Leben gehalten werden.

Der sechste Unterschied tritt nun an diesem Punkt in Erscheinung: Im Neuen Faschismus rückt, im Unterschied zum klassischen Faschismus, anstelle der den Feind vernichtenden Gewalt die den Feind unschädlich machende abschreckende und symbolische Gewalt in den Vordergrund. In Verbindung hiermit wird die der dem klassischen Faschismus eigene massenhafte Mobilisierung nicht auf der Straße, sondern auf der diskursiven Ebene geschaffen. Die auf der diskursiven Ebene entstandenen Lynchbestrebungen gegen Kreise, die in den Medien als innere und äußere Feinde angeprangert werden, sind hierfür ein typisches Beispiel. Ein weiterer Mechanismus, anhand dessen anstelle der Vernichtung das Mittel der Abschreckung eingesetzt wird, insbesondere bei Themen, die die parlamentarische Bühne im weiteren Sinne betreffen, ist, dass unter den Zwangsinstrumenten autoritärer Regime, zu denen neben der Justiz auch Kräfte wie Polizei und Paramilitär gehören, der bevorzugte Einsatz der Justiz. In der Türkei ist ein typisches Beispiel hierfür, dass das AKP-Regime bei den Wahlergebnissen nicht mit den Mitteln der nackten Gewalt interveniert, sondern hierzu den Weg über die Hohe Wahlkommission (YSK) gewählt, und so das Ziel verfolgt hat, Legitimität zu erzeugen, indem sie der Thematik auf der rechtlichen Ebene den Charakter einer technischen Diskussion verliehen hat (Akman u. Sevinç, 2021).

Der sich anhand der oben aufgeführten Charakteristika vom klassischen Faschismus unterscheidende Neue Faschismus nimmt in den Ländern, in denen er auftritt, jeweils unterschiedliche Gestalt an; oder wie es Ahmad ausgedrückt hat: „Jedes Land erlebt den Faschismus, den es verdient.“ (Ahmad, 2016). Jeder Faschismus nimmt die ihm eigene nationale Gestalt an, daher ist es nicht von Nutzen, sich allzu sehr mit Analogien zu beschäftigen. Nach Ahmad sollte der Blick weniger auf die Gemeinsamkeiten zwischen dem Faschismus des einen Landes im Vergleich zu dem des anderen Landes gerichtet werden, sondern auf die Neuerungen, die das Land, indem der Faschismus eine organisierte Form angenommen hat, seiner eigenen Geschichte und Politik gemäß eingeführt hat (Ahmad, 2016). Der Faschismus kann nur unter den Bedingungen bestimmter Konjunkturen und wenn er in tiefgehenden Strukturen Wurzeln geschlagen hat, erfolgreich sein. Aus diesem Grund sollten die Geschichte der gesellschaftlichen Strukturen, der ideologischen Schwerpunkte sowie der Institutionen, in denen der Faschismus seinen Funktionen wahrnimmt, betrachtet werden. Denn diese Aspekte treten im Allgemeinen in jedem Land in deren jeweiligem nationalstaatlichen Gründungsprozess hervor. Beispielsweise in Ländern wie Indien werden die Diskriminierungsformen, welche älter als der Kolonialismus sind, später mit den Irrationalismen des europäischen Denkens vereint. In der Türkei hingegen treten die Ursprünge des zeitgenössischen Faschismus in drei historischen Momenten zutage. Erstens, in der Ausgrenzung von kurdischen, alewitischen, armenischen, Griechisch stämmigen u.ä. Bevölkerungsgruppen gegenüber der türkisch-sunnitischen Bevölkerung in den 1920er Jahren, der Gründungsphase des kemalistischen Regimes. Zweitens, in Organisationsstrukturen wie GLADIO, die nach dem 2. Weltkrieg von den USA zur Abwehr des Kommunismus in Ländern wie der Türkei eingeführt wurden. Drittens, in der mit dem Putsch vom 12. September 1980 einhergehenden Zerschlagung der organisierten Werktätigen und Linken sowie der gleichzeitigen Einführung der Türkisch-Islamischen Synthese als offizielle Leitideologie. Der Neue Faschismus, dem wir in den Jahren des AKP-Regimes begegnen, hat dem Faschismus in der Türkei, der zugleich auch diese drei historischen Momente enthält, eine neue Form gegeben. Dieses Regime lehnt eine friedliche Lösung der kurdischen Frage ab; es führt die Konterguerillastrukturen in unterschiedlichen Formen fort; es intensiviert die gegen die Werktätigen gerichtete Wirtschaftspolitik und erklärt sie zur staatlichen Politik; auch wenn in der auf die Türkisch-Islamische Synthese gestützten Staatsideologie der Islamismus stärker in den Vordergrund tritt, macht es doch keine Abstriche von dessen „Türkischem“ Element; es stützt sich auf die rückwärtsgewandte imperiale Nostalgie einer pränationalstaatlichen „glorreichen Vergangenheit“ und stellt sich gegen den Laizismus; mit anderen Worten, es wurde ein Regime installiert, das die Konflikte aus dem nationalstaatlichen Gründungsprozess mit dem heutigen Kapitalismus in der ihr eigenen Weise zusammengeführt hat. Der Neue Faschismus in anderen Ländern führt nicht zu einer Änderung des Regimes, selbst wenn er an die Macht kommt, sondern existiert mehr in seinen ideologischen Dimensionen und als politische Partei bzw. Bewegung und wird im Rahmen dieser Eigenschaften diskutiert.

Eine weitere Besonderheit der Türkei ist jedoch, dass der Neue Faschismus in den Jahren des AKP-Regimes zur grundlegenden Transformation des staatlichen Instrumentariums geführt hat und damit als politisches Regime agiert und als solches diskutiert wird. Im Folgenden wird in Anlehnung an den theoretischen Rahmen Nicos Poulantzas‘ dargelegt, wie dieses neue Regime in der Türkei gestaltet ist.

Der Neue Faschismus als politisches Regime und die Türkei

Der Neue Faschismus als politisches Regime ist eine der spezifischen Formen, die der kapitalistische Staat unserer Zeit in manchen gesellschaftlichen Formationen annimmt. Um diese spezifische Beziehung zu verstehen, ist vorerst die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft und der Staat als Institution begrifflich zu klären. An diesem Punkt treten zwei grundlegende Ansätze hervor, der liberale und der marxistische. Die liberalen Ansätze sehen Institutionen wie Armee, Polizei, Justiz und Exekutive als Bestandteile des Staates an; während Institutionen wie Schule, Familie, Medien, religiöse Einrichtungen der Zivilgesellschaft zuzuordnen sind. Hiervon ausgehend wird aus liberaler Sicht die Autoritarisierung des Regimes als die Zunahme der Gängelung der Zivilgesellschaft durch den Staat definiert. Unter den marxistischen Staatstheorien definiert die auf Gramscis Begriff des „erweiterten Staates“, und auf die begriffliche Definition der „ideologischen und Zwangsapparate des Staates“ durch Althusser und Poulantzas aufbauende Schule die von den Liberalen als Bestandteile der Zivilgesellschaft angesehenen Institutionen wie Schule, Familie, Medien, als ideologische Instrumente des Staates; Armee, Polizei, Exekutive und Justiz ordnen sie als Zwangsinstrumente des Staates ein; dementsprechend wird die Autoritarisierung des Staates im Kontext der Transformation der Beziehungen zwischen den ideologischen und den Zwangsinstrumenten des Staates diskutiert. An diesem Punkt verwendet Poulantzas den Begriff der „Staatsformen“, um die Formen, die der kapitalistische Staat unter unterschiedlichen historischen Bedingungen annimmt, zu definieren; und unterscheidet zwischen regulären (liberale Demokratie und autoritärer Etatismus) und außerordentlichen (Faschismus, Bonapartismus, Militärdiktatur) Staatsformen (Jessop, 2011). Außerordentliche Staatsformen entstehen als Folge von politischen Krisen und im Prozess der Reorganisierung der Hegemonie steigern sie die relative Autonomie des Staates gegenüber dem bestehenden Machtblock; die Beziehungen zwischen den ideologischen und den Zwangsinstrumenten des Staates wandeln sich grundlegend.

An diesem Punkt ist darauf hinzuweisen, dass es zwischen dem Neuen Faschismus als eine außerordentliche Staatsform und dem neoliberalen autoritären Staat als reguläre Staatsform Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt. Die zunehmende Autonomisierung der Exekutive als Bestandteil des neoliberalen autoritären Staates im Zuge ihres Machtzuwachses setzt sich auch in der Staatsform des Neuen Faschismus fort. Während jedoch im neoliberalen autoritären Staat die Technokraten innerhalb der Exekutive ihre Wirtschaftspolitiken unabhängig von der politischen Macht weiterverfolgen, mit den Worten Poulantzas‘ also die „spezialisierten ökonomischen Instrumente“ in den Vordergrund treten, werden im Faschismus die ökonomischen Instrumente des Staates politisiert und gemeinsam mit den anderen Instrumentarien zur Installierung des neuen Machtblocks eingesetzt (Poulantzas, 2000). In der Türkei hat dieser Prozess 2011 mit der Beendigung der Unabhängigkeit der regulierenden Behörden und der erneuten Kontrolle der Technokraten durch das politische Regime eingesetzt. Diese als „Repolitisierung der ökonomischen Führung“ bezeichnete Transformation wurde mit dem Übergang zum Präsidialsystem noch weiter vertieft. Das Schatzamt und die Finanzverwaltung, die zuvor unter der Verantwortung zwei getrennter Institutionen standen, wurden 2018 unter dem Schatz- und Finanzministerium zusammengelegt und an das Präsidialamt angebunden. Mit Ausnahme des Arbeitslosenversicherungsfonds wurden die Finanzbudgets der öffentlichen Verwaltungen als Gemeinsames Staatskassenkonto der Staatlichen Einrichtungen zusammengelegt, also dem Schatz- und Finanzministerium, sprich dem Staatspräsidenten, unterstellt. Der Versicherungsfond für Spareinlagen (TMSF) wurde gemeinsam mit 937 Unternehmen, die unter seiner Zwangsverwaltung gestanden haben, dem Präsidialamt unterstellt, womit der Staatspräsident zur letzten Entscheidungsinstanz über sämtliche Staatsunternehmen wurde. Mit dem Dekret Nr. 703 (KHK: Dekret mit Gesetzeskraft; Anm.d.Ü.) vom 9. Juli 2018 und damit der faktischen Beendigung der Unabhängigkeit der Zentralbank wurden nunmehr vollumfänglich die ökonomischen Instrumentarien des Staates politisiert und für die Generierung von Ressourcen für den neuen Machtblock transformiert. Ferner unterscheidet sich der neoliberale autoritäre Staat vom Neuen Faschismus auch dadurch, dass die Exekutive nicht gegenüber sämtlichen Staatsinstrumentarien an Macht gewinnt, sondern insbesondere gegenüber Gesetzgebung und Justiz. Im Neuen Faschismus hingegen gewinnt die Exekutive gegenüber sämtlichen Staatsinstrumentarien an Macht und politisiert die anderen Instrumentarien, indem sie sie an sich bindet. Die Veränderung der Funktionen der staatlichen Instrumentarien, die Entstehung paralleler Machtnetzwerke, die Vertiefung der Paramilitarisierung sind weitere Punkte, in denen sich der Neue Faschismus vom neoliberalen autoritären Staat unterscheidet. Wie diese sich am Beispiel der Türkei entwickelt haben, wird in den kommenden Abschnitten behandelt werden.

Welche Form der außerordentliche Staat annimmt, ist davon abhängig, in welcher historischen Konjunktur und auf welche Art politische Krise er als Reaktion hervortritt (Poulantzas, 2012). In den Jahren des AKP-Regimes ist die hier angesprochene politische Krise im Jahr 2013 eingetreten. Sowohl die im Jahr 2013 verzögert einsetzenden Folgen der Krise von 2008 und in diesem Kontext das Zerbrechen des Bündnisses zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde als auch der Umstand, dass aufgrund des Gezi-Widerstands der autoritäre Etatismus als reguläre Staatsform die Form eines außerordentlichen Staates annimmt, stellen einen fundamentalen Wendepunkt im Übergang zum Faschismus dar. Von hier an schritt die Faschisierung als widersprüchlicher Prozess voran; die Wahlen des 7. Juni 2015, das Suruç-Massaker vom 20 Juli 2015, der Putschversuch vom 15. Juli 2015, der Übergang zum Präsidialsystem im Jahr 2018 stellen Wendepunkte dar, in denen sich die Faschisierung jeweils zunehmend in verschiedenen Ausformungen vertiefte. Von diesen Wendepunkten nimmt der Putschversuch vom 15. Juli einen besonderen Platz ein, denn mit der Ausrufung des Ausnahmezustands unmittelbar nach dem Putschversuch setzte, nicht nur in den kurdischen Provinzen, sondern auch in der gesamten Türkei, die Intensivierung der Elemente des faschistischen Regimes ein. Innerhalb dieses Prozesses nahm die relative Autonomie des Staates gegenüber dem bestehenden Machtblock zu, die AKP nutzte diese relative Autonomie im Sinne ihres eigenen politischen Projekts und versuchte, einen neuen Machtblock zu installieren. Im nächsten Abschnitt wird dieser Prozess behandelt werden.

2.1 Die Zunahme der relativen Autonomie des Staates und die Bildung eines neuen Machtblocks

Eines der grundlegenden Charakteristika des Übergangs von der außerordentlichen Staatsform zum Faschismus besteht in der Zunahme der relativen Autonomie des Staates gegenüber den den bestehenden Machtblock bildenden herrschenden Klassen und imperialen Kräften und die Nutzung dieser Autonomie für die Einsetzung eines neuen Machtblocks (Poulantzas, 2012). Seit der Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 hat diese trotz ihrer inneren politischen Heterogenität und des vorgetragenen Anspruchs, beide Richtungen der Bourgeoisie der Türkei (das westlich orientierte Kapital, vertreten durch den Unternehmerverband TÜSIAD sowie das islamische Kapital, vertreten durch MÜSIAD) zu repräsentieren, auf die Bildung eines neuen Machtblocks ausgerichtet, der das zweite, ideologisch am politischen Islam orientierte Kapital stärkt. In diesem Sinne hat die AKP, während sie einerseits die von den um die TÜSIAD herum gruppierten Teile des Kapitals geforderte Wirtschaftspolitik umsetzt, auf der anderen Seite Ressourcen zu Gunsten der Gruppen des islamischen Kapitals, die ihre eigene Basis darstellen, fließen lassen und so deren Wachstum sichergestellt. Nach der Krise 2008, als die Widersprüche zwischen den an das AKP-Regime gestellten Forderungen dieser beiden Fraktionen des Kapitals wuchsen, bevorzugte es verstärkt das islamische Kapital. Mit der im Anschluss an die Krise sinkenden Nachfrage Europas nach Waren aus der Türkei orientierte sich das AKP-Regime auf die Märkte im Nahen Osten und versuchte dabei, zu einer sunnitisch-islamischen imperialen Macht in der Region zu werden. Während dieses Prozesses vergrößerte sie ihre relative Autonomie gegenüber den durch die Achse USA-EU- TÜSIAD repräsentierten Machtblock und setzte diese Autonomie für die Bildung eines durch die Achse Naher Osten-MÜSIAD repräsentierten Machtblocks ein. Mit der Zunahme der relativen Autonomie des AKP-Regimes gegenüber dem bestehenden Machtblock erhöhte sich der Bedarf an alternativen Ressourcen zu ihrer Finanzierung, zur Befriedigung dieses Bedarfs griff sie zu zwei fundamentalen Mechanismen: erstens die grundlegende Umorientierung in der Außenpolitik, zweitens der Eingriff in die Kapitalakkumulation mit außerökonomischen Zwangsmitteln.

2.1.1 Die Loslösung vom westlich ausgerichteten Machtblock und der außenpolitische Orientierungswechsel als Finanzressource

Das AKP-Regime macht sich nun mit einem im Zuge ihrer Neo-Osmanischen Ausrichtung vollzogenen radikalen außenpolitischen Wechsel daran, durch ein imperialistisches Bündnis mit Saudi Arabien und Katar die Führung der sunnitischen Massen im Nahen Osten zu übernehmen. In diesem Kontext hat sie auch dschihadistische Gruppen wie den gegen das Assad-Regime kämpfenden Islamischen Staat (İŞİD = Islamischer Staat im Irak und Damaskus; Anm.d.Ü.) unterstützt. Die aus diesem Bündnis erwachsene Unterstützung führte zur Vergrößerung der relativen Autonomie des AKP-Regimes gegenüber den USA. In diesem Prozess hat die zunehmend intensivierte Zusammenarbeit mit dem Kapital der Golfstaaten dem AKP-Regime die Nutzung von Finanzquellen ermöglicht, über die es keine Rechenschaft ablegen muss. Zugleich hat es damit seine relative Autonomie gegenüber dem im Umfeld der TÜSIAD organisierten Großkapital erhöht. Im selben Zeitraum hat das AKP-Regime seine relative Autonomie gegenüber der EU vergrößert, indem sie die Schließung der Grenzen für die Weiterreise aus Syrien Geflüchteter als Trumpfkarte eingesetzt hat. Nach 2016 hat es seine militärische Präsenz durch diverse Mechanismen wie militärische Operationen, Kooperationen und Stützpunkte über weite Teile der Region, die von Aserbeidschan über Syrien und den Irak, über Libyen und Somalia reichen, zunehmend diversifiziert (Adar, 2023). Zuletzt hat das AKP-Regime auch im Stellvertreterkrieg zwischen der Ukraine und Russland, in dem die NATO als Partei mitwirkt, eine aktive Rolle übernommen. Bei dieser Ausrichtung steht sowohl der Wunsch im Vordergrund, von den Chancen zu profitieren, die die hegemonialen Kriege zwischen den Imperialisten der neuen Epoche eröffnen, als auch das Ziel, zusammen mit dem Wachstum der Verteidigungsindustrie, den regierungsnahen Kapitalfraktionen neue „militarisierte Akkumulationsbereiche“ zu verschaffen. Aus diesem Grund ist die politische Macht an mehreren Fronten zum indirekten oder direkten Bestandteil unterschiedlicher Konflikte geworden. Im Zuge dieses Prozesses wurden Polizei, Armee und Geheimdienst (MIT) vollständig politisiert, paramilitärische Kräfte diversifiziert und öffentlich präsent gemacht; all diese Kräfte wurden schließlich in den Stellvertreterkriegen eingesetzt. Die politische Macht hat in diesen Kriegen die aus dem historischen Faschismus überlieferte Kurdenfeindschaft und sowie die Konterguerillaorganisationen mit den dem islamischen Faschismus eigenen Elementen vermischt und diesen Prozess zur Stärkung eines dem eigenen Projekt dienenden neuen Machtblocks genutzt.

2.1.2 Eingriff in den Akkumulationsprozess des Kapitals mit außerökonomischen Zwangsmitteln

Ein weiterer Mechanismus, der die Steigerung der relativen Autonomie der AKP-Regierung gegenüber dem bestehenden Machtblock sicherstellt, ist die Intervention in den Akkumulationsprozess des Kapitals durch den Einsatz von außerökonomischen Zwangsmitteln. Zum Verständnis des Bezuges dieses Mechanismus‘ zum Faschismus als außerordentliche Staatsform, ist daran zu erinnern, dass im Unterschied zu vorkapitalistischen Gesellschaften in der regulären Funktionsweise des Kapitalismus die Gewalt ein Staatsmonopol ist und auf der ökonomischen Ebene der Mehrwert ohne Anwendung von Gewalt generiert wird. Wenn jedoch der kapitalistische Staat in eine außerordentliche Form transformiert wird, wird er die von ihm monopolisierte Gewalt genau dafür einsetzen, dass ein für sein eigenes politisches Projekt geeignetes Kapitalsegment geschaffen wird. Mit anderen Worten wird der Staat unter Einsatz von außerökonomischen Zwangsmitteln in den Akkumulationsprozess des Kapitals eingreifen, mit dem Zweck, Ressourcen in bestimmte Segmente des Kapitals fließen zu lassen. Dieser Prozess wird von liberalen und institutionalistischen Ansätzen unterschiedlich begrifflich definiert. Wenn diesen Ansätze eine Reihe von Begriffen wie etwa ”nepotistischer Kapitalismus“, ”Cliquenwirtschaft“, ”Renditeökonomie“, ”autoritärer Kapitalismus“, ”Staatskapitalismus“, ”Neopatrimonialismus“, ”Klientelismus“, ”Kleptokratie“ gemein ist, beurteilen sie die so bezeichneten Mechanismen als Abweichung von einem liberalen Wirtschaftsmodell, in dem die Gesetze des freien Marktes transparent angewandt werden, und schlagen daher vor, diese durch rechtlich-institutionelle Regulierungen wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach institutionalistischen Autoren wie Kutlay und Öniş, die das Problem auf internationaler Ebene behandeln, ist diese Transformation mit dem Aufstieg von China und Russland im Verhältnis zur Hegemonie der USA in Beziehung zu setzen (Kutlay u. Öniş, 2020). Nach diesem Ansatz verbreitet sich das an der Achse China und Russland orientierte Modell des ”autoritären Kapitalismus“, in dem die Macht in der Hand einer kleinen Elite gebündelt, die Kapitalakkumulation an die politische Hierarchie gekoppelt ist und Rendite generierende Sektoren dominant sind, stärker als der ihm gegenüberstehende ”demokratische Kapitalismus“, in dem die an der Achse USA und EU orientierte Freie Marktwirtschaft sowie regelbasierte Institutionen die bestimmenden Faktoren sind. Dieses als ”Neuer Staatskapitalismus“ bezeichnete System gewährleistet ökonomisch-politische Rahmenbedingungen, innerhalb derer die autoritären Führungskräfte ihre politische Macht fortgesetzt ausüben, diese die Prozesse der Kapitalakkumulation als “loyalitäts-” statt ”qualifikationsbasiert” gestalten, sowie die Legitimation intransparenter öffentlich-privater Joint Ventures, informeller sozialstaatlicher Maßnahmen sowie der Netzwerke zur Ressourcenverteilung sicherstellen können. Angesichts dieses Systems, von dem institutionalistische Autoren annehmen, dass es auch in Länder wie der Türkei eingedrungen sei, empfehlen diese ein meritokratisches entwicklungsorientiertes Wirtschaftsmodell, in dem rationale Institutionen wieder in den Vordergrund treten. Von einer vergleichbaren Perspektive ausgehend wendet der zu den liberalen Politikwissenschaftlern zählende Berk Esen jedoch ein, nach der Krise von 2008 sei vom neoliberalen, von den Regeln der Marktwirtschaft bestimmten Modell zu einem „nepotistischen Kapitalismus“ übergegangen worden, in dem die Politiker der AKP die ihnen nahestehenden Kreise des Kapitals systematisch begünstigt hätten (Yanık, 2021). Nach Esen geht dieses als ”Neopatrimonialismus“ bezeichnete Modell – das zugleich der Loslösung vom Neoliberalismus gleichkommt – mit einem politischen System einher, in dem die politische Macht eines an der Spitze stehenden Führers sowie einer aus Beratern, Politikern und Familienmitgliedern bestehenden Gruppe in seinem Umfeld liegt. In Bezug auf diese Begrifflichkeiten gibt es zwei grundlegende Probleme.

Erstens, die in beiden Ansätzen thematisierte Transformation kommt dem Übergang zu einem als reguläre Staatsform einzustufenden Wirtschaftsmodell eines autoritären Staates gleich (nach den Institutionalisten zu einem ”autoritären Kapitalismus“, nach den Liberalen zu einem ”nepotistischen autoritären Kapitalismus“, dass das Wirtschaftsmodell des kompetitiven Autoritarismus darstellt). Dementsprechend kann dieser Ansatz den Bruch von 2013 nicht erklären.

Zweitens besteht die politische Konsequenz dieses Narrativs darin, die Lösung in der Suprematie des Rechts und in an den Transparenzgrundsatz institutionellen Regulierungen zu suchen. Und genau aus diesem Grund bildet es die Grundlage der Strategie des Nationalen Bündnisses (”Millet İttifakı“; d. Ü.), mit der CHP (”Republikanische Volkspartei“; d. Ü.) an der Spitze. Dabei gilt eine solche Lösung lediglich für reguläre Staatsformen. In außerordentlichen Staatsformen, in denen die Justiz nunmehr politisiert wurde, indem diese vollends unter die Kontrolle der Exekutive gebracht worden ist, kann sie keine Gültigkeit haben. Aus marxistischer Sicht kann behauptet werden, dass die Günstlingswirtschaft, in der seitens der an der Macht befindlichen Parteien auf informellen Wegen zugunsten bestimmter Teile des Kapitals Ressourcen zugespielt werden, dem Kapitalismus immanent ist. Jedoch erfüllt die Günstlingswirtschaft in regulären und in außerordentlichen Staatsformen unterschiedliche Funktionen. In seiner regulären Funktionsweise entwickelt der kapitalistische Staat Wirtschaftspolitiken, um den widersprüchlichen Zusammenhalt verschiedener Teile des Kapitals zu gewährleisten. Er kann dabei von Zeit zu Zeit manchen Segmenten des Kapitals auf informellen Wegen Ressourcen zukommen lassen. Im Prozess der Faschisierung jedoch vergrößert der Staat in der Absicht, sein politisches Projekt zu realisieren, seine relative Autonomie gegenüber dem bestehenden Machtblock, er geht daher mit seiner Wirtschaftspolitik über die Intervention in den Akkumulationsprozess hinaus und zwingt einzelne Kapitalisten anhand eines Systems von Belohnung und Bestrafung dazu, sich seinen eigenen Präferenzen zu beugen.

In den AKP-Jahren begann dieser Prozess vor Erdoğans Verfassungsreferendum im Jahr 2010 mit den an TÜSIAD gerichteten Worten „Wer nicht Partei ist, ist unparteiisch!“, und setzte sich dann mit der Steuerprüfung gegen die Koç-Gruppe (eine der größten multisektoralen Holdings der Türkei; Anm.d,Ü.) wegen deren Positionierung zum Gezi-Widerstand fort. Nachdem die FED (US-Notenbank; d.Ü.) 2013 den Zinssatz erhöhte und damit die Zeit reichlich verfügbarer und günstiger Liquidität vorbei war, erhöhte das AKP-Regime ihre Interventionen in den Akkumulationsprozess durch extraökonomische Zwangsinstrumente, in dem sie die Mechanismen hierfür vervielfältigte.

Zu diesen Mechanismen zählen:

Die Umwandlung von Natur und Dienstleistungen in Waren durch Methoden wie deren eilige Verstaatlichung; die Benutzung der Mafia bei der Schaffung von illegalen Finanzquellen sowie der zwangsweisen Aneignung von Eigentum (oder wie Sedat Peker es ausdrückt: „fremdes Eigentum an sich reißen”) und diese dann unter den regimenahen nationalen und internationalen Gruppen des Kapitals neu zu verteilen; statt der Förderung der technologieintensiven Sektoren, wie es die TÜSIAD forderte, wurden Sektoren wie Bauwirtschaft, Energie und Infrastruktur unterstützt und die öffentlichen Ausschreibungen für diese Sektoren als Mechanismus für den Transfer von Ressourcen an der AKP nahestehende Kapitalisten zu nutzen (Ercan u. Oğuz, 2006); die Unterstützung des Tourismussektors, des Bau- und Immobiliensektors anhand der Repolitisierung des wirtschaftspolitischen Managements und insbesondere der durch die politische Kontrolle über die Zentralbank nach der Krise 2018 ermöglichten Niedrigzinspolitik, wobei der Ressourcenfluss zu AKP-nahen Bauunternehmern, die an öffentlich-privaten Projekten beteiligt sind, gewährleistet wird (Akçay, 2021); die Verbreiterung der Basis der Kapitalakkumulation durch Verteilung der Investitionen in der Verteidigungsindustrie von den großen Unternehmen an der Spitze an die unteren Trägerunternehmen, bis zu den sich in der Branche als Subunternehmen plazierenden Klein- und mittelgroßen Betrieben (Özgür, 2021; Akça u. Özden, 2012). Ab 2013, mit dem Ende des Bündnisses zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde, begann das AKP-Regime auch das Eigentum von Kapitalgruppen, die wegen ihrer Nähe zur Gülen-Gemeinde bekannt waren, zu beschlagnahmen. Der Putschversuch stellte für die AKP eine einzigartige Gelegenheit dar, bei welcher die Regierung mittels der Ausnahmezustandsdekrete hunderte mit Gülen verbundene Unternehmen zu beschlagnahmte und deren Vermögen der TMSF (Versicherungsfond für Spareinlagen; Anm.d.Ü.) übertrug. Außerdem wurde der Vermögensfond der Türkei gegründet, der die gleichen Funktionen erfüllt wie der parallel existierende Zentralverwaltungshaushalt. Dieser Fonds wurde als ein von der Privatisierungsverwaltung finanziertes Unternehmen gegründet, ihm wurden durch ein Milliarden Dollar schweres Privatisierungsprogramm die Anteile an den großen Staatsunternehmen übertragen. Der zunächst von Erdoğans Chefberater, danach von Erdoğan selbst geleitete Fond wurde von der Steuerpflicht wie auch von der steuerlichen Prüfung befreit und zur Finanzierung der durch AKP-nahe Unternehmen betriebenen Großbauprojekte und zur Erleichterung der Auslandsfinanzierung eingesetzt, wobei auch die Finanzquellen der AKP vermehrt wurden (Ercan u. Oğuz, 2006).

Der durch Ausnahmezustandsdekrete (KHKs) ermöglichte Mechanismus des außerökonomischen Zwangs diente auch der Neustrukturierung des Arbeitsmarktes. Die durch die Ausnahmezustandsdekrete unter dem Vorwand des Terrorverdachts aus dem öffentlichen Sektor entfernten Beschäftigten wurden mit den Worten Kendirs (2019) “mit dem Mittel der Kriminalisierung ihrer Sicherheiten beraubt”, zugleich diente dies dem Ziel, eine dem neuen Machtblock angepasste Arbeiterschaft zu schaffen. Es wurden Tausende Menschen kriminalisiert und in die Arbeitslosigkeit getrieben, durch Entlassungen oder Nichtverlängerung der Verträge von Beschäftigten im öffentlichen Sektor, einschließlich der kommunalen Verwaltungen, die der Zwangsverwaltung unterstellt wurden; im privaten Sektor durch Schließung einer Vielzahl von Betrieben, einschließlich privater Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und Universitäten, durch die Einsetzung von Zwangsverwaltungen in einigen Betrieben, die Schließung Hunderter zivilgesellschaftlicher Einrichtungen und Presseunternehmen. Nach Beendigung des Ausnahmezustands im Jahr 2013 traten an die Stelle der Ausnahmezustandsdekrete die dem selben Zweck dienenden Präsidialdekrete. In diesem Rahmen muss die Bevollmächtigung des Staatlichen Kontrollausschusses in 2013 durch das Präsidialdekret Nr. 5 verstanden werden, durch das dieser Ausschuss ermächtigt wurde, gegen den Verband der Ingenieurs- und Architektenkammern in der Türkei (TMMOB; Anm.d.Ü.), den Verband der Ärztekammern (TTB; Anm.d.Ü.), Gewerkschaften und vergleichbare Organisationen Ermittlungen einzuleiten und deren Angehörige ihrer Aufgaben zu entheben.

2.2 Die Transformation der Zwangs- und ideologischen Instrumente des Staates

Eine der grundlegenden Eigenschaften des Faschismus als außerordentliche Staatsform ist die Transformation der Beziehungen zwischen den ideologischen und den Zwangsinstrumenten des Staates, die Verringerung der relativen Autonomie der ideologischen Instrumente untereinander sowie der Zwangsinstrumente, die Transformation der inneren Hierarchie des Staates und Funktionen jedes ihrer Instrumente. Wie zuvor besprochen begann die Transformation der inneren Hierarchie des Staates ab den 1980er Jahren mit der Stärkung der Exekutive gemäß der neoliberalen autoritären Staatsform; während sich hingegen in den AKP-Jahren dieser Prozess noch mehr vertiefte, vollzog sich die fundamentale Transformation der Funktionen der ideologischen und Zwangsinstrumente des Staates und ihrer Beziehungen untereinander. Dieser Prozess wird im folgenden diskutiert werden.

2.2.1 Die Transformation der ideologischen Instrumente

Im Faschismus als außerordentliche Staatsform treten die Instrumente der Medien und der Propaganda in den Vordergrund, der Familie wird eine besondere Funktion zugeschrieben, die Jugend wird nachdem dieser Staatsform eigenen Verständnis als neue „Generation“ erzogen und somit wird diese zu einem an den Staatskörper gebundenen Glied, bei dessen Erziehung er (der Staat; d.Ü.) neben der Familie eine besondere Rolle übernimmt (Poulantzas, 2012). In der Türkei ist im Sinne des islamistischen Faschismus unter den ideologischen Instrumenten zusätzlich das Diyanet (Amt für religiöse Angelegenheiten; Anm.d.Ü.) in den Vordergrund getreten. In diesem Kapitel wird besonders die Transformation von drei ideologischen Instrumenten (Diyanet, Universitäten, Medien) behandelt werden.

2.2.1.1 Das Hervortreten des Diyanet in der inneren Hierarchie des Staates

Eine der kritischsten Entwicklungen in der Transformation der ideologischen Instrumente ist das Hervortreten des Präsidiums des Diyanet innerhalb der inneren Hierarchie des Staates in einer dem islamischen Faschismus eigenen Weise und sein Eingreifen in jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Zwischen 2003 und 2017 hat sich das dem Diyanet zugeteilte Budget verachtfacht, die Größe seines Personals erhöhte sich im Zeitraum 2003 – 2018 von 74.114 auf 112.724 Beschäftigte (Çıtak, 2020). Neben diesem Zuwachs des Budgets und des Personals des Diyanet wurde ihm mit dem im Jahr 2010 erlassenen Gesetz Nr. 6002 im staatlichen Protokoll ein privilegierter Rang zugesprochen. Es wurde von einer Generaldirektion in den Rang eines Staatssekretariats gehoben. Mit demselben Gesetz wurden seine Zuständigkeiten und Verantwortungsbereiche neu bestimmt und seine Funktionen erweitert. Mit der Freigabe von religiösen Dienstleistungen außerhalb der Moschee wurden unter dem Namen TRT-Diyanet ein Fernsehsender und das Diyanet-Radio freigeschaltet; und das Diyanet begann, von Fragen der Bildung, der Gesundheit, Krankenhäuser bis hin zu Schüler- und Studentenheimen in alle Bereiche politisch einzugreifen. Insbesondere im Rahmen der Weisung des rechten Weges (‘’İrşad’’) greift es in das private Leben, insbesondere in Fragen, die Frauen und Familie betreffen, und somit in die Regelung des täglichen Lebens ein (Adak, 2020). Das Gesetz hat auch den Weg für die Aktivitäten des Diyanet im Ausland geebnet und es wandelte sich damit zu einer Institution, das der Außenpolitik Erdoğans und dessen Anspruch, der Führer der muslimischen Welt zu sein, dient (Çıtak, 2020). Nach dem Putschversuch vom 15.Juli 2016 wurden den Funktionen des Diyanet auch geheimdienstliche Aufgaben hinzugefügt. Das Diyanet hat über seine Religionsbeauftragten in 38 verschiedenen Ländern nachrichtendienstliche Berichte über die Auslandsstrukturen der Gülen-Gemeinde verfassen lassen. Mit der Anbindung des Diyanet an das Präsidialamt durch ein entsprechendes 2018 veröffentlichtes Präsidialdekret (KHK) wurden seine Aufgaben derart diversifiziert, dass sie begann, selbst in wirtschaftlichen Fragen Fatwas (islamisches theologisches Gutachten, als Erlass maßgeblich für die Gläubigen; Anm.d.Ü.) auszusprechen. Mit Fatwas in der jüngsten wirtschaftlichen Krise wie etwa “die Preise bestimmt Allah” hat das Diyanet auch die Aufgabe übernommen, die Wirtschaftspolitik der Regierung zu legitimieren.

2.2.1. Die Universitäten und die “Autonomisierung unter Repression”

Unter den ideologischen Instrumente haben auch die Universitäten eine scharfe Transformation durchlaufen. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurden 6081 Wissenschaftlerinnen mit der Behauptung, sie hätten terroristische Verbindungen, durch Ausnahmezustandsdekrete an 122 Universitäten aus dem Dienst entfernt, 15 Stiftungshochschulen wurden geschlossen und Rektorwahlen annulliert (Tekin, 2020). Im Verlauf dieses Prozesses hat die relative Autonomie der Universitäten im Verhältnis zur Exekutive im Kontext zum Übergang des neoliberalen autoritären Staates zum Faschismus eine qualitative Veränderung durchlaufen. Der Rückgang der Autonomie der Universitäten hat seinen Anfang 1981 in der Gründung des YÖK (Hochschulrat). Jedoch vollzog sich dieser Prozess auf die durch die Stärkung der Exekutive charakterisierten, dem liberalen autoritären Staat eigenen Weise, mit den Worten Tekins in Form des ”bürokratischen Zentralismus“ (Tekin, 2020). Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 hat die Autonomie der Universitäten gegenüber den Zwangsinstrumenten eine neue, dem Faschismus eigene Form erhalten. Zur Erklärung dieses Prozesses bezieht sich Tekin auf den von Fraenkel zur Definition des deutschen Staats in den Jahren 1933 – 1938 verwendeten Begriffs des ”Doppelstaats“ (Fraenkel, 2021). Im Doppelstaat existieren der ”Normenstaat“, in dem die von ihm selbst gesetzten Normen beachtet, und der Maßnahmenstaat, der den Normenstaat und das Recht außer Kraft setzt und seine Beschlüsse willkürlich durch Dekrete fasst, nebeneinander. So kamen nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 diese beiden Funktionsweisen auch innerhalb des YÖK auf. Während unter diesen Bedingungen in manchen Bereichen (die Einführung neuer Studienprogramme, Kaderbekanntmachung u.ä.) die relative Autonomie der Hochschulverwaltungen als Normenstaat gegenüber dem YÖK weiter abnahm, ist in ihrer Funktion als ”Maßnahmenstaat“ ihre relative Autonomie in anderen Bereichen gestiegen (Strafen gegen oppositionelle Wissenschaftlerinnen, Disziplinarermittlungen gegen Studentinnen, Änderungen in den Verwaltungsvorschriften für die Unterkünfte u.ä.). Anders formuliert haben die Hochschulverwaltungen selbst bestimmt, in welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln sie die rechtswidrigen Erwartungen des Maßnahmenstaats erfüllen. Tekin bezeichnet diesen Zustand als ”Autonomisierung unter Repression“ (Tekin, 2020). Eine weitere faschismusspezifische Transformation der Universitäten besteht darin, dass die Hochschulverwaltungen, die unter regulären Bedingungen die Funktion als ideologisches Instrument wahrnehmen, nunmehr auch justizielle und polizeiliche Funktionen wahrnehmen, indem sie oppositionelle Wissenschaftlerinnen und Student*innen denunzieren, bestrafen und das Eindringen der Polizei in den Kampus zulassen. Die Diversifizierung und Zunahme der Denunziationsmechanismen ist eines der Bereiche, die die Transformation der Universitäten am meisten mit dem Faschismus gemein hat. Neben den Meldungen (formell Beschwerden; d.Ü.) der ”Spitzelstudenten“ an BIMER-CIMER (Kommunikationszentrum des Ministerpräsidentenamtes bzw. des Staatspräsidentenamtes; Anm.d.Ü.) sind auch Tonaufnahmen der Dozenten während der Vorlesungen, deren Weiterleitung an die Presse, die öffentliche Bennenung von Dozenten als Zielobjekte, deren direkte Bedrohung, die Bemalung ihrer Türen mit X-Symbolen zu bemalen, Teile dieser Denunziationsmechanismen (Taştan u. Ördek, 2019).

2.2.1.3 Die Erlangung der Kontrolle über die Medien zwangsbasierten Strategien

Wie bei den Universitäten hat sich auch bei den Medien der relative Rückgang ihrer Autonomie gegenüber der Exekutive beim Übergang des neoliberalen autoritären Staates zum Faschismus qualitativ verändert. Yeşil unterscheidet bei den zur Kontrolle eingesetzten Strategien zwischen ”zwangsbasierten“ und ”zwangsfreien“ und spricht in diesem Zusammenhang von drei Phasen, die die Kontrolle der Medien unter dem AKP-Regime durchläuft: i) 2002-2013: disziplinierende/zwangsfreie Strategien, ii) 2013-2016: zunehmend treten zwangsbasierte Strategien in den Vordergrund, iii) ab 2016: zwangsbasierte Strategien nehmen repressive Formen an (Yeşil, 2018). Während 2002-2013 eher für den neoliberalen autoritären Staat typische zwangsfreie Strategien überwiegen (bspw. der Entzug staatlicher Unterstützungsleistungen oder Subventionen für oppositionelle Medienunternehmen, oder deren willkürliche Verteilung wie etwa Steuererlasse, Werbeaufträge), gewinnen ab 2013 auf für den Faschisierungsprozess typische Weise mehr und mehr zwangsbasierte Strategien an Einfluss (gegen Journalistinnen gerichtete Anklagen und Festnahmen, Schließung oppositioneller Medienunternehmen, Beschlagnahme ihres Vermögens). Einige der Transformationen, die zwischen 2002-2013 in den Vordergrund treten, ist die Beschlagnahme der nach der Krise in Konkurs gegangenen Medienunternehmen (u.a. Uzan, Bilgin-Gruppe) durch den Versicherungsfond für Spareinlagen (TMSF) und deren Verkauf an regierungsnahe Zeitungsunternehmen (u.a. Doğuş, Ciner); die Verhängung von Steuerstrafen an oppositionelle Medienunternehmen wie etwa die Doğan-Gruppe (Aydın, 2018); der Umstand, dass regierungsnahe Unternehmensgruppen und Medienunternehmen durch staatliche Unterstützung wie billige Kredite, Ausschreibungen, Werbeaufträge reich geworden sind. Indem die staatliche Agentur für Presseveröffentlichungen (BIK) die Schaltung öffentlicher Anzeigen bei oppositionellen Medienunternehmen verhindert, hat sie diese von deren wichtigster Finanzierungsquelle abgeschnitten, derweil stellte sie die Versorgung regierungsnaher Medienunternehmen mit solchen Anzeigen sicher (Yeşil, 2018). Im Zeitraum 2013-2016 sind zwangsbasierte Strategien noch mehr in den Vordergrund getreten. In dieser Zeit wurden, einhergehend mit dem Auseinanderbrechen des Bündnisses zwischen AKP und Gülen-Gemeinde, Polizeioperationen gegen die Medienunternehmen der Gülen-Gemeinde durchgeführt, das Vermögen dieser Unternehmen beschlagnahmt, deren Journalistinnen verhaftet. Gegen oppositionelle Zeitungen wie Cumhuriyet wurden die rechtlichen Repressionen erhöht, deren Journalistinnen wie etwa Can Dündar und Erdem Gül inhaftiert. Nach dem Putschversuch von 2016 wurden in Verbindung mit den Willkürmaßnahmen des faschismustypischen ”Maßnahmenstaats“ zwangsbasierte Strategien in erdrückendem Maße eingesetzt (Fraenkel, 2021). Eine große Anzahl von Medienunternehmen wurden anhand von Ausnahmezustandsdekreten geschlossen, deren Vermögen der Staatskasse zugeführt, oppositionelle Journalistinnen mit der Begründung, sie stünden in Verbindung mit Terrororganisationen verhaftet. All diese Mechanismen wurden mit dem Übergang zum Präsidialsystem weiter intensiviert, so wurde bspw. noch mehr Gebrauch davon gemacht, keine Anzeigen in oppositionellen Zeitungen zu schalten, nachdem die staatliche Agentur für Presseveröffentlichungen an das Präsidium für Kommunikation des Präsidialamtes angegliedert wurde; ferner wurden im Vorfeld der Wahlen von 2023 kurdische Journalisten vermehrt Repressionen und Verhaftungen ausgesetzt. Im Prozess der Faschisierung wandelte sich auch die Funktion der regierungsnahen Medien, indem sie oppositionelle Kräfte als gegnerische Ziele ausgaben, kriminalisierten sie diese und übten damit Funktionen, die sonst von Polizei und Justiz ausgeübt werden, aus.

2.2.2 Die Transformation der Zwangsinstrumente

Beim Übergang zum Faschismus als außerordentliche Staatsform besteht die wichtigste Transformation zweifellos darin, dass die Zwangsinstrumente in der inneren Hierarchie des Staates in den Vordergrund treten, unter die Kontrolle der herrschenden Partei kommen, damit ihre Autonomie verlieren und neue Funktionen ausüben. In diesem Kapitel wird die Transformation der Zwangsinstrumente Justiz, Armee, Polizei und MIT (Nationaler Nachrichtendienst, d.Ü.) untersucht.

Bei der Transformation der Justiz in den AKP-Jahren sind zwei verschiedene Prozesse separat voneinander zu betrachten. Der Erste umfasst die Abnahme der relativen Autonomie der Justiz gegenüber der Exekutive im Zuge des dem regulären Staat eigenen Autoritarisierungsprozesses. Der Zweite ist die Transformation der Justiz durch die politische Macht zu einem grundlegenden Werkzeug des ”Maßnahmenstaats“ als Teil des Faschisierungsprozesses. Der erste dieser Prozesse, in dem die Justiz unter die Kontrolle der Exekutive gebracht wird, lässt sich in Bezug auf vier Zeiträume untersuchen: 2002-2008, 2008-2013, 2013-2016 sowie 2016 und die Zeit danach. Im Zeitraum 2002-2008 hat die Justiz ihre relative Autonomie gegenüber der Exekutive bewahrt. In der 2008 mit dem beim Verfassungsgericht gegen die AKP eingeleiteten Verbotsverfahren begann der zweite Zeitraum, in dem die Autonomie der Justiz gegenüber der Exekutive bereits abzunehmen begann. Im Zeitraum 2008-2013 eröffnete die AKP im Bündnis mit der in der Justiz stark verankerten Gülen-Gemeinde die Ergenekon-, Balyoz- und KCK (Koma Civakên Kurdistan: Union der Gemeinschaften Kurdistans; d.Ü.) -Prozesse. In diesem Zeitraum wurde zudem die Kontrolle der Exekutive über die Justiz verstärkt, indem 2010 durch eine Verfassungsänderung das Verfahren zur Benennung der Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) sowie des Verfassungsgerichts geändert wurde. Im Zeitraum 2013-2016, mit dem Auseinanderbrechen des Bündnisses von AKP und Gülen-Gemeinde und im Anschluss an dıe Korruptionsoperationen vom 17. Dezember 2013, leitete die AKP mit der Begründung, die Justiz von den Gülen-Kadern zu säubern, in den genannten Institutionen eine radikale Neustrukturierung ein. In einem am 15. Februar 2014 angenommenen Gesetzespaket wurde dem Justizminister die Befugnis erteilt, den Vorsitzenden des Kontrollausschusses des HSYK (s.o.) zu bestimmen. Somit ging die Befugnis, darüber zu entscheiden, ob Richter oder Staatsanwälte eine Straftat begangen haben, von der Justiz auf die Exekutive über. Mit demselben Gesetz wurden die Zuständigkeiten des Justizministers in Bezug auf Struktur und Arbeitsweise erweitert, innerhalb kurzer Zeit übernahm der Justizminister die Kontrolle über die drei (der HSYK besteht aus nur 2 Abteilungen; im übrigen ab 2017 nur noch HSK, das „Hohe“ wurde weggelassen; Anm.d.Ü.) Abteilungen des HSYK (İnanıcı, 2014). Mit dem am 28. Juni 2014 angenommenen Gesetz Nr. 6545 traten an die Stelle der (wörtlich) ”Friedensstrafgerichte“ (sinngemäß: ”Strafgericht Erster Instanz“ vergleichbar mit dem Amtsgericht) die ”Friedensstrafrichterämter“ (oder ”Friedenstrafrichterschaften“). Diese zunächst mit dem Ziel der Neutralisierung der Gülenisten geschaffenen Richterämter wurden ermächtigt, unter der Maßgabe, die Einsetzung von AKP-nahen Personen zu gewährleisten, wichtige Beschlüsse zu erlassen, wie etwa Haftbeschlüsse, die Bewertung von Haftwidersprüchen oder das Verbot von Internetzugängen; so wurden sie zu den wichtigsten Instrumenten zur Einschüchterung der gesellschaftlichen Opposition. Im April 2014 wurde mit dem Gesetz Nr. 6572 die Zahl der Abteilungen und Mitglieder des Obersten Gerichtshofes und des Obersten Verwaltungsgerichts erhöht. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde diese Maßnahme mit dem Ausnahmezustandsdekret Nr. 696 erneuert und für den Obersten Gerichtshof 100, für das Oberste Verwaltungsgericht 16 neue Mitglieder ernannt. Somit wurde die Anpassung des HSK (Rat der Richter- und Staatsanwälte; d.Ü.), sowie des Obersten Gerichtshofes wie auch des Obersten Verwaltungsgerichts, deren Mitglieder durch den HSK benannt wurden, an das Regime sichergestellt; der auf die Benennung der Mitglieder des Obersten Gerichtshofes und des Obersten Verwaltungsgerichts einwirkende YSK und das Verfassungsgericht wurde mithin in die Abhängigkeit vom Regime gebracht. Der Oberstaatsanwalt von Istanbul, Irfan Fidan, hat, sobald er als Mitglied des Obersten Gerichtshofes benannt worden war, bei der Wahl der Verfassungsgerichtsmitglieder die meisten Stimmen erhalten, womit sich das Gleichgewicht am Verfassungsgericht zu Gunsten des Regimes änderte (Akman u. Sevinç, 2021).

Bei der Transformation der Justiz als Teil des Faschisierungsprozesses zu einem elemantaren Instrument des ”Maßnahmenstaats“ spielen zahlreiche Mechanismen eine Rolle, hier wird auf drei von ihnen hingewiesen.

Der Erste: den nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 qua Ausnahmezustandsdekret in Kraft getretenen Gesetzen wurde der Zusatz ”Terrorbezug“ angefügt, die somit zu dauerhaften Gesetzen wurden; auf diese Weise wurden sie vom politischen Regime willkürlich eingesetzt, wie es typisch für den Maßnahmenstaat ist. Wenn bspw. Bürgermeister, deren Stellvertreter oder Stadtratsmitglieder durch das dem § 45 Stadtverwaltungsgesetz angefügten Ausnahmezustandsdekret Nr. 674 wegen ”Terrorverbindungen“ oder ”Unterstützung und Beherbergung von terroristischen Organisationen“ angeschuldigt und aus dem Dienst entfernt oder festgenommen werden, wird die Übertragung der kompletten jeweiligen Stadtverwaltung an durch die Zentralregierung ernannte Zwangsverwalter gesetzlich legitimiert und damit die Grundlage für die Dauerhaftigkeit des Zwangsverwaltungsregimes geschaffen (Akman u. Sevinç, 2021).

Der zweite Mechanismus: Verfahren wie die Gezi- und Kobane-Prozesse werden zu einem Mittel der Rache gemacht, statt sich ans Recht zu halten, handeln in diesen Verfahren die Richter faschismustypisch nach dem Willen des Führerkults; um die Angeklagten weiterhin in Haft zu behalten, geben sie dem Verfahren den Anstrich der gesetzlichen Legitimät (Özdoğan, 2021; Akman u. Sevinç, 2021).

Der dritte Mechanismus: Mit der Beendigung des Prozesses zur Lösung der kurdischen Frage im Jahr 2015 tritt bei Strafverfahren die Sicherheitspolitik in den Vordergrund. Insbesondere in den kurdischen Provinzen wurden die Justizzentren ”von Orten der Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte zur Heimstatt der Sicherheitskräfte gemacht“ (Özdoğan, 2021, S. 152); in den Justizzentren befinden sich Spezialeinsatzkräfte der Polizei in ständiger Bereitschaft; Sicherheitskräfte für die Terrorbekämpfung üben in den Korridoren der Justizgebäude Druck auf Staatsanwälte aus; die Ermittlungsakten werden nicht bei den Staatsanwälten, sondern bei den Sicherheitseinheiten aufbewahrt. Mit diesen Maßnahmen werden die Staatsanwälte als Ansprechinstanzen außer Kraft gesetzt, was einen Bestandteil dieser Sicherheitspolitik darstellt (Özdoğan, 2021).

2.2.2.2 Die widersprüchliche Transformation der Armee

Die Transformation, die die Armee im Prozess der Faschisierung durchläuft, ist die am meisten umstrittene im Vergleich zu den anderen Instrumenten. Der Grund hierfür liegt darin, dass die AKP unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt mit dem Narrativ, nunmehr würde dem ”nationalen Willen“ gegenüber ”dem militärischen Stellvertreterregime“ mehr Raum gegeben, die ”Zivilisierung” als Demokratisierung hat erscheinen lassen. Im Zuge dessen wurden 2013 im Rahmen der EU-Reformen die Struktur und die Funktionen des Nationalen Sicherheitsrats (MGK) geändert und damit dessen Rolle im politischen Leben eingeschränkt (Berksoy, 2013).

Die AKP leitete im Jahr 2007 mit dem vom Generalstab am 27. April veröffentlichten Memorandum und der anschließenden Wahl Abdullah Güls zum Staatspräsidenten die früheren Putschversuche als Begründung anführend gegen die Armee die Ergenekon- und Balyoz-Prozesse ein. Mit der Verfassungsänderung von 2010 mit einer Reihe von Gesetzen wie die Beschneidung der Befugnisse der Militärgerichte, vermittelte die AKP den Eindruck, die Armee würde ihre Macht sabotieren. Schließlich verlor die Armee nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 nahezu vollständig ihre Autonomie gegenüber der Exekutive. Das Kommando über die einzelnen Streitkräfte, die Fabriken und Werften der Armee, die Beförderung der Offiziere wurden dem Generalstab entzogen und dem Verteidigungsministerium übertragen. Das Militärgerichtssystem wurde abgeschafft, die Militärkrankenhäuser dem Gesundheitsministerium unterstellt. Das Oberkommando der Gendarmerie wurde aus dem Armeegefüge herausgelöst und dem Innenministerium angeschlossen; es wurde professionalisiert und erlangte zunehmend den Charakter einer Polizei, währenddessen es auch politisiert wurde. Im Hohen Militärrat wurde die Anzahl der zivilen Mitglieder erhöht, die Häufigkeit der Sitzungen verringert, die Zuständigkeiten des Verteidigungsministeriums erweitert (Akça u. Freunde, 2017). Interessant ist hier, dass diese Transformationen vor dem Putschversuch im Rahmen der EU-Reformen zwar eingefordert, aber nicht umgesetzt wurden. Nach dem Putschversuch wurden die Institutionen des Militärs in der Tat vollständig an die ”zivile“ Verwaltung angebunden, somit kam die Armee vollständig unter die Kontrolle der AKP gebracht und wurde im Sinne des islamischen Faschismus politisiert. Mit der in 2018 erfolgten Höherstufung des Staatssekretariats für die Verteidigungsindustrie in den Rang eines Präsidiums und seiner direkten Anbindung an das Präsidialamt machte die Verteidigungsindustrie, mit der die Verschmelzung von Staat und Kapital auf höchster Ebene realisiert wurde, den Weg für das Bestreben des AKP-Regimes, eine Regionalmacht zu werden, frei. Als das politische Regime in die Wahlen von 2018 und 2023 ging, hat sich dieser Zustand mit Eskalation der Kriegspolitik zur Überwindung seiner Machtkrise weiter verfestigt. Um die, betrachtet man diesen Prozess als Ganzes, scheinbar widersprüchliche Transformation der Armee zu verstehen, ist es hilfreich, zum Begriff des Militarismus zurückzukehren. Muhsin Dalfidan wies in einem Interview darauf hin, dass der des Militarismus wörtlich ”auf die Armee bezogen“ bedeutet, aber im Allgemeinen die gesellschaftliche Akzeptanz von militärischen Werten wie ”Hierarchie, Disziplin, Gehorsam, Uniformierung, Treue, Verehrung von Märtyrer- und Veteranentum, die Erhöhung von Töten und getötet Werden, Gewalt als grundlegenden Lösungsweg“ darstellt. In keiner Phase des AKP-Regimes ist der Militarismus in den Hintergrund getreten, lediglich wurde die militaristische Hierarchie neu geordnet (Pehlivan, 2022). Im Prozess der AKP, einen seinem politischen Projekt gemäßen neuen Machtblock zu errichten, stellt diese Neuordnung beim Übergang vom ”Stellungskrieg“ zum ”Bewegungskrieg“ eines der kritischsten Elemente dar.

2.2.2.3 Die Politisierung des MIT und die Erweiterung ihrer Zuständigkeiten durch Diversifizierung

In den AKP-Jahren besteht die grundlegende Transformation des Nationalen Nachrichtendienstes (MIT) insbesondere in der 2012 einsetzenden Vermehrung der Zwangsinstrumente innerhalb seiner Hierarchie. Die Übertragung der bis dahin dem Generalstab unterstellten Kommandantur für elektronische Systeme (GES) samt Personal im Januar 2012 an den MIT war einer der ersten Schritte dieses Prozesses. Einer der kritischsten Wendepunkte bei der Transformation des MIT war, als am 7. Februar 2012 MIT-Chef Hakan Fidan von einem mit Sondervollmacht ausgestatteten Staatsanwalt zu einer Vernehmung im Rahmen einer KCK-Ermittlung vorgeladen wurde. Die AKP fasste dies als Putschversuch auf und bemühte sich eiligst, das MIT-Gesetz zu ändern. Mit dem am 17. April 2014 verabschiedeten Gesetz Nr. 6532 bedürfen Ermittlungen, die auf der Anschuldigung gegen MIT-Angehörige beruhen, diese hätten während der Ausübung ihres Dienstes Straftaten begangen, der Genehmigung des Ministerpräsidenten. In derselben Gesetzesänderung ist für Journalisten, die Informationen oder Dokumente über den MIT veröffentlichen, ein Strafrahmen von drei bis zu neun Jahren Haft vorgesehen. Darüber hinaus wurde der MIT ermächtigt, sich ohne richterlichen Beschluss bei jeglichen öffentlichen oder privaten Institutionen Zugang zu Informationen, Dokumenten, Daten und Registern verschaffen zu können. Weiterhin wurde er wiederum mit demselben Gesetz ermächtigt, ”in Fragen der äußeren Sicherheit, der Terrorbekämpfung und der nationalen Sicherheit” im Rahmen der vom Ministerrat zu erteilenden Aufgaben Operationen durchzuführen. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli wurde diese Transformation noch weiter verfestigt. Der MIT wurde direkt dem Staatspräsidenten unterstellt und mit neuen Zuständigkeiten ausgestattet, wie das Sammeln von Informationen auch auf der Ebene von Ministerien und der Türkischen Streitkräfte. Auf diese Weise ist er einerseits innerhalb der staatlichen Hierarchie aufgestiegen, andererseits vollständig politisiert worden (Akça u. Freunde, 2017). Mit der teilweisen Anbindung von bewaffneten und unbewaffneten Drohneneinsätzen an den MIT hat dieser bei Auslandsoperationen, insbesondere im Bereich der Ausübung von Attentaten, mehr Gewicht bekommen. Eine weitere Besonderheit dieser Phase ist die erhöhte Sichtbarkeit des MIT in der Diplomatie und im öffentlichen Raum. Diese Transformation wird in der vom AKP-Thinktank SETA herausgegebenen Zeitschrift Kriter in aller Offenheit zum Ausdruck gebracht:

”Für die Ära unter Hakan Fidan lässt sich die Transformation des MIT als hin zur Geheimdienstdiplomatie, operationellen Öffnung und proaktiven Strategie zusammenfassen. Erstens ist zu beobachten, dass der MIT eine von den Nahen Osten bis Afrika umfassende intensive Geheimdienstdiplomatie betreibt; zugleich lässt sich behaupten, dass die Türkei das Ziel verfolgt, ihre regionale und globale Macht zu verfestigen. Zweitens werden die Zuständigkeiten und Fähigkeiten des MIT durch entsprechende rechtliche, technische, finanzielle und personelle Ressourcen unterstützt und gestärkt. In diesem Zusammenhang erlangte der MIT, dessen Möglichkeiten und Fähigkeiten mit der auf ihn erfolgten Übertragung der Kommandantur für elektronische Systeme (GES), dazu noch die Verfügung über bewaffnete und unbewaffnete Drohnen, eine noch sehr viel effektivere und einflussreichere Rolle bei Auslandsoperationen, insbesondere bei Antiterroreinsätzen außerhalb der Landesgrenzen. Drittens, und dies ist vielleicht der wichtigste Punkt, der MIT hat eine auf die außenpolitischen, sicherheitspolitischen und Verteidigungsinteressen der Türkei in der neuen Periode zugeschnittene ”proaktive Strategie“ ins Spiel gebracht. Mithin ist es offensichtlich, wie wichtig es ist, die Fähigkeiten des als außenpolitisches Instrument fungierenden MIT zu verdeckten Operationen zu stärken.“ (Seren, 2022). Wie diesem Zitat zu entnehmen ist, ist der MIT mit der Änderung der Außenpolitik der AKP auf dem Weg, einen neuen Machtblock zu bilden und eine imperiale Macht zu werden, zu einem der grundlegenden Zwangsinstrumente geworden. Die zunehmende Sichtbarkeit des MIT im öffentlichen Raum steht im Zusammenhang mit der für den Faschisierungsprozess typischen ”Öffentlichwerdung des tiefen Staates“. Der geheime Status des tiefen Staates ist eine Eigenheit liberal-demokratischer Regime (Sabuktay, 2012). Die Öffentlichwerdung des tiefen Staates und paramilitärischer Strukturen in faschistischen Regimen ist ein Zeichen davon, dass ein Punkt erreicht wurde, indem gegenüber dem Normstaat die Legitimation von Willkür und Gewalt des Maßnahmenstaats als nicht erforderlich erachtet wird.

2.2.2.4 Die Transformation der Polizei und die Reaktivierung des Wachmännersystems

In den AKP-Jahren hat die Transformation der Polizei im Sinne des präventiven Sicherheitsverständnisses nach dem 11. September Gestalt angenommen. Entsprechend dieses Verständnisses, das sich mehr auf die Prävention von Straftaten stützt als auf deren Bestrafung, traten im Jahr 2005 ein neues Strafgesetz (TCK) und eine neue Strafprozessordnung (CMK) in Kraft. Mit den Änderungen des Gesetzes für die Terrorbekämpfung im Jahr 2006 und des Gesetzes über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei (PVSK) im Jahr 2007 wurde der Umfang der Terrordelikte sowie auch der Befugnisse der Polizei ausgeweitet. Der Einsatz von Schusswaffen etwa in Fällen, in denen der Aufforderung der Polizei, sich zu ergeben, nicht gefolgt wird, auch wenn es sich nicht um eine lebensbedrohende Situation handelt, sowie auch die körperliche Durchsuchung und die Identitätsfeststellung nach eigenem Ermessen des Polizeibeamten sind Befugnisse, die diese Periode hervorgebracht hat. Innerhalb dieses Prozesses hat die Polizei jenseits ihrer eigenen genuinen Funktionen, Aufgaben der Justiz, des Geheimdienstes und der ideologischen Instrumente übernommen. Das erste Beispiel der Übernahme einer ideologischen Funktion durch die Polizei erwuchs aus einer Änderung des PVSK im Jahr 2007, nach der sie ermächtigt ist, bei einem „Zuwiderhandeln gegen die allgemeinen Regeln der Moral und des Anstands“, auch wenn keine Beschwerde vorliegt, Verbote gegen die betreffenden Personen auszusprechen (Berksoy, 2013). Anhand einer Änderung im selben Gesetz wurde die Polizei ermächtigt, für eine Dauer von mindestens drei Monaten Telekommunikationsüberwachungen als präventive Maßnahme vorzunehmen, womit sie auch eine geheimdienstliche Funktion übernommen hat. Nach den wegen der Lage in Kobane entstandenen Unruhen vom 6.-8. Oktober 2014 wurden mit dem 2015 verabschiedeten und als Paket für die Innere Sicherheit bekannten Gesetz Nr. 6638 die Befugnisse der Polizei noch mehr ausgeweitet; diese umfassten die Durchsuchung von Personen und Fahrzeugen nach eigenem Belieben ohne vorherige der Staatsanwaltschaft oder vorgesetzten Dienststelle; den Schusswaffeneinsatz gegen Personen, die pyrotechnische Mittel wie Molotowcocktails oder Feuerwerksraketen benutzen; die Durchführung von Abhörmaßnahmen für die Dauer von 48 Stunden ohne richterlichen Beschluss auf Befehl des Polizeipräsidenten oder des nachrichtendienstlichen Abteilungschefs. Mit demselben Gesetz wurde der Polizei die Befugnis zur ”präventiven Ingewahrsamnahme“ bis zu 48 Stunden von Personen, bei ”gesellschaftlichen Vorkommnissen, die ernsthaft zur Störung der öffentlichen Ordnung durch die Verbreitung von Gewalttaten führen können“ erteilt; in Verbindung damit auch die Befugnis, Beschwerdeführer, Geschädigte und Zeugen in deren Wohnungen sowie an deren Arbeitsstätten zu vernehmen. Diese Befugnisse wiederum sind gleichbedeutend mit der Erweiterung der justiziellen Funktionen der Polizei. Die bis hierhin aufgezählten Transformationen treffen nicht ausschließlich auf die Türkei zu, nach dem 11. September wurden in vielen Ländern die Befugnisse der Polizei in ähnlicher Weise erweitert. Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde die für den islamischen Faschismus typische Transformation der Polizei beschleunigt. Während auf der einen Seite die Polizeikader und deren Befugnisse erweitert wurden, wurden auf der anderen Seite neue Dienstränge wie Präsident des Dezernats für Sondereinsätze, Stellvertretender Präsident des Dezernats für Sondereinsätze, Direktor des Dezernats für Sondereinsätze geschaffen. In dieser Periode wurde die Sondereinsatzpolizei zum Schutz des AKP-Regimes vollständig zu einem politisierten und islamisierten Instrument transformiert. Nach dem Putschversuch stieg die Zahl Personen unter 28 Jahren, die, ohne die KPSS-Voraussetzungen (Auswahlprüfungen für den Öffentlichen Dienst; Anm.d.Ü.) erfüllen zu müssen, zur Ausbildung zu Sondereinsatzkräften in die entsprechenden Ausbildungszentren aufgenommen wurden, rasant an, womit dieser Prozess weiter intensiviert wurde. Im Zusammenhang mit der Transformation der Zwangsinstrumente ist die Reaktivierung des Wachmännersystems ab 2016 eine weitere Entwicklung, die es zu betrachten gilt. Nach dem das Wachmännersystem 2016 in 6 Provinzen, 2018 in 20 Provinzen, 2019 wiederum in der ganzen Türkei aktiviert worden war, wurde das entsprechende Gesetz am 11. Juni 2020 verabschiedet. Nach diesem Gesetz üben die Wachmänner ihren Dienst ”zur Unterstützung der allgemeinen Sicherheitskräfte innerhalb der Strukturen der Polizei und Gendarmerie“ aus. Innerhalb der behördlichen Grenzen, in denen sie Dienst tun, üben sie ”justizielle, präventive und schützende“ Aufgaben und Befugnisse aus; sie sind zur Ausübung der Nachtwache verpflichtet. Die Wachmänner wurden mit polizeilichen Befugnissen wie etwa das Anhalten und die Identitätsprüfung von Personen ausgestattet. Auf die Frage, weshalb, trotz der enormen Aufstockung der Polizei und deren Befugnissen, es der Reaktivierung des Wachmännersystems bedurfte, können einige Antworten gegeben werden. Die Erste steht im Zusammenhang zu den politischen Folgen der Politik der AKP in den Städten. Nach Erkip und Batuman wurden mit der islamistischen kulturellen Kodierung der urbanen Investitionen der AKP in der ersten Dekade öffentliche Bauten ins Visier genommen; der durch diesen Prozess kumulierte gesellschaftliche Widerstand brach in den Gezi-Protesten hervor (Erkin u. Batuman, 2020). Der in den Städten sich von den Stadtgrenzen zum Zentrum richtende konservative Druck und die angespannte Opposition im öffentlichen Raum brachte den Wachmann als urbanes Instrument hervor, das der Kontrolle des Vorrangigen über den Nachrangigen dient. Im Gegensatz zu den beobachtenden, aber unsichtbaren Sicherheitskameras ist die Sichtbarkeit des Wachmanns als existierende Figur gewollt. Wachmänner haben eine Sichtbarkeit, die sich von der der Polizei unterscheidet. Während im öffentlichen Raum die Polizei bei Durchsuchungen eine feste Position einnimmt, bewegt sich der Wachmann auf die Person, die er anzuhalten beabsichtigt, zu. Schafft der Polizeibeamte eine ”zufällige, temporäre Sichtbarkeit“, ermöglicht der Wachmann eine ”gezielte Sichtbarkeit“. Die wesentlichen Straftaten, mit denen sich der Wachmann zu beschäftigen hat, sind etwaige politische Kundgebungen und Versammlungen auf belebten Straßen und Plätzen (Erkin u. Batuman, 2020). Der zweite Grund für die Reaktivierung des Wachmännersystems besteht, wie Berksoy unterstreicht, in der Rolle der Wachmänner innerhalb der faschisierungstypischen Denunziationsmechanismen (Berksoy, 2021). Den Wachmännern wurde die Funktion auferlegt, sowohl den lokalen Informationsfluss zur Polizei zu gewährleisten als auch die Hinweise aus den sozialen Beziehungen in den Stadtteilen, in denen sie sich bewegen, zu kanalisieren. Der dritte und letzte Grund besteht darin, dass die Wachmänner in eine für die Sicherheit ihres eigenen Umfeldes verantwortliche Stellung gebracht werden. Dies zeigt, dass sie als spezielle Kader des politischen Regimes angesehen werden, die bis in die Mikrozellen der Gesellschaft agieren und in Krisensituationen zum Einsatz beordert werden. Erdoğan erklärte am 2. Januar 2020: ”Wir sind an einen Punkt gekommen, an dem wir die äußere Sicherheit unserer Städte nicht mehr durch Mauern und Schützengräben schützen, die innere Ordnung nicht mehr ausschließlich mit Sicherheitskräften aufrechterhalten können. Es müssen neue Ideen entwickelt werden.“ Dass unmittelbar danach die entsprechende Regelung auf die Tagesordnung des Parlaments kam, kann dahingehend interpretiert werden, dass das Regime die Wachmänner als an diese gebundenen Sicherheitskräfte benutzen möchte. Jedoch dürfen diese nicht, wie Durkal betont, nicht mit den paramilitärischen Kräften verwechselt werden (Durkal, 2020). Paramilitärische Kräfte sind Zwangsinstrumente, die sich im Umfeld des Regimes bilden und teilweise autonom handeln, und im Prozess der Faschisierung vertiefen sich die Beziehungen zwischen den offiziellen Zwangsinstrumenten des Staates mit den paramilitärischen Kräften. Im folgenden Abschnitt wird auf diesen Prozess eingegangen.

2.2.2.5 Die Intensivierung und Öffentlichwerdung der Paramilitarisierung

Eines der Unterscheidungsmerkmale des Faschisierungsprozesses ist die Intensivierung der Beziehungen zwischen Staat und paramilitärischen Kräften. In den AKP-Jahren nahm dieser Prozess nach dem Ende des Lösungsprozesses (allgemein für die ‚Lösung der „kurdischen Frage“‘; Anm.d.Ü.) und nachdem die AKP bei der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015 nicht die erwartete absolute Mehrheit erreicht hatte, an Tempo auf (Işık, 2021b). In diesem Prozess nahmen die Paramilitärischen Organisierungen sowohl zahlenmäßig als auch in ihrer Vielfalt zu. Beispiele für diese Vielfältigkeit sind unter anderem:

private militärische Unternehmen, die inoffizielle Operationen staatlicher Organe durchführen. (so etwa der Beratungsdienst für Internationale Verteidigung (SADAT), gegründet von pensionierten Offizieren und Unteroffizieren der türkischen Streitkräfte;

Jugendklubs und -vereine (bspw. die 2009 gegründeten, sich innerhalb kurzer Zeit organisierenden und als „Soldaten Erdoğans“ bezeichnenden Osmanischen Vereine;)

Sportvereine, die unter Vermittlung von AKP-Stadtverwaltungen übernommen und wiederbelebt wurden (bspw. Osmanlı Spor Kulübü – Osmanischer Sportverein – in Ankara; oder Başakşehirspor in İstanbul);

insbesondere in den Jahren 2015-2016 in Operationen in den kurdischen Provinzen eingesetzte, aus unterschiedlichen Ländern zusammengewürfelte islamisch-faschistische Banden (z.B. die Esedullah-Einheit);

in denselben Operationen eingesetzte, mit rechtlicher Legitimität ausgestattete paramilitärische Gruppen (so etwa das Jandarma Özel Harekat – Sondereinsatzkommando der Gendarmerie, und die Polis Özel Harekatı – Sondereinsatzkommando der Polizei,)

Anführer und Banden der Mafia (bspw. Sedat Peker, Alaattin Çakıcı oder die in Deutschland organisierte Bande der Osmanen Germania).

Nach 2015 wurde dieser Transformation der Prozess der „Paramilitarisierung der Gesellschaft“, wie es Işık formuliert, hinzugefügt (Işık, 2021a). Nach Işık kann eine Gesellschaft, in der das Recht nicht angewandt wird, gegebenenfalls eine “tiefe Gesellschaft”, die in die Rolle des Staates schlüpft, schaffen, sie kann sich in Richtung Bandenbildung bewegen und kann eine Bevölkerungsmasse schaffen, die sich über das Narrativ der “Heiligtümer” des Staates in Bewegung setzen lässt. Die Zersplitterung der Staatsinstitutionen unter dem Einfluss unterschiedlicher Gruppen ist die Ursache dafür, dass diese jenseits von Polizei und Armee unterschiedliche Gruppen ihres Vertrauens aufgebaut haben. Insbesondere nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 bildeten sich, neben der Reaktivierung des Wachmännersystems, Gruppen wie Halk Özel Harekat – Sondereinsatzgruppe des Volkes –, oder Kardeş Kal Türkiye – Bleibt Brüder Türkei – heraus. Die Organisierung dieser Gruppen erfolgte nach dem Putschversuch anhand einem per KHK-Dekret erleichterten Zugang zu Waffenscheinen und der Anstiftung der Massen, sich gegen einen neuen Putschversuch zu bewaffnen. Im Dezember 2017 wurden die Aktivitäten dieser Gruppen durch ein KHK-Dekret straffrei gestellt. Nach diese als ‚Bürgerkriegsparagraf‘ bezeichneten gesetzlichen Bestimmung werden zivile Kräfte, die im Rahmen der Niederschlagung von Aktionen handeln, ”welche als Putschversuch und Terroraktionen des 15. Juli sowie als deren Folgeaktionen“ zu zählen sind, von jeglicher Verantwortung befreit.

Neben der Intensivierung, Diversifizierung und Vergesellschaftung der Paramilitarisierung stellt im Unterschied zu den 1990er Jahren die Wende von der Leugnung zur Öffentlichwerdung eine weitere wichtige Entwicklung dar paramilitärischen Kräfte dar. Das typischste Beispiel hierfür ist, dass der Staat hinter den 2015-2016 in den kurdischen Provinzen eingesetzten Esedullah-Einheiten, den Sondereinsatzkommandos der Gendarmerie und der Polizei steht und deren Existenz nicht leugnet. Als Ergebnis des Bündnisses Erdoğans mit der MHP, nachdem Rückgang seiner Stimmanteile bei den Wahlen, wurden dem auch noch die damit erneut auf der Bühne auftretenden früheren „idealistischen“ paramilitärischen Kräfte hinzugefügt. Dass ein Anführer einer kriminellen Organisation wie Alaattin Çakıcı im Anschluss an seine Drohungen gegen Kılıçdaroğlu (ehemals Oppositionsführer der CHP; d.Ü.) die widerständischen Student*innen der Boğaziçi-Universität öffentlich zur Zielscheibe von Angriffen erklären konnte, sind Beispiele für diesen Prozess. Schließlich ist auf die von der AKP insbesondere in den von ihr im Nahen Osten geführten Kriegen eingesetzten paramilitärischen Kräfte einzugehen. In diesem als Internationalisierung der paramilitärischen Kräfte einzuordnenden Prozess hat Erdoğan paramilitärische Kräfte unterstützt, die direkt unter dem Befehl des türkischen Staates standen, so etwa die Sultan-Murad-Brigaden, die sich sowohl aus turkmenischen Kräften als auch aus radikalen nationalistischen und islamistischen Personen zusammensetzten (Işık, 2022). Allgemein ausgedrückt, begann man paramilitärische Gruppen mit einer staatskonformen Haltung, die in Bürgerkriegen im Inland gegen oppositionelle Gruppen eingesetzt wurden, im Ausland gemeinsam mit Stellvertretergruppen neben der türkischen Armee einzusetzen. Von der SADAT-Gruppe (s.o.; d.Ü.), die von der gesellschaftlichen Opposition mit der Sorge, diese Gruppe würde die Sicherheit der Wahlen gefährden, auf die öffentliche Agenda gebracht wurde, wird behauptet, eben sie würde die Stellvertreterkriege der Türkei in Syrien, ja sogar in Libyen und Berg-Karabach organisieren. Worauf bereits Işık hingewiesen hat, schrieb SADAT auf seiner Website unter dem Titel Stellvertreterkriege: ”Obgleich SADAT ein Unternehmen für Verteidigung und für Beratung in Verteidigungsfragen steht, sät es nicht Blut und Tränen, wie es die privaten Militärunternehmen der westlichen impreialistischen Länder in den Ländern tun, in die sie eindringen. SADATs Aktivitäten dienen der Sicherung von Frieden und Enstpannung.“ (Işık, 2022). Diese Aussage ist das Eingeständnis der oben beschriebenen Rolle. Stellt man sich diesen Prozess gemeinsam mit der bereits erwähnten Strategie der ”militarisierten Akkumulation“ vor, so muss hervorgehoben werden, dass ein öffentlich sichtbarer und internationalisierter Komplex aus Mafia, Staat, Politik und Kapital, der als Mechanismus für den Ressourcentransfer zu Gunsten des neuen Machtblocks dient, der politischen Ökomomie des Neuen Faschismus entspricht.
Anstelle eines Resumees: Weisen die neuen Widersprüche innerhalb des Staates auf die Auflösung des Regimes hin?

In dieser Schrift wurden die radikalen Veränderungen der ideologischen und der Zwangsinstrumente des Staates, die dieser in den AKP-Jahren während des Transformationsprozesses des politischen Regimes hin zum Neuen Faschismus durchlaufen hat, diskutiert. Zweifellos sind diese Veränderungen nicht ohne Widersprüche verlaufen. Im Gegenteil, bei jeder Wendung entstanden neue, sich vervielfachende und diversifizierende Widersprüche innerhalb des Staates. An diesem Punkt ist darauf hinzuweisen, dass hinsichtlich der Autoritarisierung des politischen Regimes in den Jahren der AKP die vielfach verlautbarten Argumente wie “die AKP hat den Staat gekapert” oder “Partei und Staat sind verschmolzen” irreführend sind. Diese Ansätze reduzieren den Staat zu einem Werkzeug, das von einer politischen Partei und der von ihr repräsentierten herrschenden Klasse, bzw. einem Teil davon, zur Erreichung der eigenen Ziel benutzt wird. Wie Poulantzas betont, ist der kapitalistische Staat kein einfaches Werkzeug oder eine Festung, welche es zu erobern gilt. Er ist eine widersprüchliche Kampfarena, auf dem die gesellschaftlichen Machtkämpfe in den Beziehungen zwischen den Klassen kulminieren, und diese Beziehungen ihre Fortsetzung in den Formen des außerordentlichen Staates wiederfinden (Poulantzas, 1992). In den AKP-Jahren haben diese Widersprüche zwei verschiedene Formen angenommen. Die erste Form spiegelt die Widersprüche zwischen Repräsentanten des alten Machtblocks und dem aufstrebenden neuen Machtblock wieder. Die erste Gruppe, deren Zahl zum Ende der nunmehr zwanzigjährigen Regierungszeit der AKP stetig zurückgegangen ist, besteht nur noch in den mittleren und unteren Ebenen der Bürokratie weiter fort, selten hat sie noch Einfluss in den oberen Bürokratieebene. Die Widersprüche zwischen dieser Gruppe und dem aufstrebenden neuen Machtblock haben eher politischen Charakter, als dass es um die Aufteilung der in der Zeit der AKP fortwährend durch außerökonomischen Zwang angeeigneten finanziellen Ressourcen geht. Die zweite und wesentlich bestimmende Form der innerstaatlichen Widersprüche hingegen sind die innerhalb des aufstrebenden neuen Machtblocks existierenden Widersprüche, und es ist darauf hinzuweisen, dass diese in außerordentlichen Staatsformen eine andere Qualität annehmen. In regulären Staaten werden die Klassenwidersprüche und die Teilung der Macht durch ein Regelwerk bestimmt, das die ‘absoluten Zuständigkeitsbereiche’ zwischen den staatlichen Instrumenten festlegt. Die Organisierung der Macht vollzieht sich im wesentlichen durch die Spezialisierung der Instrumente, das ist der Bedeutungsinhalt der ”Gewaltenteilung“. Beispielsweise können die Klassenwidersprüche im neoliberalen autoritären Staat als reguläre Staatsform in Form der Widersprüche zwischen Exekutive und Justiz zum Ausdruck kommen. Ein typisches Beispiel dieses Zustands in der Türkei vor der Verfassungsänderung 2010 zeigt sich in dem beim Obersten Verwaltungsgericht oder dem Verfassungsgericht eingerechten Antrag der Gegner der Dekrete mit Gesetzeskraft (KHK) auf Unwirksamkeit dieser Dekrete, worauf diese mit der Begründung, sie würden dem öffentlichen Interesse widersprechen, für nichtig erklärt wurden. In außerordentlichen Staatsformen hingegen treten, weil der Grundsatz der ”Gewaltenteilung“ nicht besteht, mehr noch als Widersprüche zwischen den Instrumenten, die vehementen Widersprüche innerhalb jedes einzelnen Instruments hervor. Die Partei des Regimes, die selbst unter dem Einfluss vehementer Widersprüche steht und ”niemals gänzlich mit dem Staat verschmolzen“ ist (Poulantzas, 2012), ist bestrebt, über den Weg der Ausweitung ihres Einflusses auf die einzelnen Instrumente, ihre eigene Hegemonie zu errichten. Die ”inneren Widersprüche“ des Staates, der von außen betrachtet als vereint und zentralisiert erscheint, sind wiederum Ausdruck des Klassenkampfes. Jedoch zeigen sich diese Widersprüche vorwiegend in der Frage der Aufteilung der durch außerökonomischen Zwang angeeigneten finanziellen Ressourcen. Im Verlauf dieses Prozesses bindet sich ein Teil der innerhalb jedes Instrumentes tätigen Bürokraten nicht an den Vorgesetzten der bürokratischen Hierarchie, sondern direkt an die herrschende Partei; dementsprechend entstehen innerhalb jedes Instruments parallele und intransparente Machtnetzwerke (Poulantzas, 2012). An diesem Punkt konkretisieren sich die Auseinandersetzungen innerhalb des Staates in Kulissenkämpfen zwischen Gruppen bzw. Banden, welche jeweils über eigene finanzielle Ressourcen verfügen. In jedem der Instrumente wie Armee, Polizei, Justiz, Medien bilden sich informelle Machtnetzwerke heraus. Die Akteure in diesen Machtnetzwerken erhalten ihre Anteil an den finanziellen Ressourcen nicht durch Loyalität gegenüber ihren bürokratischen Vorgesetzten, sondern über die Loyalität gegenüber der herrschenden Partei. Die AKP hat vom ersten Tag ihrer Machtübernahme an im Sinne ihres islamistisch-faschistischen politischen Projekts diesen Mechanismus genutzt, um Ressourcen von den westlich orientierten Teilen des Kapitals zum islamistischen Kapital, das ihre eigene Basis bildet, umzuleiten. Neben dem Verteilungskampf zwischen dem westlich orientierten Kapital und dem neu aufblühenden islamistischen Kapital begannen nun die Verteilungskämpfe zwischen den einzelnen Fraktionen des islamistischen Kapitals. Die Antikorruptionsoperation vom 17. Dezember 2013 war das erste Glied dieses Verteilungskampfes, der schließlich darin mündete, dass die mit der Gülen-Gemeinde verbundenen Kapitalgruppen aus dem System entfernt und unter die Kontrolle der AKP gebracht wurden, wobei jedoch der interne Kampf des islamistischen Kapitals über andere Sekten innerhalb Staatsinstrumente fortgesetzt wurde. Mit der Bildung der AKP-MHP-Koalition im Jahr 2018 traten neue Akteure im Verteilungskampf auf, die von dem durch außerökonomischen Zwang erlangten Ressourcentransfer ebenfalls profitieren wollten. Jedoch genau in diesem Zeitraum, mit der sich vertiefenden Wirtschaftskrise und dem Verlust der drei großen Stadtverwaltungen, die bei den Kommunalwahlen 2019 an die CHP übergingen, wurden die finanziellen Ressourcen, von denen sich diese Netzwerke nährten, weniger. In diesem Prozess, in dem die über außerökonomischen Zwang erlangten Ressourcen als Entlohnung für die Loyalität gegenüber Erdoğan an eine kleine Gruppe aus Kapital und Bürokratie verteilt wurde, erhitzte sich der Verteilungskampf innerhalb des Machtblocks; die Konflikte zwischen den Cliquen wurden intensiver und öffentlich sichtbarer ausgetragen.

Die kritische Frage hier ist, ob die neuen Widersprüche innerhalb des Staates, wie vielmals behauptet, ein Hinweis auf die Auflösung des Regimes sind, oder auf die Intensivierung des Neuen Faschismus zusammen mit den ihm inhärenten Widersprüchen. Bei der Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Faschismus auf Willkür und Unbestimmtheit, welche Resultate der zwischen seinen unterschiedlichen Machtzentren geführten Kämpfe sind, gegründet ist; und diese Unbestimmtheit wurde von seinem Führer zum Handlungsspielraum gemacht. Demzufolge führt die Existenz vielfacher Machtzentren innerhalb des Staates und deren interne Kämpfe nicht zu einer Auflösung des Regimes, sondern kann zu einer Erhöhung der Manövrierfähigkeit der Machtspitze führen. Diese Art der Organisierung des außerordentlichen Staates kann den Boden für den Einsatz seiner in der Krise nunmehr notgedrungen interventionistischen ”Funktion“ bereiten, also über parallele und konfligierende Kanäle verschiedene Cliquen gegeneinander zu manövrieren und so die eigene Hegemonie neu zu strukturieren. Dieser Zustand ermöglicht der herrschenden Partei einen großen Handlungsspielraum. Dies ist der wesentliche Grund dafür, weshalb wir jeden Tag mit einer neuen Regulierung konfrontiert werden, die die politische Krise des Vortages vorübergehend löst. Während der Fertigstellung dieses Artikels näherten sich die allgemeinen Wahlen des Jahres 2023. Hierbei ist zu unterstreichen, dass diese Wahlen unter Bedingungen stattfinden werden, unter denen sich der Neue Faschismus vertieft, einhergehend mit seinen Widersprüchen, von deren Auflösung vielfach die Rede ist. Das AKP-Regime nutzt in diesem Prozess seine oben erwähnte Manövrierfähigkeit bis zum äußersten, sie setzt die ideologischen und Zwangsinstrumente des Staates gemeinsam mit ihren inneren Widersprüchen jeden Tag in neuer Form in Bewegung. Unter diesen Bedingungen ist offensichtlich, dass die gesellschaftliche Opposition über Strategiediskussionen, die sich auf reguläre Staatsformen beziehen, hinausgehen muss.

1 Im Türkischen gibt es keinen Genus, die Geschlechtsbestimmung des Substantivs, daher ist hier ein Gendern nicht möglich. Anm.d.Ü.

  • Prof. Dr., emeritierte Hochschullehrerin, Solidaritätsakademie Ankara (ADA) (ORCID NR. 0000-00026822-3644)